Nach dem Ende der Nazidiktatur und des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren sollte ein neues Berlin entstehen, schöner und lebenswerter als zuvor. Die ersten Wiederaufbaupläne von 1946 hätten dem zertrümmerten Berlin ein völlig neues Erscheinungsbild gegeben. Der Wiederaufbau begann 1949, allerdings ohne einheitlichen Plan. Ost- und West-Berlin gingen auch im Wiederaufbau getrennte Wege.
Schon wenige Tage nach der Kapitulation setzte der sowjetische Militärkommandant Nikolai Bersarin einen zivilen Magistrat zur Verwaltung Berlins ein. Zum Stadtrat für das Bau- und Wohnungswesen wurde am 17. Mai 1945 Hans Scharoun ernannt. Scharoun hatte während der Weimarer Republik zu den herausragenden modernen Architekten gehört.
Er bildete ein achtköpfiges Planungskollektiv aus Architektinnen und Architekten, Ingenieuren und Gartenplanern, das sofort mit einer Gesamtplanung für ein „Neues Berlin“ begann. Die Stadt sollte eine radikal neue Struktur erhalten: Entlang der Spree wollte man parallel liegende Funktionsbänder anordnen, die säuberlich nach Wohnen und Arbeiten getrennt waren. Gegliedert wurde die Bandstadt durch ein Gitter von kreuzungsfreien Schnellstraßen. In dieses Raster sollten hohe und niedrige Wohngebäude locker in die Stadtlandschaft hineingestreut werden. Der „Kollektivplan“ hätte eine völlige Abkehr vom bisherigen Berliner Stadtgefüge mit seinen sternförmig zum Zentrum führenden Radialstraßen und den Ringstraßen, mit seinen geschlossenen Häuserfronten und der Nutzungsmischung in den Kiezen bedeutet.
Zerstörung als Chance
Wie viele Architekten seiner Zeit betrachtete Scharoun die Zerstörung Berlins als Chance: „Die mechanische Auflockerung durch Bombenkrieg und Endkampf gibt uns jetzt die Möglichkeit einer großzügigen organischen und funktionellen Erneuerung“, sagte er 1946 im Bauwirtschaftsausschuss des Magistrats. „Teil- oder Totalzerstörungen bieten die Möglichkeit, Blöcke zu öffnen, zu durchlüften, der Sonne Zutritt zu den Wohnungen zu geben“, erklärte Scharoun. „Es kommt also im Augenblick nicht darauf an, das liebe altvertraute Straßenbild recht schnell wieder hinzuzaubern.“ In der Innenstadt sollten nur wenige historische Plätze wie der Gendarmenmarkt, Unter den Linden oder die Schlossstraße in Charlottenburg erhalten bleiben.
Der Kollektivplan wurde im August 1946 in der Ausstellung „Berlin plant“ im Stadtschloss der Öffentlichkeit vorgestellt. Neben der Faszination, auf den Trümmern tatsächlich etwas völlig Neues erschaffen zu können, wurde aber auch deutliche Kritik laut. Besonders das Schnellstraßenraster zog Unmut auf sich. Der Bauingenieur Ernst Randzio machte außerdem auf den Wert der unter den Straßen liegenden Versorgungsleitungen aufmerksam. Das „unterirdische Berlin“ war anders als die oberirdische Stadt nur zu 1,2 Prozent zerstört. Bei der Anlage eines neuen Straßennetzes hätte man auch neue Leitungen für Kanalisation, Wasser-, Gas- und Stromversorgung verlegen müssen. „Wenn die unterirdischen Anlagen für Planung und Wiederaufbau nicht genügend berücksichtigt werden, können im Gegensatz zum oberirdischen Bauen Fehler entstehen, die nie mehr wieder gutzumachen sind“, mahnte Randzio.
Auch aus der Politik gab es Kritik am Kollektivplan. Ein Fachausschuss der SPD bemängelte, dass die Pläne „alle Grenzen des Möglichen überschreiten und völlig übersteigerte Ziele verfolgen“. Nach der Neuwahl der Stadtverordnetenversammlung schied Hans Scharoun am Jahresende 1946 aus dem Amt.
Die Realität ließ den Kollektivplan tatsächlich utopisch erscheinen. Es galt zunächst, beschädigte Wohnhäuser wieder herzurichten, damit die Menschen ein Dach über dem Kopf bekamen. Bis 1948 konnten erst 60.000 unbewohnbare Wohnungen wiederhergestellt werden. Für den Bau neuer Wohnungen fehlten Baustoffe, Baumaschinen, Bauarbeiter, verfügbare Grundstücke, Baugesetze und vor allem Geld. Der Neubau belief sich von 1945 bis 1948 auf nur 113 Wohnungen.
