Vor einer willkürlichen Kündigung schützt das Mietrecht. Wer die Regelungen seines Mietvertrages beachtet und seine Mietzahlungen regelmäßig leistet, kann nicht gekündigt werden. Doch es gibt eine Ausnahme davon: die Kündigung wegen Eigenbedarfs. In Zeiten eines überhitzten Immobilien- und leergefegten Wohnungsmarktes nutzen manche Eigentümer diese Möglichkeit, um einen vertragstreuen Mieter an die Luft zu setzen und eine Wohnung freizubekommen. Dabei existiert der Eigenbedarf oft nicht tatsächlich, sondern wird vorgetäuscht.
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Zahlen gibt es nicht. Aber dass Eigenbedarfskündigung zunehmen, bezweifelt niemand. Das hat auch damit zu tun, dass immer mehr Wohnungen in Einzeleigentum umgewandelt werden, wo solche Kündigungen besonders häufig vorkommen, befand die kürzlich zurückgetretene Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher. Ihr Gesetzentwurf zum Mietendeckel enthielt ursprünglich auch eine Beschränkung dieser Kündigungsmöglichkeit. Nur mit Genehmigung des Bezirksamts sollte es demnach möglich sein, eine Wohnung wegen Eigenbedarf frei zu bekommen. Der Aufschrei der Immobilienlobby war groß, der Vorstoß verschwand in der Versenkung.
In wie vielen Fällen der Eigenbedarf lediglich vorgeschoben ist, lässt sich nicht beziffern. Doch beim Berliner Mieterverein (BMV) geht man ebenso wie beim Deutschen Mieterbund (DMB) davon aus, dass ein Großteil der Vermieter, die sich auf Eigenbedarf berufen, Missbrauch betreiben. Der Klassiker: Die Wohnung soll in Wahrheit teurer vermietet oder verkauft werden.
Offensichtliche Täuschung
So war es auch bei Henry E., der nach fast 15 Jahren seine rund 100 Quadratmeter große Wohnung im Samariterviertel verlor. Sein Vermieter hatte ihm erklärt, dass er seine Mutter hier unterbringen wolle. „Ich hatte daran keine Zweifel, ich habe ihn sogar noch gefragt, ob ich den Spiegel für seine Mutter in der Wohnung lassen soll.“ Nur zwei Tage nach der Übergabe entdeckte er die Wohnung dann zufällig im Angebot des Internetportals Immobilienscout, wo sie zum Kauf angeboten wurde.
Nicht immer sind die wahren Hintergründe aber so offensichtlich. Marion Eggert vermutet, dass die Wohnung, die sie für ihren Sohn und dessen Freund angemietet hatte, nach der Kündigung wegen Eigenbedarfs teurer vermietet wurde. Die beiden jungen Männer, die noch in der Ausbildung sind, müssen nach dem Rauswurf nun deutlich mehr Miete für eine neue Bleibe aufwenden. Der Vermieter hatte angegeben, dass er die Zweieinhalbzimmerwohnung nach der Trennung von seiner Frau für sich selber braucht. „Das erschien uns plausibel, und es ist ja auch sein gutes Recht“, findet Marion Eggert. Bis kurz vor dem Auszug habe er sie in dem Glauben gelassen, dass er selber einzieht. Sogar um eine Skizze von der Küche hatte er gebeten, damit er sich schon mal Möbel kaufen kann. Aber auch ein halbes Jahr nach dem Auszug ist er nicht eingezogen. Auf dem Klingelschild stehen andere Namen, und der Vermieter ist nach wie vor polizeilich unter einer anderen Adresse gemeldet, hat Marion Eggert herausgefunden. Sie will nun prüfen lassen, ob sie Schadensersatz fordern kann.
Der Haken dabei: Es muss bewiesen werden, dass der behauptete Eigenbedarf nie bestanden hat. Für nachträgliche Änderungen von Lebensplänen haben Gerichte sehr viel Verständnis. Da heißt es dann, der Vermieter habe es sich eben anders überlegt. Ein weiteres Problem bei einem Schadensersatzanspruch: Wie wird er berechnet? Klar ist, dass Umzugskosten und die Mehrkosten für die teurere Wohnung darunter fallen, erklärt Dr. Rainer Tietzsch, Rechtsanwalt und Vorsitzender des Berliner Mietervereins. Aber für wie lange wird die Differenz berechnet? Was ist, wenn die neue Wohnung größer ist oder sich in einem teureren Stadtteil befindet? Dazu kommt: Wenn Mieter vor Ablauf der Kündigungsfrist ausziehen, etwa weil sie eine schöne Wohnung gefunden haben, wird von den Gerichten mitunter angezweifelt, dass der Auszug in Zusammenhang mit der Kündigung steht. Somit gibt es auch keinen Schadensersatz. „Dabei weiß doch jeder, wie schwierig das Timing bei einem Umzug ist, nur die wenigsten lassen es auf eine Zwangsräumung ankommen“, kritisiert Tietzsch. Das größte Manko: Selbst wenn nachgewiesen werden kann, dass der Eigenbedarf erfunden war, bekommt der Mieter seine alte Wohnung nicht zurück.
