Der Kampf um Mieterrechte hatte schon immer zwei Arme: die in einem Zusammenschluss wie dem Mieterverein längerfristig organisierte Mieterschaft und die eher themen- und anlassbezogenen, locker organisierten Mieterinitiativen. Ein gemeinsames Agieren haben die beiden Arme in der Vergangenheit oftmals nicht zustande gebracht. Dieses MieterMagazin SPEZIAL geht den Gründen nach und zeigt Möglichkeiten und Chancen eines guten Zusammenspiels auf.
Folgende Themen behandelt dieser Artikel:
- Geschichte der Berliner Mieterorganisationen –
Zwischen staatlicher Kontrolle und Selbstbegrenzung - Geschichte der Berliner Mieterinitiativen –
Rebellionen, Streiks und Hausbesetzungen - BMV-Politik nach 1990 –
Kampf gegen Deregulierung und Sozialabbau - Mieterinitiativen nach der Wiedervereinigung –
Professioneller und radikaler - Wo Mieterverein und Initiativen sich ergänzen –
Unterschiedliche Ressourcen, das gleiche Ziel - Ein Gespräch mit der Stadtforscherin Lisa Vollmer –
Allianzen erhöhen den politischen Druck
Geschichte der Berliner Mieterorganisationen
Zwischen staatlicher Kontrolle und Selbstbegrenzung
Der Berliner Mieterverein (BMV) und seine Vorläufervereine stellten sich lange als unpolitisch dar. Dabei vertraten sie immer auch ein politisches Anliegen, nämlich die Stärkung der Mieterrechte. Seit den 1980er Jahren tritt der BMV offensiver für die Interessen der Berliner Mieterinnen und Mieter ein.
Im Jahr 1888 wurde der erste Vorläufer des Berliner Mietervereins, der „Verein Berliner Wohnungsmiether“, gegründet. Sein Zweck war „die Wahrnehmung und Förderung der Interessen der Wohnungsmiether im Allgemeinen und seiner Mitglieder im Besonderen, unter Ausschluß aller politischen und religiösen Tagesfragen“. Es war ratsam, sich als unpolitischer Verein darzustellen, denn „politische“ Vereine wurden staatlich überwacht: Sie mussten ihre Satzungen und Mitgliederlisten den Behörden vorlegen und durften weder Frauen noch Lehrlinge oder Schüler aufnehmen. Außerdem konnten aufgrund des seit 1878 geltenden Gesetzes „wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ Vereine schnell verboten werden. Der Verein Berliner Wohnungsmiether erschien aber ohnehin kaum sozialdemokratischer Umtriebe verdächtig: Rund 60 Prozent der Mitglieder waren Gewerbetreibende und Kaufleute, nur fünf Prozent waren Arbeiter.
In der Anfangszeit bestand die Arbeit des Vereins hauptsächlich aus der Rechtsberatung seiner 4000 Mitglieder. Der Verein kämpfte aber auch gegen das sogenannte Kahlpfändungsrecht und hatte Erfolg: Dieses Recht des Vermieters, bei Mietern im Zahlungsrückstand alles zu pfänden, was sie nicht am Leibe trugen, wurde 1894 abgeschafft.
Auf dem heutigen Berliner Gebiet wurden bis 1907 noch mindestens elf weitere Mietervereine gegründet, von denen sich einige 1918 zum Mieterbund Groß-Berlin zusammengeschlossen haben. Schätzungsweise hatten sie in Berlin zu ihren Hochzeiten 1919 bis 1924 zusammen rund 50.000 Mitglieder.
Die Weimarer Republik verbesserte die Stellung der Mieter erheblich. Nach dem Reichsmietengesetz von 1922 und dem Mieterschutzgesetz von 1923 konnten Vermieter Kündigungen nur durch eine Aufhebungsklage vor einem Mietschöffengericht durchsetzen. Dort saßen neben den Amtsrichtern auch Laienrichter, die von Mietervereinen gestellt werden konnten. Auch in den ab 1918 eingerichteten Mieteinigungsämtern saßen Mietervertreter als Beisitzer. Die Mieterverbände mussten jedoch hart darum kämpfen, dass die zunächst befristeten Gesetze verlängert wurden.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten betonten die Mieterverbände wieder ihre politische Neutralität, offenbar um sich vor der Zerschlagung zu schützen. Doch im Jahr 1934 wurden die zerstrittenen Verbände im Reich und in Berlin zusammengelegt und politisch „gleichgeschaltet“. Nennenswerten Widerstand dagegen sucht man in der Geschichte der Mieterverbände leider vergeblich.
Der Berliner Mieterverein gründete sich im Jahr 1949 neu. Durch die Nachkriegsjahrzehnte zog sich der Kampf gegen die Abschaffung der Mietpreisbindung für den Altbaubestand. Nach dem Lücke-Plan, benannt nach dem damaligen Wohnungsbauminister Paul Lücke (CDU), sollten ab 1960 aus „Schwarzen Kreisen“ mit Preisbindung nach und nach „Weiße Kreise“ ohne Preisbindung werden. Vermieter durften dann die Miete drastisch erhöhen. Der Weiße Kreis hing wie ein Damoklesschwert über den West-Berliner Mietern. Der Berliner Mieterverein agierte in dieser so zentralen Frage anfänglich nur mit angezogener Handbremse. Er betonte seine politische Neutralität und distanzierte sich von Aktionen anderer Mieterorganisationen, weil er sie für „kommunistisch unterwandert“ hielt. Obwohl laut Satzung überparteilich, stand er der SPD nahe.
