Das Haus in der Klopstockstraße 2 ist mit 53 Metern das höchste Gebäude im Hansaviertel und steht als Solitär mitten im Tiergarten. Dass man in den 1950er Jahren, in denen der „Lebensentwurf Familie“ gängig war, ein Haus fast ausschließlich für Singles errichtete, war geradezu avantgardistisch.
Wegen seiner hochgereckten Gestalt und der gelben Farbe wird das Punkthochhaus mit seinen 164 Wohnungen auch Giraffenhaus genannt. Und noch einen Spitznamen hat der 17-Geschosser: Junggesellenhaus. Abgesehen von zwei Penthäusern in der obersten Etage gab es nämlich ursprünglich nur Einzimmerwohnungen, zwischen 32 und 42 Quadratmeter groß. Angeblich sollten diejenigen im Westflügel, die nur über einen winzigen „Kochschrank“ verfügen, für Männer gedacht gewesen sein, während für alleinstehende Frauen im Ostteil des Gebäudes etwas größere Küchen mit Fenster gebaut wurden.
Ralph Krüger, der seit 1981 in dem Haus wohnt, stört die Enge seiner Wohnung nicht: „Es ist ein gutes Lernprogramm, sich beschränken zu müssen.“ Seine Eltern, die ebenfalls im Hansaviertel lebten, haben dem damals 20-Jährigen das Apartment gekauft. Die Struktur der Mieterschaft sei in den 1980er Jahren eine ganz andere gewesen, erzählt er: „Hier haben viele ältere Damen gewohnt, aber auch Studenten.“ Nach der Wiedervereinigung und mit dem Regierungsumzug kamen immer mehr Bundesbedienstete, Manager und Hochschulprofessoren ins Viertel. Die meisten nutzen ihre Wohnung nur zeitweise als Zweitwohnung. Studenten gibt es nach wie vor. Ab 500 Euro Miete kosten die möblierten Single-Apartments, in Einzelfällen auch deutlich mehr: Im Giraffenhaus steigt mit dem Stockwerk auch der Preis. Je höher, desto spektakulärer ist nämlich der Panoramablick. Im sechzehnten Stock, wo Ralph Krüger wohnt, hat man einen fantastischen Ausblick über die Skyline von Berlin-Mitte und den Tiergarten im Wechsel der Jahreszeiten. Statt 30.000 Euro wie in den 1980er Jahren muss man heute für eine solche Wohnung allerdings bis zu 200.000 Euro hinblättern.
Mitten in der City, mitten im Grünen
Im Haus gehe es schon recht anonym zu, räumt Krüger ein. Die Nachbarn grüßen sich im Fahrstuhl, und mit einigen, die man schon länger kennt, unterhält man sich auch mal. Aber dass Freundschaften entstanden sind oder dass man sich verabredet, das gebe es nicht. Trotzdem sei es ein sehr schönes Wohnen, findet der 58-Jährige. Die Verkehrsanbindung ist ausgezeichnet und trotz City-Lage ist man mitten im Grünen. Ein dickes Plus sei auch, dass ein Hausmeister im Haus wohnt. „Er bekommt es selbst mit, wenn mal ein Fahrstuhl kaputt ist und hat auch ein Auge darauf, wer hier hereinkommt.“
Die mit öffentlichen Mitteln errichteten Wohnungen – übrigens alle mit Mini-Balkon – wurden schon früh in Einzeleigentum umgewandelt. Es gibt viele Eigennutzer, aber auch Eigentümer, die weitervermieten, wobei häufig möbliert vermietet wird.