Mit 64 Jahren zurück in den Mutter-Haushalt
Motiv Nummer zwei für eine vorgeschobene Eigenbedarfskündigung: Der Eigentümer will einen unliebsamen, etwa streitbaren Mieter loswerden. Nicht selten kommt die Kündigung kurze Zeit, nachdem der Mieter eine Instandsetzung eingefordert oder einer Mieterhöhung widersprochen hat. Auch bei Karl-Heinz A. ist vermutlich ein belastetes Mietverhältnis der eigentliche Kündigungsgrund: „Der Mieter hat wiederholt von seinen Rechten Gebrauch gemacht, es kam immer wieder zu Streitigkeiten“, sagt sein Anwalt Rainer Failenschmid. Die günstige Miete in dem langjährigen Mietverhältnis mag ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Die bittere Konsequenz für den Mieter: Nach über 30 Jahren hat er seine Wohnung verloren. Weil er nichts Bezahlbares fand, wurde er mit Polizei und Gerichtsvollzieher auf die Straße gesetzt, kam dann übergangsweise bei Freunden unter und musste sein gesamtes Hab und Gut in Containern lagern. Notgedrungen zog er zu seiner Mutter nach Nürnberg. „Ich kann keine Mieten von 16 Euro pro Quadratmeter zahlen“, erklärt der mittlerweile 64-Jährige.
2015 hatte ihm sein Vermieter die Zweieinhalbzimmerwohnung in der Urbanstraße in Kreuzberg gekündigt und erklärt, dass seine Tochter nach ihrem Jura-Studium zusammen mit ihrem Lebensgefährten nach Berlin ziehen wolle und bereits eine Referendar-Stelle beim Landgericht Berlin angetreten habe. Sie beabsichtige, zusammen mit ihrem Lebensgefährten in die Wohnung zu ziehen. „Als ich die Kündigung durchgelesen hatte, kam mir gleich der Verdacht, dass da etwas nicht stimmt“, sagt Karl-Heinz A. Durch Zufall fand er heraus, dass die Tochter Eigentümerin eines Hauses im Ortsteil Prenzlauer Berg ist. Sie hatte dort schon auf Eigenbedarf geklagt und dabei in die Waagschale geworfen, dass ihr gesamter Freundeskreis in Prenzlauer Berg wohne. Nur kurze Zeit später gab sie an, dass sie unbedingt nach Kreuzberg ziehen wolle, weil all ihre Bekannten dort wohnen würden.
Trotz diverser Ungereimtheiten und Widersprüche verurteilte das Landgericht ebenso wie schon die Vorinstanz den Mieter zur Räumung. Im November 2018 wurde er zwangsgeräumt – eine traumatische Erfahrung. „Menschenverachtend“ findet Karl-Heinz A. diese Rechtsprechung: „Mit welcher Rücksichtslosigkeit die Gerichte Existenzen zerstören, ist unglaublich.“ Durch Internetrecherche fand Karl-Heinz A. dann heraus, dass die Tochter schon während des Vollstreckungsverfahrens, nämlich zum Mai 2019 in Köln als Rechtsanwältin zugelassen wurde. Die Wohnung steht seit nun eineinhalb Jahren leer – obwohl das junge Paar vor Gericht angegeben hatte, die Wohnung außerordentlich dringend zu benötigen.
Rechtsanwalt Failenschmid hat für seinen Mandanten nun eine Klage auf 4791 Euro Schadensersatz für die Umzugskosten eingereicht. Der tragische Fall zeige, so der Anwalt, dass Vermieter nur einigermaßen plausible Begründungen liefern müssen, damit der Eigenbedarf anerkannt wird. „Das war vor zehn oder 15 Jahren anders.“ Nicht nur, dass mittlerweile jeder noch so abstruse Nutzungswunsch als Eigenbedarf anerkannt wird – von der Unterbringung der Büchersammlung bis zur gelegentlichen Nutzung für Berlin-Besuche. Auch die Anbieterpflicht wurde de facto untergraben. Versäumt es der Vermieter, während der Kündigungsfrist dem Mieter eine andere freigewordene Wohnung anzubieten, wurde früher die Kündigung unwirksam. Nach einem neueren Urteil des Bundesgerichtshofes muss der Vermieter in einem solchen Fall nur noch Schadensersatz leisten (BGH vom 14. Dezember 2016 – VIII ZR 232/15).
