In der DDR gab es vergleichsweise wenige prominente Architekt:innen. Im stark genormten Wohnungsbau war ihre Rolle weniger hervorgehoben, da sie meistens mit Bauingenieur:innen und Städtebauer:innen zusammenarbeiteten und als Kollektiv auftraten. Wolf Rüdiger Eisentraut war jedoch herausragend – nicht nur wegen seiner Körperlänge. Der Architekt, der vor allem in Marzahn seine Spuren hinterlassen hat, feierte kürzlich seinen 80. Geburtstag.
Wenn Wolf Rüdiger Eisentraut durch die Lande fährt, trifft er überall auf seine Erzeugnisse. Am Anfang seines Berufslebens hat er an der Entwicklung der Wohnungsbauserie 70 (WBS 70) mitgearbeitet, dem Plattenbaustandard, mit dem in der DDR die meisten Wohnungen gebaut wurden. „Ich habe da so ein waagerechtes Fenster für das Treppenhaus entworfen“, erzählt er. „Für ein Haus dachte ich, das müsste man mal probieren.“ Wenn er jetzt durch die ehemalige DDR fahre, von Sassnitz über Marzahn bis Plauen – überall sieht er das kleine Fenster. Eisentraut: „Dafür schäme ich mich eigentlich.“ Als Architekt hat er sich nämlich immer dagegen gewehrt, nach einem vorgegebenen Schema zu bauen. Seine Berufsehre – so sagt er – habe es ihm verboten, einfach nur Typenbauten hinzustellen. Wohnungsbau war für ihn „Konfektion, aber nicht von der Stange“.
Schon sein Vater Werner Eisentraut war Architekt. Wolf Rüdiger wurde am 1. Dezember 1943 geboren und wuchs in Plauen auf. Weil ihm wegen seiner bürgerlichen Herkunft der Zugang zum Studium zunächst verwehrt war, begann er 1962 eine Maurerlehre, bevor er doch noch an der Technischen Universität Dresden zugelassen wurde.
Das Architektur-Studium hatte seinerzeit eine ungewisse Perspektive. Die DDR setzte voll auf das industrialisierte Bauen und steckte schon mitten in der Umstellung auf den Montagebau. Da kam durchaus die Frage auf, ob man überhaupt noch Architekt:innen braucht.
Taktieren von Henselmann gelernt
Nach dem Studium ging Eisentraut 1968 nach Berlin und arbeitete drei Jahre lang in der Experimentalwerkstatt des einflussreichen Architekten Hermann Henselmann. Von ihm lernte er nach eigenem Bekunden „das clevere strategische Taktieren“, das im Umgang mit staatlichen Stellen sehr nützlich war. Anschließend war er am Institut für Wohnungsbau der Bauakademie an der WBS-70-Entwicklung beteiligt. Dieser Plattenbaustandard war wesentlich flexibler und variabler als die vorherigen Normen QP oder P2 und verdrängte bald alle anderen Bauformen im Wohnungsbau.
Von 1973 bis 1976 arbeitete Wolf Rüdiger Eisentraut am Palast der Republik mit. Danach entwarf er die Körperbehindertenschule in der Paul-Junius-Straße. Der Bau aus vorgefertigten Stahlbetonteilen war das erste Terrassenhaus Ost-Berlins.
In den 80er Jahren verlegte er seine Wirkungsstätte weitgehend nach Marzahn. Mit der Schaffung eines komplett neuen Stadtbezirks wollte die SED ihr Vorhaben, das Wohnungsproblem bis 1990 zu lösen, in die Tat umsetzen. Die Wohnhäuser wurden fast ausschließlich aus WBS-70-Großtafeln montiert.