Nach dem Aufbegehren der 68er-Studentenbewegung war aber auch die Wohnungs- und Baupolitik der SPD nicht mehr unumstritten. Der Soziale Wohnungsbau erwies sich als oft zu teuer, die neu gebauten Großsiedlungen wurden als seelenlos und menschenfeindlich kritisiert, Spekulation und Filz griffen um sich, und der Abriss der Altbauviertel rief immer mehr Proteste in West-Berlin hervor. Am Berliner Mieterverein gingen diese Bewegungen vorbei, bis Aktivisten sich einmischten und schließlich 1979 mit einem neugewählten Vorstand und einer neuen Geschäftsführung frischen Wind in den Verein brachten. Der Verein trat nun auch politischer auf und suchte den Schulterschluss mit den verschiedenen Initiativen.
Mit dem Weißen Kreis wurde es in den 80er Jahren ernst. Um die Mietpreisbindung zu erhalten, organisierte der Berliner Mieterverein 1987 zusammen mit anderen Mieter- und Sozialverbänden sowie der SPD-Opposition vielfältige Aktionen. Unter anderem wurden fast 500.000 Unterschriften gesammelt. Dennoch wurde der Weiße Kreis 1988 eingeführt. Das Thema war den Berlinerinnen und Berlinern aber so wichtig, dass sie bei den folgenden Wahlen einer Koalition aus SPD und Grünen zur Mehrheit verhalfen. Der neu gewählte Regierende Bürgermeister Walter Momper hatte sich zuvor persönlich an den Aktionen gegen den Weißen Kreis beteiligt.
In der DDR hatte es vor dem Mauerfall keine Mietervereine gegeben. Der 1990 gegründete Mieterverein für Ost-Berlin hat sich noch im selben Jahr mit dem Berliner Mieterverein zusammengeschlossen. Der ebenfalls neue Mieterbund der DDR trat dem Deutschen Mieterbund bei.
Jens Sethmann
Reformen: Auf die Straße oder auf den langen Marsch?
Das Jahr 1968 brachte einen tiefen gesellschaftlichen Umbruch. Ausgehend von Studentenprotesten entstand eine Bewegung, die sich für Frieden, Frauenemanzipation, Arbeiterrechte und Umweltschutz einsetzte und mehr Mitbestimmung der Bürger einforderte. In den 70er Jahren schlug die Bewegung zwei Wege ein. Die einen machten sich auf den „langen Marsch durch die Institutionen“ mit der Absicht, in Parteien, Verwaltungen, Verbänden, Gerichten, Universitäten, Schulen und Redaktionen die bestehenden Strukturen von innen zu reformieren. Die anderen wollten eine außerparlamentarische Opposition bleiben und „von der Straße“ aus politischen Einfluss nehmen. Die Friedens-, Frauen- und die Antiatomkraft-Bewegung ging daraus hervor. Als Sammelbecken gründeten sie 1979 „Die Grünen“ – eine Partei, die längst eine etablierte Institution ist.
js
Armin Hentschel, Reiner Wild: Wider Miethswucher und Eigenthümertyrannei – 101 Jahre Berliner Mieterverein 1888-1989, Berlin 1989, erhältlich in der BMV-Geschäftsstelle für 10 Euro, bei Bestellungen zuzüglich 2 Euro VersandkostenLesen Sie auch zu diesem Thema:
- Wie sich der Berliner Mieterverein seit 1888 entwickelte:
Vom Fragekasten zur schlagkräftigen Interessenvertretung - Historie des Berliner Mietervereins
- BMV-Geschichte: Ein Blick zurück …
- Der Deutsche Mieterbund: Von der unpolitischen Mieterpartei
zur überparteilichen Mieterpolitik: Meilensteine einer Bewegung
Geschichte der Berliner Mieterinitiativen –
Rebellionen, Streiks und Hausbesetzungen
Mieterinitativen handelten meist ohne die organisierten Mietervereine. Und auch die Mietervereine hielten sich oft von den Protesten der unorganisierten Mieter fern. Diese gegenseitige Abgrenzung hat beiden Seiten mehr geschadet als genutzt.
Im 19. Jahrhundert waren Mieterproteste meist unorganisiert. Wenn ein Mieter, der in Zahlungsschwierigkeiten gekommen war, „exmittiert“, also geräumt werden sollte, versammelten sich nicht selten die Nachbarn vor dem Haus, um den Hausbesitzer und den Gerichtsvollzieher zu vertreiben oder um später die auf die Straße gestellten Möbel des Mieters einfach wieder gemeinsam zurück in seine Wohnung zu tragen. Ein solcher Fall löste im Juli 1872 die sogenannten Blumenstraßenkrawalle aus: Im Viertel zwischen Ostbahnhof und Strausberger Platz tobten tagelang Straßenkämpfe, die der Polizeipräsident schließlich mit einem Militäreinsatz blutig niederschlagen ließ.
Aufschlussreich für das Verhältnis zwischen Mietervereinen und Mieterinitiativen ist die Mieterstreikbewegung der Jahre 1932 und 1933. Begonnen hatte diese Bewegung im Juli 1932 in 14 Häusern der Mädler-Grundstücks-AG in der Swinemünder Straße im Bezirk Mitte. 300 Familien stellten die Mietzahlungen ein, um den Vermieter zu einer Absenkung der Mieten um 30 Prozent zu bewegen. Mehr als zwei Drittel der Bewohner waren arbeitslos. „Erst kommt bei uns det Essen. Miete könn’wa keene bezahlen“, hatte eine ältere Mieterin einem Zeitungsbericht zufolge bei einer Mieterversammlung gesagt. „Erst das Essen, dann die Miete“ wurde zur Parole eines in den folgenden Monaten durchgeführten Mieterstreiks, bei dem mehr als 300 Häuser mit über 14.000 Mietern mitmachten. Der Streik ging von sogenannten Mieterräten der Häuser aus.
Nach dem Vorbild der Swinemünder Straße bildeten sich 1932 viele neue Mieterräte, die in den Streik traten – oft erfolgreich: So hat der Vermieter der ehemaligen Stadtvogtei am Molkenmarkt, der sogenannten „Wanzenburg“, nach nur einem Monat eine Senkung der Mieten um 40 bis 42 Prozent und eine Streichung der Mietrückstände zugesagt.