Ralph Krüger, freiberuflicher Lektor und Rezensent, nutzt seine Wohnung inzwischen fast nur noch zum Arbeiten. Für ein Paar ist sie definitiv eng und so ist er 2010 mit seiner Frau in die Wohnung seiner verstorbenen Eltern gezogen. Andere langjährige Bewohner haben sich im Laufe der Zeit vergrößert, indem sie die Wohnung nebenan beziehungsweise obendrüber dazugekauft und einen Durchbruch gemacht haben. Weil sich kleine, möblierte Apartments in dieser Lage ganz hervorragend für Touristen eignen, ist auch im Giraffenhaus die tageweise Vermietung an Feriengäste gang und gäbe. „Wenn ich mein Domizil mit einem Geräusch verbinden müsste, dann wären es gezogene Rollkoffer“, meint ein Eigentümer, der anonym bleiben möchte. Auch die Missstände im Umfeld – Trinkertreff am Hansaplatz, Stricher- und Drogenszene direkt hinter dem Haus – ärgern ihn. Die hohe Kriminalität und die Verwahrlosung seien ein Problem, bestätigt Jan Schildknecht, der seit sieben Jahren als Mieter im Haus lebt.
Lange dunkle Flure gibt es nicht
Insgesamt sei das Hansaviertel eher eine Schlafstadt ohne Kiez-Flair, findet er. Schildknecht ist Pendler. In Berlin arbeitet er in einem Bezirksamt, seine Familie lebt in Süddeutschland. Im Giraffenhaus ist er ganz zufällig gelandet. Als er aus beruflichen Gründen nach Berlin ziehen musste, konnte er die Wohnung von einer Kollegin übernehmen. Dass er im Grunde nur mit einem Koffer voll Dinge einziehen konnte, kam ihm entgegen. „Die Wohnungen sind sehr eng, da muss man schon minimalistisch veranlagt sein und kann nicht so vieles horten: „Aber der Schnitt ist intelligent und funktional gestaltet, und es gibt viel Stauraum.“ Die Erschließung des Gebäudes sei ein Raumerlebnis, schwärmt der Architekt. Anders als in vielen Häusern der Moderne gibt es keine dunklen, engen Flure. Wenn man aus einem der beiden Fahrstühle tritt – einer fährt in die geraden Geschosse, einer in die ungeraden – ist da gleich ein großes Fenster mit Ausblick auf die City-West. Eigentlich war die Wohnung für Jan Schildknecht nur als Übergangslösung gedacht. „Aber der Blick aus den obersten Etagen macht süchtig, den möchte man nicht mehr missen.“ Das tröste auch über die fehlenden Quadratmeter hinweg. „Es ist ein sehr ruhiges Wohnen, fast wie im Urlaub“, findet er. Umzugspläne hegt er erst einmal nicht.
Birgit Leiß
Milch und Brötchen frei Haus
Das denkmalgeschützte Hochhaus in der Klopstockstraße 2 wurde 1957 im Rahmen der Internationalen Bauausstellung („Interbau“) im Hansaviertel errichtet. Der Anspruch war, Stadtwohnungen auf kleinstem Raum zu realisieren. Die beiden Architekten Klaus Müller-Rehm und Gerhard Siegmann gehören nicht zu den Stars der Interbau, waren aber auf Wohnungsbau spezialisiert. Finanzierungsprobleme führten dazu, dass die Fertigstellung mehrfach verschoben werden musste. Dennoch wurde das „Objekt 1“, wie man es in der Planungs- und Bauphase genannt hat, als erstes Gebäude im Hansaviertel fertig.
Die Grundrisse mit den innenliegenden Bädern, Kochnischen und begehbaren Schrankräumen gelten als richtungweisend. Alle Wohnungen haben bodentiefe Fenster, so dass man im Wohnraum wie im Freien sitzen und die Aussicht genießen kann. Zum Konzept gehört auch ein Restaurant im Erdgeschoss, quasi als Ausgleich für die Mini-Küchen. In den Anfangsjahren stand den Mietern ein besonderer Service zur Verfügung: In die abschließbaren Wandschränkchen neben jeder Wohnungstür wurden Milch und Brötchen geliefert. Heute werden die Milch- beziehungsweise Brötchenklappen zum Teil als Postfächer genutzt.
bl
www.hansaviertel.berlin
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