Eine Auswahl von Urteilen deutscher Gerichte zum Thema Eigenbedarf
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Auch abstruse Gründe werden akzeptiert
Eigenbedarfskündigungen sollten nur noch in Ausnahmefällen zulässig sein, fordert der Berliner Mieterverein. So soll der Personenkreis auf Familienangehörige ersten Grades begrenzt werden (siehe das Interview oben auf der Seite). Wer eine bewohnte Wohnung kauft, soll zudem keinen Eigenbedarf geltend machen können. Dies würde Sascha Müller* das Bangen um sein Zuhause ersparen. Dem Spandauer wurde von seinen neuen Eigentümern, einem Ehepaar, kurz nach dem Kauf gekündigt. Angeblich will der Ehemann wegen der mittlerweile vollzogenen Scheidung nun selber in die Wohnung ziehen. Dass man sich in der Trennungsphase gemeinsam eine Wohnung kauft, ist zumindest ungewöhnlich, findet Sascha Müller. Was dahinter steckt, ist unklar. Jedenfalls hatte ihm seine Ex-Vermieterin zugesichert, dass die Wohnung nur als Kapitalanlage verkauft werden soll, so dass sein Mietverhältnis geschützt ist.
Wieviel sozialer und politischer Sprengstoff in Eigenbedarfskündigen steckt, zeigte unlängst eine Protestkundgebung vor dem Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg. Die Arbeitsgruppe „Eigenbedarf kennt keine Kündigung“ wollte damit auf die Machenschaften eines Immobilienbesitzers aufmerksam machen, der in der Reichenberger Straße 73 seit 2008 mindestens vier Mietern wegen Eigenbedarfs gekündigt hat. In keine dieser Wohnungen ist hinterher das angegebene Familienmitglied eingezogen, zumindest nicht auf Dauer. Im Mai wurde vor dem Amtsgericht der Fall eines Paares verhandelt, das ihre seit 1984 bewohnte Wohnung ebenfalls wegen eines Eigenbedarfsfalls frei machen sollte. Doch in erster Instanz wies das Gericht die Räumungsklage ab. Es hatte Zweifel daran, dass – wie von der Eigentümerfamilie angegeben – eine Nichte die ernsthafte Absicht hat, in die Wohnung zu ziehen (AG Tempelhof-Kreuzberg vom 24. Juni 2020 – 3 C 176/19). Zudem war zwischenzeitlich eine vergleichbare Wohnung im Haus frei geworden, die aber an den Stiefbruder der jungen Frau vermietet wurde.
Ob sie sich Gedanken über die Mieter gemacht habe, die sie herausdrängt, wollte der Anwalt der Mieter, Cornelius Krakau, von der Nichte wissen. „Ich dachte, die suchen sich halt etwas anderes“, entgegnete diese – nur um im nächsten Atemzug hinzuzufügen, dass es in Berlin keinen bezahlbaren Wohnraum gibt und dass sie daher das Angebot ihres Onkels unmöglich abschlagen könne. Das Gelächter im Gerichtssaal war groß.
Regulierung tut not
Wenn die Bundesregierung als Gesetzgeber nicht endlich eine entsprechende Gesetzesänderung in Angriff nimmt, müsse das auf Landesebene reguliert werden, ähnlich wie der Mietendeckel, fordert der Berliner Mieterverein. Insbesondere Mieter in vermieteten Eigentumswohnungen haben ansonsten ständig das Damoklesschwert der Eigenbedarfskündigung über sich.
Birgit Leiß
* Name geändert
Und so ist die Rechtslage
Nach Paragraf 573 Absatz 2 Nr. 2 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) kann der Vermieter wegen Eigenbedarfs kündigen, wenn er die Wohnung für sich, seine Familienangehörigen oder Haushaltsangehörigen benötigt. Darauf berufen können sich nur natürliche Personen, nicht jedoch Wohnungsbaugesellschaften oder Immobilienunternehmen wie die Deutsche Wohnen. Gesellschaften bürgerlichen Rechts (GbRs) können nach der überwiegenden Rechtsprechung für ihre Gesellschafter Eigenbedarf geltend machen. Die Kündigungsfrist richtet sich nach der Mietdauer und beträgt mindestens drei und höchstens neun Monate.