Auf dem Höhepunkt der Streikbewegung rief ein Zentraler Mieterausschuss für den 5. Februar 1933 zu einem Mieter-Delegiertenkongress auf. „In unzähligen Mieterkämpfen“, heißt es in dem Aufruf, „haben die Mieter gemeinsam, ohne Unterschied der Parteizugehörigkeit, der KPD-Arbeiter neben dem Arbeiter der SPD und der NSDAP und diese alle gemeinsam mit parteilosen Arbeitern, Angestellten, Beamten und Kleingewerbetreibenden, den Kampf um die Wohnung in der Einheitsfront erfolgreich behauptet.“ Über die Mietervereine äußerte sich der Ausschuss enttäuscht: „Zum Teil musste dieser Kampf geführt werden gegen die seit Jahren bestehenden Mietervereine und Organisationen, die den Mietern wohl die hohen Beiträge abnehmen, sonst aber nichts tun, um den täglichen Kampf zu unterstützen.“
Die Mietervereine kamen der Aufforderung sich einzureihen nicht nach. Auch die SPD distanzierte sich: „Wir führen keinen Kampf gegen die Mietervereine und Organisationen. Wir lehnen eine Einheitsfront mit der NSDAP ab.“ Die geschichtliche Entwicklung überholte diesen Streit mit Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933.
Zahlreiche Mieterinitiativen entstanden in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Gegen die zerstörerische Politik der Kahlschlagsanierung des West-Berliner Senats wuchs der Widerstand. Bürgerinitiativen bildeten sich, und über 100 zum Abriss vorgesehene Häuser wurden besetzt. Die Hausbesetzer verfolgten durchaus verschiedene Ansätze. Während die einen unorganisiert und anarchisch bleiben wollten und Verhandlungen ablehnten, gründeten andere Vereine oder Genossenschaften und handelten mit den Bezirksämtern Verträge über ihren Verbleib aus.
In Ost-Berlin verlief der Widerstand gegen die Baupolitik lange im Stillen. Man eignete sich leerstehende Altbau-Wohnungen einfach an. Informationen, wo es leere Wohnungen gab, kursierten unter der Hand.
Organisierte Formen nahm der Mieterprotest gegen Ende der DDR an. So unterwanderten findige Oppositionelle aus der Oderberger Straße in Prenzlauer Berg den Wohnbezirksausschuss (WBA), ein offizielles Gremium, das meist nur biedere Nachbarschaftsaktionen durchführte. Dieser gekaperte WBA machte 1988 die Abrisspläne für die Oderberger Straße öffentlich, organisierte den Widerstand und brachte das Vorhaben so überraschend schnell zu Fall. Nach der Wende wurde der WBA zur Keimzelle der stadtweiten Bewegung „Wir Bleiben Alle“.
Jens Sethmann
Erfolgreiche Einforderung direkter Demokratie
Seit der Protestbewegung von 1968 forderten West-Berliner Bürgerinnen und Bürger zunehmend das Recht ein, an politischen Entscheidungen beteiligt zu werden. So setzten sie durch, dass in den Sanierungsgebieten gewählte Betroffenenvertretungen bei den Planungen mitreden dürfen. Damit konnten Senatsverwaltung, Bezirksamt und Sanierungsträger nicht mehr über die Köpfe der Bewohner hinweg entscheiden. Die Politik kam den Forderungen nach Partizipation auch entgegen: 1986 wurden im neuen Baugesetzbuch Bürgerbeteiligungsverfahren gesetzlich festgeschrieben. In den Stadtteilen mit einem Quartiersmanagement (QM) gibt es seit 1999 Quartiersräte, in denen die Bewohner über die Vergabe von Fördergeldern mitentscheiden können.
Auch die Möglichkeiten der direkten Demokratie werden immer mehr genutzt. Schon 1982 startete der Berliner Mieterverein in neun Bezirken gleichzeitig neun Bürgerbegehren zum Erhalt der Mietpreisbindung. Rund 250.000 Bürger unterstützten dieses Vorhaben. Auf Landesebene waren Volksbegehren in Berlin bis 2006 nur zu wenigen Fragen zulässig. Nachdem etliche Beschränkungen gefallen waren, machten Bürger zunehmend davon Gebrauch. So erzwangen sie die Rekommunalisierung der Wasserbetriebe, die Freihaltung des Tempelhofer Feldes und Verbesserungen im Sozialen Wohnungsbau. Zurzeit läuft ein Volksbegehren zur Vergesellschaftung profitorientierter Wohnungskonzerne.
js
BMV-Politik nach 1990 –
Kampf gegen Deregulierung und Sozialabbau
Die 90er Jahre im gerade wieder vereinigten Deutschland waren geprägt durch den Rückzug des Sozialstaats. Staatliche und kommunale Infrastruktur wurde privatisiert, der Arbeitsmarkt wurde dereguliert, und die Wohnungsversorgung sollte der Markt regeln. Die schwarz-gelbe Bundesregierung trieb diese Entwicklung voran, Rot-Grün setzte sie fast nahtlos fort. Für die Arbeit des Berliner Mietervereins (BMV) war das eine schwierige politische Großwetterlage.
Nach Aufhebung der Mietpreisbindung für West-Berlin war die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit durch die Bundesregierung im Jahr 1990 ein tiefer Einschnitt in die soziale Wohnraumversorgung. Denn damit erteilte man auch den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften den Auftrag, Profit zu machen und Geld in die öffentlichen Kassen zu spülen. Die notorisch klamme finanzielle Situation Berlins verschärfte sich enorm, als der CDU-Filz 2001 den Berliner Bankenskandal auslöste. Der rot-rote Nachfolge-Senat sah sich in der Notlage gezwungen, 2004 die städtische Wohnungsbaugesellschaft GSW zu verkaufen.