Zwänge waren eine ganz besondere Herausforderung
Von 1981 bis 1988 war Eisentraut Komplexarchitekt für das Marzahner Zentrum. Mit rund 80 Mitarbeiter:-innen war er für die Gestaltung der Marzahner Promenade, des Helene-Weigel-Platzes, der Ringkolonnaden und weiteren „Gesellschaftsbauten“ zuständig. Dabei gab er sich nicht damit zufrieden, die genormten Typengebäude nach dem vorgegebenen Bauprogramm auf dem Plan zu verteilen. Stattdessen kombinierte er beispielsweise für das Freizeitforum Marzahn drei Typenbauten zu einem großen Kulturhaus. Auch das Rathaus Marzahn ist in industrieller Bauweise errichtet, wirkt aber nicht wie ein schematischer Plattenbau. Die Marzahner Promenade gestaltete Eisentraut als Geschäftsstraße, indem er an die Wohnhäuser Ladenvorbauten anfügte. Das Gehwegpflaster, die Sitzbänke und Laternen wurden passend dazu geplant, aber all diese Extras mussten der Planbürokratie mit viel Verhandlungsgeschick abgerungen werden. Eisentraut erwarb sich dafür den Ruf, ein „Meister der individuellen Platte“ zu sein. „Er gehörte zu der Generation von DDR-Architekten, deren Kreativität nicht an den bauindustriellen Sachzwängen scheiterte, sondern durch diese erst herausgefordert wurde“, sagte rückblickend Günter Peters, der frühere Stadtbaudirektor von Ost-Berlin. Eisentraut selbst resümiert: „Mit dem Ende der DDR ist mir ein ständiger Gegner, der staatlich verordnete Typenbau, verloren gegangen. Der Kampf hatte mich zu immer neuen Ideen und Schachzügen motiviert.“
Nach der Wende wurde er 1990 der erste und letzte freigewählte Präsident des Bundes der Architekten der DDR. Als freischaffender Architekt plante er nun Umbauten von Gründerzeithäusern, entwarf Mietwohnhäuser und Eigenheime in Ost und West. Im Harz leitete er den Umbau des Brocken-Hauses. In seiner Heimatstadt Plauen gab er der Platte im Jahr 2005 eine neue Individualität: Sein Konzept bestand im Rückbau der Obergeschosse von Plattenbauten und dem anschließenden Bau von Einfamilienhäusern mit den wiederverwendeten WBS-70-Elementen.
Bis heute engagiert sich Wolf Rüdiger Eisentraut für Marzahn – vor allem gegen die fortschreitende Entwertung und drohende Abrisse. Durch das neue Einkaufszentrum Eastgate ist die Marzahner Promenade in eine Hinterhofsituation geraten. Verschwunden sind unter anderem das Kaufhaus am Helene-Weigel-Platz, die Ringkolonnaden, die Galerie M und mehrere Wohngebietsgaststätten. Auch der baldige Abbruch des Kinos Sojus ist beschlossene Sache. Immerhin steht das Rathaus Marzahn seit 2008 unter Denkmalschutz.
2018 hat Wolf Rüdiger Eisentraut sein Büro nach 50 Jahren Architektentätigkeit aufgelöst. Er wird bis heute nicht müde, das Bauen in der DDR und speziell in Marzahn zu verteidigen – nie verbissen und immer humorvoll.
Jens Sethmann
Buch und Ausstellung zum Achtzigsten
Zum 80. Geburtstag hat Wolf Rüdiger Eisentraut sich selbst ein Buch geschrieben. Autobiografisch beschreibt er zwei Architektenleben in einer Person: eines in der DDR und eines im vereinigten Deutschland. In lockerem Ton schildert er sein eigenes „Werden und Wirken“ und die gleichzeitigen Entwicklungen im Bauwesen in der DDR, in der Bundesrepublik und besonders in Berlin. Er erzählt von politischen und wirtschaftlichen Zwängen und wie man trotzdem noch eine ansprechende Architektur schaffen kann. Lust und Frust des Architektenlebens in zwei Gesellschaftsordnungen – bei Wolf R. Eisentraut hatte meistens die Lust die Oberhand.
Das Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf widmet dem Jubilar eine Ausstellung, die mit Fotos, Texten, Skizzen, Modellen und Videos sein Leben und Werk anschaulich nachzeichnet. Ein besonderes Augenmerk liegt hier natürlich auf Marzahn. Nach dem Besuch der Ausstellung versteht man besser, wie der Bezirk bis 1989 geworden ist, was er ist – und was seither wieder verlorengegangen ist.
js
Ausstellung
„Zweifach war des Bauens Lust – Der Architekt Wolf R. Eisentraut“, Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf, Alt-Marzahn 51, Montag bis Freitag 10 bis 18 Uhr, bis 3. November 2024, Eintritt frei
Buch
Wolf R. Eisentraut: Zweifach war des Bauens Lust – Architektur Leben Gesellschaft, Berlin 2023, 40 Euro
30.03.2024