Man kann der Kündigung unter Berufung auf Härtegründe widersprechen. Dazu zählen beispielsweise hohes Alter oder Gebrechlichkeit. Bis zum Ablauf der Kündigungsfrist ist der Vermieter verpflichtet, dem Mieter eine andere Wohnung aus seinem Bestand anzubieten, falls eine frei wird. Wird sie aber erst während eines Räumungsverfahrens frei, gilt das nicht. Wichtig: Wird eine Wohnung erstmalig in Einzeleigentum umgewandelt, ist man in Berlin zehn Jahre lang vor einer Kündigung wegen Eigenbedarfs geschützt.
bl
„Die Rechtsprechung lädt zum Missbrauch ein“
MieterMagazin: Dank Mietpreisbremse und Mietendeckel müsste es doch eigentlich weniger Fälle geben, in denen Vermieter Eigenbedarf vorschieben, nur um die Wohnung anschließend teurer vermieten zu können.
Dr. Rainer Tietzsch: Ob es da wirklich einen Rückgang geben wird, kann man noch nicht beurteilen. Dazu ist es noch zu früh. Wir wissen ja, dass zurzeit viele Schattenmietverträge abgeschlossen werden. Insofern gibt es für das Freimachen einer Wohnung nach wie vor einen Anreiz. Ich habe jedenfalls noch nie so viele Eigenbedarfskündigungen auf dem Tisch gehabt wie in den letzten zwei Jahren.
MieterMagazin: Fällt es denn vor Gericht nicht auf, wenn allzu durchsichtige Lügengeschichten aufgetischt werden, etwa wenn die gehbehinderte Mutter im vierten Stock ohne Fahrstuhl untergebracht werden soll?
Dr. Tietzsch: Die meisten Gerichte prüfen sehr sorgfältig, ob der Eigenbedarf gerechtfertigt ist. Aber wenn nicht so offensichtlich getäuscht wird, dass es auf den ersten Blick auffällt, geht das manchmal durch. Wer gut lügt, ist eben kaum zu widerlegen. Zudem müssen sich die Gerichte natürlich an der Rechtsprechung orientieren, und die lädt zum Missbrauch geradezu ein. Mittlerweile wird jeder vom Vermieter geäußerte, nicht allzu abwegige Wunsch als Eigenbedarf akzeptiert. Entsprechende Urteile gibt es beispielsweise für die Unterbringung eines Au-Pair-Mädchens oder zur Nutzung der Wohnung für gelegentliche Besuche der Tochter. Selbst eine geplante gewerbliche Nutzung der Wohnung wird höher gewichtet als der Wohnbedarf eines vorhandenen Mieters. Und während hochbetagte Menschen früher vor einem Rauswurf weitgehend sicher waren, heißt es heute, das Alter allein sei kein ausreichender Härtegrund. Man setzt alte Menschen also einem extrem belastenden Gerichtsverfahren mit ungewissem Ausgang aus. Als Anwalt muss man den Leuten ehrlicherweise sagen, dass sie sich sicherheitshalber schon mal nach einer Senioreneinrichtung umsehen sollen. Das ist schon sehr beklemmend.
MieterMagazin: Würden Sie sagen, dass Eigenbedarfskündigungen ganz untersagt werden sollten?
Dr. Tietzsch: Ab einem bestimmten Alter ja. Ansonsten gibt es natürlich Fälle, wo sich die Lebensumstände eines Eigentümers so ändern, dass er die Wohnung wieder selber braucht. Aber zum einen sollte der Eigenbedarf ganz klar eingeschränkt werden: auf den Vermieter selbst, seine Haushaltsangehörigen und Verwandte ersten Grades – also nicht die Schwiegermutter, die Ex-Frau oder der Neffe. Hier fordern wir eine Gesetzesänderung. Außerdem muss eine Pflicht eingeführt werden, dem Mieter angemessenen Ersatzwohnraum anzubieten. Denn auch wenn echter Eigenbedarf vorliegt, ist das doch kein Grund, den Mieter einfach in die Wohnungslosigkeit zu schicken. Zumindest Vermieter, die als Unternehmer handeln, müssen verpflichtet werden, dem Mieter eine andere Wohnung zu besorgen. Solche gewerblichen Vermieter kommen schließlich relativ leicht an frei werdende Wohnungen. Ganz ausgeschlossen werden sollte nach Überzeugung des Mietervereins die Kündigungsmöglichkeit wegen Eigenbedarf nach dem Kauf einer Wohnung. Es kann nicht sein, dass jemand eine vermietete Wohnung kauft – also genau weiß, dass er auf einen Mieter Rücksicht nehmen muss und dadurch einen deutlichen Preisvorteil hat – und sich dann auf Eigenbedarf beruft.
Interview: Birgit Leiß
27.03.2022