Im Osten der Stadt standen die Mieterinnen und Mieter nach der Wiedervereinigung vor großen Unsicherheiten. Die Mieten wurden stufenweise auf Westniveau angehoben, Altbauten wurden an Alteigentümer rückübertragen, und nach dem Altschuldenhilfegesetz mussten die städtischen Unternehmen erhebliche Teile ihrer Wohnungsbestände privatisieren.
Nachdem die hochfliegenden Metropolenträume der unmittelbaren Nachwendezeit verflogen waren, zog sich der Staat 1997 auch aus der Neubauförderung zurück. Angesichts von Leerständen wurde ab 2007 sogar der Abriss von Wohnungen gefördert.
Die Abwehr der wohnungspolitischen Rückschritte brachte nicht wie in den 80er Jahren Menschenmassen auf die Straße. Die Gefahren waren für die Mieter abstrakt, und durch den noch halbwegs entspannten Wohnungsmarkt fühlte man sich nicht direkt gefährdet.
Das änderte sich mit der Finanzkrise 2008. Die Ideologie, dass der Markt alles regele, brach in sich zusammen. Das Geld der Investoren floss fortan nicht mehr in Aktien, sondern in vermeintlich sichere Immobilien, das sogenannte Betongold. Kaufpreise und Mieten erreichten ungeahnte Höhen. Hinzu kam ein anhaltender Zuzug nach Berlin. Jeder Mieter erfuhr, dass er im Falle eines Umzugs kaum noch Chancen auf eine bezahlbare Wohnung hatte.
Frühzeitig hat der Mieterverein von der Politik Gegenmaßnahmen gefordert. 2019 führte das Land Berlin mit Unterstützung des BMV den Mietendeckel ein. Der Mieterverein hatte das Mietenvolksbegehren befürwortet und tritt aktuell für das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ ein.
Innerhalb des BMV haben die Bezirksgruppen nach 1990 mehr Gewicht bekommen. Als Basis-Vertretung tragen sie Probleme über den Beirat in den Verein. So unterstützt der BMV auch ganz direkt Mietergemeinschaften, die sich gegen Modernisierungen oder gegen den Verkauf ihrer Wohnanlage wehren.
Jens Sethmann
Neue Organisationen in klassischen Formaten
Ein Verein ist nicht die einzige Form, in der sich Mieter zusammenschließen können. In Berlin gibt es zwei neue Ansätze, die klassische Organisationsformen nutzen: eine Gewerkschaft und eine Partei.
Vor einem Jahr haben Engagierte aus dem Mietenwahnsinn-Bündnis eine Initiative zur Gründung einer „Mieter:innengewerkschaft“ gebildet. Sie wollen das Gewerkschaftsprinzip aus der Arbeitswelt auf das Wohnen übertragen. „Dazu gilt es, neue Wege zu finden und alte Fäden wie die des Mietstreiks wieder aufzunehmen“, sagt die Initiative. Für den „Flickenteppich“ der Initiativenlandschaft will die Gewerkschaft die Interessen bündeln und schlagkräftig vertreten.
Ein Vorbild für die Mieter:innengewerkschaft ist die schwedische „Hyresgästföreningen“. Die 1915 gegründete Organisation hat mit ihren Mietstreiks maßgeblich dazu beigetragen, dass in Schweden die Mieten in Tarifverhandlungen bestimmt werden. Die Hyresgästföreningen hat über 500.000 Mitglieder und verhandelt über die Mieten von rund drei Millionen Mietern.
Seit 2016 gibt es die „Mieterpartei“. Sie ist in ihrem Gründungsjahr zu den Abgeordnetenhaus- und Bezirksverordnetenwahlen sowie 2017 bei den Bundestagswahlen angetreten, ohne allerdings Mandate zu erringen. „Die Mieten explodieren“, heißt es im Grundsatzprogramm der Mieterpartei. „Den etablierten Parteien fehlt der Wille und die Unabhängigkeit, tatsächlich dagegen vorzugehen.“ Die Mieterpartei setzt sich auch für ein besseres Renten- und Gesundheitssystem sowie für ein demokratischeres Gemeinwesen ein.
Die Idee, als Mietervertretung zu Wahlen anzutreten, ist nicht neu. Im Jahr 1911 haben 36 Mietervereine mit eigenen Listen erfolgreich an Kommunalwahlen teilgenommen. Auf diese Weise ist damals auch der Verein Steglitzer Wohnungsmiether in den Gemeinderat eingezogen.
js
Mieterinitiativen nach der Wiedervereinigung –
Professioneller und radikaler
Dem Abriss in der DDR hatten sich die dortigen Aktivisten an mancher Stelle trickreich entgegengestellt – eine Verdrängung im wiedervereinigten Berlin konnten sie zunächst nicht verhindern. Gut 25 Jahre nach dem Fall der Mauer konnte die Politik sich Ignoranz gegenüber den Forderungen einer stadtübergreifenden Protestinitiative nicht mehr leisten: Der sogenannte Mietenvolksentscheid kassierte einen beachtlichen Teilerfolg. Aber auch mit einem solchen will sich die jetzige Enteignungsinitiative nicht mehr zufriedengeben. Die Aktivisten sind professioneller geworden, ihre Forderungen radikaler.
Wir haben die Oderberger Straße nicht vor dem Abriss gerettet, um jetzt von hier verdrängt zu werden!“ Matthias Bernt erinnert sich noch gut an die in den ersten Jahren nach dem Mauerfall aufkommende Wut von Bewohnern der Berliner Ost-Bezirke. Engagierte und Oppositionelle hatten die verfallenden Gründerzeitbauten im Prenzlauer-Berg-Quartier zwischen Kastanienallee, Eberswalder Straße und der Mauer zu West-Berlin in den 1980er Jahren trickreich gegen sozialistische Stadtplanung verteidigt. Jetzt sahen sie sich fast über Nacht mit ganz neuen Begehrlichkeiten konfrontiert. Häuser gingen an ihre Alteigentümer zurück, wurden zu hohen Preisen verkauft und versteigert – Sanierung und Aufwertung des alten Bestandes setzten mit voller Wucht ein. Und damit schnellten die Mieten nach oben.
„Es wurden die verrücktesten Immobilienprojekte diskutiert – und zugleich wuchs eine ungeheure Verunsicherung“, so der Politikwissenschaftler Bernt, der 1992 zum Aktionsbündnis „Wir bleiben alle!“ gehörte. Mit dem Kürzel WBA – zu DDR-Zeiten bedeutete das „Wohnbezirksausschuss“ – wollten seine Initiatoren auch an einen subversiven Widerstand gegen autoritäre Strukturen erinnern, der mit der Unterwanderung eines WBA im Bezirk Prenzlauer Berg gegen Ende der DDR verbunden war. Nun fand sich unter diesem Symbol eine Protestbewegung im Osten Berlins zusammen, die gegen beginnende Vertreibung mobil machte. Und sie fand massenhaften Zulauf: Am 9. September 1992 gingen 20.000 Menschen gegen die anstehende Erhöhung der Mieten im Osten auf die Straße. „Verhindern oder verändern konnten wir damals nichts“, so Bernt zum enttäuschenden Ergebnis des Protestereignisses. „Die Medien haben uns so gut wie nicht erwähnt, und die Politik tat die Proteste als Transformationsproblem ab.“
13 Jahre später sollte das nicht mehr möglich sein. Da machten fast 50.000 Unterschriften, die 2015 innerhalb von nur zwei Monaten zur Einleitung eines Mietenvolksentscheides gesammelt worden waren, den politisch Verantwortlichen deutlich: Die Wohnungsfrage in Berlin ist ohne die Mieter nicht zu lösen.
Ursache für das massenhafte und lautstarke Aufbegehren war eine immer angespanntere Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt. Daran waren die Regierenden nicht unschuldig: Sie hatten nahezu die Hälfte des landeseigenen Wohnungsbestandes verkauft. Zugleich wurde internationales Kapital auf Berlin aufmerksam – die Investments in Grund und Boden und auch in Häuser stiegen. Neu gebaut wurde dagegen immer weniger.
„Jetzt mussten sogar die Mieter bei den kommunalen Unternehmen befürchten, ihre Wohnung bald nicht mehr bezahlen zu können“, erklärt Jan Kuhnert, einer der Mitinitiatoren des Mietenvolksentscheides. Den Organisatoren war es gelungen, die wachsende Angst und Unsicherheit in eine breite Protestbewegung zu transformieren. „Wir wollten eine neue, soziale Wohnungspolitik und haben deshalb nicht einfach einen Forderungskatalog vorgelegt, sondern einen konkreten Gesetzentwurf ausgearbeitet“, sagt Kuhnert. Und der wurde in großen Teilen in einem mit dem Senat vereinbarten Kompromissentwurf übernommen: Am 12. November 2015 beschloss die Landesregierung das Berliner Wohnraumversorgungsgesetz. Es schreibt unter anderem fest, dass landeseigene Unternehmen auf eine soziale, langfristig gesicherte Wohnungsversorgung ausgerichtet sein müssen.
Der Volksentscheid war damit erst einmal vom Tisch. Aber die Welle der Mieterproteste kam jetzt erst richtig ins Rollen – „eine soziale Bewegung in breitester Form“, wie der Aktivist Michael Prütz erklärt. „Ihre Professionalität ist viel größer als bei den Protesten vor 25 Jahren, und vor allem sind die Forderungen mutiger, radikaler.“ Prütz ist Mitbegründer der wohl radikalsten Initiative: „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Sie zielt auf die Vergesellschaftung profitorientierter übergroßer Wohnungsunternehmen und beruft sich dabei auf Artikel 15 des Grundgesetzes, der eine Überführung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln in Gemeineigentum möglich macht.
Gestartet wurde die Initiative 2018 von nur wenigen Aktiven. Ein Erfolg ihres Anliegens wurde anfangs von vielen anderen Gruppen angezweifelt, wird noch heute von großen Organisationen wie dem Deutschen Gewerkschaftsbund ignoriert und von den meisten Parteien abgelehnt. Aber inzwischen zählen zu den rund 300 Organisatoren erfahrene Mieter-Aktivisten, Politprofis und Juristen, die sich ihres Rückhalts in einem großen Teil der Hauptstadtbevölkerung sicher sind. „Das ist kein Wunder“, so Michael Prütz, „die Lage hat sich seit dem Mietenvolksentscheid noch verschärft: Preistreiberei, Vermieterarroganz, sinkende Bereitschaft zur Instandhaltung und Verdrängung sind allgegenwärtig.“
Als die Initiative im April 2019 ihre Unterschriftensammlung für den Antrag auf ein Volksbegehren über die Frage der Enteignung startete, standen nach nur neun Wochen die Namen von 77.000 Unterstützern auf den Listen – fast dreimal so viele, wie notwendig gewesen wären.
Auf einen Kompromiss mit der Politik will sich die Initiative nicht einlassen. Michael Prütz: „Wir können über das Wie der Vergesellschaftung reden, aber nicht über das Ob.“ Es ist ein Kampf mit Symbolkraft, der längst nicht mehr nur im Fokus lokaler Aufmerksamkeit steht. Interviewanfragen kommen von der New York Times und der BBC.
Inzwischen bereitet die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ den zweiten Schritt vor: Am 25. Februar startet die Unterschriftensammlung für das Volksbegehren selbst. Bringt es die erforderlichen 170.000 gültigen Unterschriften zusammen, wird neben den Listen zur Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl im Herbst dieses Jahres auch ein Abstimmungsbogen über die Frage der Enteignung liegen.
Rosemarie Mieder
Ein Blick über den Stadtrand
… nach Bayern
„Sechs Jahre Mietenstopp“ fordert ein breites Bündnis, dem Parteien und Gewerkschaften, aber auch der Mieterverein München und die Initiative „Ausspekuliert“ angehören. Zwischen Oktober 2019 und März 2020 war es ihnen gelungen, über 50.000 Unterschriften für den Antrag auf ein Volksbegehren zu sammeln. Erreichen will man unter anderem, dass in 162 bayrischen Gemeinden mit einem besonders angespannten Mietwohnungsmarkt die Erhöhung der Miete in bestehenden Verträgen für sechs Jahre ausgesetzt wird. Bei Neuvermietungen und Modernisierungen sollten Mieterhöhungen nur in engen Grenzen möglich sein. Im Juli 2020 erklärte der Bayrische Verfassungsgerichtshof den Antrag für ungültig. Begründung: Das Land habe auf diesem Gebiet keine Gesetzgebungskompetenz, weil die einschlägigen Vorschriften im Bundesrecht abschließend geregelt seien. Die Initiatoren erklärten daraufhin: „Jetzt muss es weitergehen!“ und legten Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein.
… nach Frankfurt/Main
„Die dreisteste Mieterhöhung Frankfurts“ – mit dieser Kampagne macht die Initiative „Mietentscheid“ derzeit in der Stadt auf sich aufmerksam. Sie wurde 2018 gegründet mit dem Ziel, über einen Bürgerentscheid die städtische Wohnungsbaugesellschaft zu verpflichten, in Zukunft nur noch Sozialwohnungen zu bauen. Die Initiative, von der Partei Die Linke angestoßen, ist heute ein Bündnis, dem Gewerkschaften, der AStA der Frankfurter Uni und beispielsweise auch das Bündnis „Eine Stadt für alle“ angehören. Bereits im letzten Jahr hatten die Aktivisten ihre Unterschriftenliste für einen Bürgerentscheid vorgelegt – mit weit mehr als den benötigten 17.000 Stimmen. Dennoch wurde der Antrag von den Behörden für nicht rechtsgültig erklärt. Die Aktivisten nehmen das nicht hin und haben Klage eingereicht.
… nach NRW
„Wir wollen wohnen“ heißt ein starkes Bündnis in Nordrhein Westfalen. Seit zwei Jahren mischt es sich lautstark in die Wohnungspolitik der Landesregierung ein – mit Stellungnahmen, Fachtagungen, deutlicher Kritik und einem klaren Forderungskatalog. Der verlangt beispielsweise Verordnungen zur Mietpreisbegrenzung, eine Regelung zur Zweckentfremdung von Wohnraum, mehr öffentlich geförderte Wohnungen und eine nachhaltige soziale Wohnungswirtschaft. Ganz einfach beiseite schieben kann die Politik diese Forderungen nicht, denn hinter dem Bündnis stehen acht starke Organisationen, zu denen auch der Deutsche Mieterbund NRW gehört, sowie zahlreiche Vereine und Initiativen als Unterstützer. Im Sommer 2019 legte das Bündnis mehr als 31.000 Unterschriften aus einer Online-Petition auf den Tisch, die von der Politik ein wohnungspolitisches Umsteuern fordern.
… nach Stuttgart
Mit dem „Mietentscheid Stuttgart“ fand sich im Frühjahr 2019 ein Bündnis zusammen, um ein Bürgerbegehren für bezahlbares Wohnen vorzubereiten. Das Bündnis, dem 25 Vereine, zahlreiche Initiativen, Parteien und Gewerkschaften angehören, fordert unter anderem: Verkaufsstopp von städtischem Grund und Boden, Vorgehen gegen Zweckentfremdung von Wohnraum, Deckelung der Mieten bei 5 Euro für alle Wohnungen im Eigentum der Stadt und der städtischen Wohnungsbaugesellschaft sowie die Auflage eines Bau- und Nachverdichtungsprogramms zur Verdoppelung des kommunalen Wohnungsbestandes. Die Reaktion der Politik bisher: aussitzen und hinhalten.
rm
Wo Mieterverein und Initiativen sich ergänzen –
Unterschiedliche Ressourcen, das gleiche Ziel
Seit 40 Jahren stehen Mieterverein und Bürgerinitiativen in Kontakt und tauschen sich aus. Auch wenn es Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit und unterschiedliche Bewertungen von politischen Situationen gab – die Verbindung hat gehalten. Heute ist sie belastbarer denn je. Nutzen und Erfolg aus dieser Kooperation ziehen beide Seiten.
Als sich im Juni vergangenen Jahres Mietervereine und mietenpolitische Initiativen beim Deutschen Mieterbund (DMB) an einen Tisch setzten, um ein engeres Zusammengehen zu beraten, war das kein Start vom Nullpunkt aus – „… natürlich nicht“, so Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins entschieden. „Als ich beim Mieterverein im Januar 1981 angefangen habe, war ich Kontaktmann zu den Mieterinitiativen, die es damals ja auch schon in Berlin gab.“ Wie etwa das Schöneberger Projekt „Stadtteilnähe“, für das der studierte Soziologe Wild ehrenamtlich arbeitete. Der Mieterverein setzte frühzeitig auf ein Zusammengehen mit Initiativen und aktiven Protestlern, beispielsweise mit den Hausbesetzern, die sich ab Ende der 70er Jahre gegen Abriss wehrten, oder Mitte der 1980er Jahre beim Kampf um den Erhalt der Mietpreisbindung in West-Berlin.
Reiner Wild: „Schnittstellen zwischen unserem Verein und Initiativen waren über Jahrzehnte hinweg immer vorhanden – aber die Zusammenarbeit hatte ihre Höhen und Tiefen.“ Da die Probleme am Berliner Wohnungsmarkt nicht zu allen Zeiten gleich ausgeprägt waren, wurde ihre Brisanz oft unterschiedlich eingeschätzt. Und das von beiden Seiten. Matthias Bernt, Mitinitiator von „Wir bleiben alle“, erinnert sich, dass der BMV für die Aktivisten aus den Ost-Berliner Bezirken in den 90ern kein wirklicher Partner war: „Wir fanden: Mietervereine sind zu wenig aktionistisch, agieren lobbymäßig und viel zu konservativ. Um es auf den Punkt zu bringen: Wir fanden die langweilig.“ In einem allerdings war der Berliner Mieterverein den WBA-Vorkämpfern eine Hilfe: „Seine Rechtsberater haben uns damals von einem Mietenstreik abgeraten – völlig zu Recht: Wir hätten nicht die Struktur gehabt, die Menschen vor Zwangsräumungen schützen zu können.“
Juristische Expertise ist eine Ressource, über die Vereine wie der BMV verfügen. Von ihrer Professionalität profitieren nicht nur einzelne Ratsuchende – auch Initiativen kann sie von Nutzen sein, zum Beispiel im Kampf gegen große Vermieter, die oft einen ganzen Stab von Anwälten im Rücken haben. Dazu knüpfen Mietervereine und -vertretungen langfristig Netzwerke, die sowohl in die Politik wie in die Verwaltung hineinreichen. Und sie verfügen über Möglichkeiten, die sich temporäre Initiativen nicht von heute auf morgen erschließen können, so etwa materielle und technische Ressourcen und die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit.
Als sich die Mai-Ausgabe des MieterMagazins 2015 am Auftakt des Mietenvolksentscheids beteiligte, erreichten Informationen und Unterschriftenliste sofort alle BMV-Mitglieder – mit einem Schlag über einhunderttausend Berliner Haushalte. Jan Kuhnert, Mitinitiator des Mietenvolksentscheides: „Damit kamen wir in Kreise der Berliner Bevölkerung, die sich uns anders nicht erschlossen hätten.“
Die Unterstützung von Initiativen bei der Organisation und Durchführung ihrer Aktionen, die in Berlin seit dem Mietenvolksentscheid selbstverständlicher und kontinuierlicher geworden ist, bringt auch dem Mieterverein ein großes Plus, davon ist Reiner Wild überzeugt: „Würden wir uns auf die Mietrechtsstreitigkeiten von Mietern und Vermietern beschränken, liefe vieles an uns vorbei. So aber sind wir immer an den wohnungspolitischen Problemen in dieser Stadt hautnah dran.“ Gemeinsam könnten Verein und Initiativen verhindern, dass ein Konflikt auf einen Einzelfall reduziert wird.
Dass sich viele Menschen mit ihren Mietproblemen in Berlin nicht mehr alleine fühlen, demonstriert das Bündnis „Gemeinsam gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn“, eine Allianz, die Initiativen mit unterschiedlichen Zielen und Interessen erfasst. Was sie vereint, ist ihr Wille, der Verdrängung entschlossen entgegenzutreten. Anfangs, so Kim Meyer, einer der Organisatoren des Aktionsbündnisses, hätten viele den Mieterverein für zögerlich gehalten. Aber das habe sich geändert. Auch weil der Verein sich deutlicher politisch positioniere: „Dass er eine Bewegung wie ‚Deutsche Wohnen & Co enteignen‘ unterstützt – das wäre vor ein paar Jahren nicht denkbar gewesen.“
Rosemarie Mieder
40 Jahre beim Berliner Mieterverein – Drei Fragen an Reiner Wild
Ein gemeinsamer Aktionstag – über Berlin und Deutschland hinaus
Tausende Menschen trafen sich am 6. April 2019 auf dem Berliner Alexanderplatz, um gegen die dramatischen Entwicklungen am Berliner Wohnungsmarkt zu demonstrieren. Dazu aufgerufen hatte das „Bündnis gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn“, dem damals bereits an die 300 verschiedene Gruppen und Organisationen angehörten: Nachbarschafts- und Mieterinitiativen, Kiez- und Familienzentren, Sozial- und Kultureinrichtungen, Hausgemeinschaften, selbstverwaltete Projekte, Wohnungslosenhilfen, Gewerkschaften, stadtpolitische Netzwerke und der Berliner Mieterverein. Dessen klare Aussage zur wohnungspolitischen Misere: „Wo es um Grund und Boden geht, muss der freie Zugriff auf den Markt eingeschränkt werden.“
Die Proteste fanden nicht nur in Berlin statt, sondern waren zeitgleich auch in 22 anderen deutschen Städten und in 16 europäischen Metropolen organisiert worden.
Die Mietendemo in Berlin war zugleich Auftakt für „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, das Volksbegehren zur Enteignung großer Wohnkonzerne mit mehr als 3000 Wohnungen im Bestand. Es richtet sich gegen 12 privatwirtschaftliche Unternehmen mit rund 240.000 Wohnungen, die rund 15 Prozent des gesamten Mietwohnungsbestandes der Hauptstadt ausmachen.
rm
Ein Gespräch mit der Stadtforscherin Lisa Vollmer –
Allianzen erhöhen den politischen Druck
Proteste gegen Mietwucher und Verdrängung gibt es seit über 100 Jahren. Aber nur wenn sie sich lautstark Gehör verschaffen und Druck aufbauen, kann die Politik sie nicht einfach ignorieren. Möglich wird das durch eine Vielfalt der Aktionen, den Schritt in die Öffentlichkeit – und breite Allianzen.
MieterMagazin: Seit es einen kapitalistischen Wohnungsmarkt gibt, wehren sich Menschen gegen Mietwucher und Verdrängung. Was facht die Proteste immer aufs Neue an?
Lisa Vollmer: Es ist die kapitalistische Wohnraumproduktion, die zu einem eklatanten Widerspruch führt: Einerseits ist der Wohnraum eine Ware, andererseits ist das Zuhause ein menschliches Grundbedürfnis. Das ist heute nicht anders, als es im 19. Jahrhundert war. Eine Folge des kapitalistischen Wohnungsmarktes ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum für untere Einkommensschichten, weil sich deren Versorgung für Investoren finanziell nicht lohnt. Gleichzeitig folgen daraus auch schlechte Lebensverhältnisse: Zu Kaisers Zeiten war es das „Trockenwohnen“. Heute ist es die mangelnde Instandhaltung. Beides verhilft Vermietern zu zusätzlichen Einnahmen. Und das gab und gibt immer wieder Anlass für Aufbegehren: gegen Mietsteigerungen, Zwangsräumungen oder auch ungesunde und unzumutbare Wohnverhältnisse.
MieterMagazin: Haben sich die Proteste in der Gesellschaft immer Gehör verschaffen können?
Lisa Vollmer: Durchaus nicht. Ich würde sagen, sie sind dann am ehesten wahrgenommen worden, wenn nicht nur die ärmsten Schichten betroffen waren. Die werden ja permanent durch den Mangel an Wohnungen und seine Folgen belastet. Aber trifft es auch die mittleren Schichten und gelingt es, Allianzen zu schmieden, ist die Aufmerksamkeit viel, viel größer. So war es nach Krisenzeiten, etwa nach den Weltkriegen, der Weltwirtschaftskrise 1929 und der Finanzkrise 2008.
Es gibt aber auch Faktoren innerhalb der Protestbewegung, die eine Rolle spielen: Wie gut gelingt es, das Problem als ein strukturelles darzustellen? Bleibt es beim Protest gegen einzelne Fälle, etwa von Mietwucher, oder wird auf den gesellschaftlichen Hintergrund aufmerksam gemacht?
MieterMagazin: Und so wird der Protest letztlich auch erfolgreicher?
Lisa Vollmer: Ganz genau. Dann kommt auch die Politik nicht mehr daran vorbei. In Deutschland ist das in den letzten zehn Jahren zunehmend der Fall. Nicht, dass es vorher keine Wohnungsprobleme gab – in Hamburg oder München beispielsweise war die Situation am Wohnungsmarkt schon viel länger dramatisch. Sicher hat es Proteste dagegen gegeben. Aber die wurden kaum beachtet. Das gelingt erst, wenn eine bestimmte Schwelle der öffentlichen Wahrnehmung überschritten wird, etwa mithilfe der Medien. Auch die Vielfalt in den Initiativen, ihre Originalität und der Ideenreichtum der Aktionsformen sind ausschlaggebend. In Berlin besetzen Seniorinnen und Senioren ihren Klub – und Linksradikale sammeln Unterschriften für Gesetzesänderungen. Die Akteure könnten unterschiedlicher kaum sein, dennoch gehen sie zusammen auf die Straße.
MieterMagazin: Etablierte Mieterorganisationen haben sich daran lange nicht beteiligt. Sind sie für einen solchen politischen Kampf zu träge?
Lisa Vollmer: Die Speerspitze der Bewegung sind sie jedenfalls nicht. Aber es fragt sich: Hat eine strukturierte, in Gremien und Ortsgruppen organisierte Arbeit nicht auch Vorteile? Entscheidungen fallen zwar nicht ganz so schnell, dafür sind sie demokratisch legitimierter, als das bei Initiativen der Fall ist. Mietervereine gehen den Weg des Gesetzes und haben das juristische Handwerkszeug, rechtliche Mittel auszuschöpfen. Damit sind sie unverzichtbare und von der Politik anerkannte Interessenvertretungen für Mieterinnen und Mieter. Ihre Arbeit ist langfristig orientiert und funktioniert auch zuverlässig in Zeiten, wo es nicht notwendig ist, auf die Straße zu gehen.
MieterMagazin: Ist das nicht eine Strukturiertheit und Professionalität, die der Protestbewegung nutzen könnte?
Lisa Vollmer: Ja – und dass es so ist, haben Berlin und auch München bewiesen, wo Mietervereine etwa Mietenvolksentscheide unterstützen. Leider gibt es das in vielen anderen Städten so noch nicht. Da herrschen auf beiden Seiten Bedenken, Vorurteile, sogar Unverständnis. Dabei können erfahrene Lobbyarbeit auf der einen und schnelles konfliktbezogenes Agieren auf der anderen Seite erfolgversprechend miteinander verknüpft werden.
MieterMagazin: Und das baut den notwendigen Druck auf, um die Politik zu einem Umsteuern in der Wohnungspolitik zu bewegen?
Lisa Vollmer: Von selbst passiert jedenfalls gar nichts. In Berlin ist es gelungen, Druck aufzubauen und Massen zu mobilisieren: Über 70.000 Unterschriften für einen Volksentscheid in kürzester Zeit, 40.000 Menschen auf einer Mietendemo – die lassen sich nicht mehr als Chaoten abtun oder als Fortschrittsverweigerer.
Aber solche Proteste für eine sozialere Wohnpolitik bleiben immer noch lokal beschränkt. Sie finden vor allem in wachsenden Städten statt. Der ländliche Raum, in dem es ja auch genügend Wohnprobleme gibt, ist davon noch gar nicht erfasst. Solange dies nicht gelingt, werden Proteste auf Bundesebene kaum gehört. Dort jedoch liegen wichtige Gesetzgebungskompetenzen. Eine Zusammenarbeit zwischen den angeblich „trägen Tankern“ der Vereine und Organisationen und den schnellen Akteuren der Initiativen könnte dafür sorgen, dass das Problem Wohnen endlich auch die Spitzen der Politik erreicht.
Das Gespräch führte Rosemarie Mieder.
Forschungsfeld: Mieterbewegungen
Die Wohnungs- und Stadtforscherin Lisa Vollmer arbeitet am Institut für Europäische Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt sie sich mit Bewegungen von Mieterinnen und Mietern vom 19. Jahrhundert bis heute. So untersuchte sie beispielsweise mietenpolitische Proteste in Berlin und New York, die sich gegen steigende Mieten und Verdrängung zur Wehr setzen. Sie ist außerdem aktiv bei der stadtpolitischen Initiative „Stadt von Unten“ in Berlin.
18.03.2021