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Behindert wurde der Aufbau auch durch die politische Teilung Berlins. Die Einführung einer neuen Währung sollte die Banken wieder arbeitsfähig machen und die Wirtschaft in Schwung bringen. Doch nachdem die West-Alliierten in ihren Sektoren die westdeutsche D-Mark als Zahlungsmittel eingeführt hatten, blockierte die Sowjetunion ab Juni 1948 den Warenverkehr in den Westteil Berlins. Während der fast elfmonatigen Berlin-Blockade wurden die Einwohner über die Luftbrücke versorgt. Erst nach dem Ende der Blockade im Mai 1949 konnten Baumaterialien auf dem Landweg nach West-Berlin geliefert werden. Der Aufbau kam daraufhin in Fahrt, nun allerdings in Ost und West getrennt unter zwei Stadtregierungen, in verschiedenen Wirtschaftssystemen, mit verschiedenen Währungen und bald auch mit unterschiedlichen Vorstellungen vom neuen Berlin.
Ulbricht: „Keine amerikanischen Kästen“
Ost-Berlin distanzierte sich schnell vom Kollektivplan, auf dessen Grundlage anfangs noch ein detaillierter Entwurf für eine „Wohnzelle Friedrichshain“ ausgearbeitet worden war. Nachdem aber 1950 die ersten Zeilenbauten zwischen Gubener und Lasdehner Straße errichtet worden waren, fällte Walter Ulbricht ein vernichtendes Urteil: Die Architekten hingen „kosmopolitischen Phantasien“ nach und bauten Häuser, „die ebensogut in die südafrikanische Landschaft passen“, so der Erste Sekretär der SED. „Wir wollen in Berlin keine amerikanischen Kästen und keinen hitlerschen Kasernenstil mehr sehen.“ Statt dessen sollten die Baumeister in „monumentalen Bauten die Kraft und die Stärke des Aufbauwillens und der großen Zukunft Deutschlands“ zum Ausdruck bringen.
In der Folge entwickelten die Architekten des Prestigeprojekts Stalinallee, allen voran Hermann Henselmann, einen neuen Stil der „nationalen Tradition“ mit klassizistischem Einschlag. Das sowjetische Vorbild des „Zuckerbäckerstils“ war nicht zu übersehen. Mit rund 2800 Wohnungen fiel die „erste sozialistische Straße“ zahlenmäßig nicht groß ins Gewicht, hatte aber als Aushängeschild für das „Nationale Aufbauprogramm“ einen großen propagandistischen Erfolg. Ab 1955 wandte sich die DDR aus Kostengründen dem industrialisierten Bauen zu. Die Entwicklung von Typengrundrissen und genormten Bauteilen führte schließlich zur Plattenbauweise, die das Bauen in der DDR ab den 60er Jahren geprägt hat.
Im Westen scheiterte der Kollektivplan letztlich an der Frage des Grundeigentums. Der radikale Neuaufbau wäre nur mit umfangreichen Enteignungen möglich gewesen. Nach dem 1949 beschlossenen Grundgesetz der Bundesrepublik mochte im Westen niemand mehr den privaten Grundbesitz antasten – auch um sich gegen die DDR abzugrenzen.
Abgrenzung und Konkurrenz
Im Jahr 1949 konnten in West-Berlin zwar 11.000 Wohnungen wieder bewohnbar gemacht werden, neu gebaut wurden jedoch nur 2500. Nennenswerte Gelder für den Aufbau standen hier erst durch den Marshallplan ab 1950 zur Verfügung. Das Ziel, jährlich 20.000 Wohnungen neu zu bauen, wurde ab 1955 erreicht. Rund 90 Prozent aller in den 50er Jahren gebauten Wohnungen waren öffentlich geförderte Sozialwohnungen.
Die Stalinallee setzte den Westen unter Zugzwang. Die erste neue Wohnsiedlung des Westens war die 1954 fertiggestellte Ernst-Reuter-Siedlung an der Ackerstraße im Wedding, ganz nah an der Sektorengrenze. Das eigentliche Gegenstück zur Stalinallee bildete das neue Hansaviertel, das im Rahmen der Bauausstellung Interbau 1957 von namhaften Architekten aus dem In- und Ausland in betont modernen Formen gebaut wurde. Hans Scharoun bekam 1955 die Gelegenheit, bei der Erweiterung der Siemensstadt in Charlottenburg-Nord sein Konzept der Wohnzelle umzusetzen. Ansonsten blieb der Kollektivplan unverwirklicht.
Jens Sethmann
Städter zu Kleinbauern?
Um den Bevölkerungsdruck von den Städten zu nehmen, versuchten die Besatzungsmächte und die deutschen Bauverwaltungen in Ost wie West, die Evakuierten und Heimatvertriebenen zum Siedeln auf dem Lande zu motivieren. Dort konnten sie sich durch Gartenbau und Kleintierhaltung in bescheidenem Maße selbst mit Lebensmitteln versorgen. Platz zum Bauen und Baumaterial war viel leichter zu beschaffen als in den Städten. Broschüren und Anleitungen warben für das Selbstbauen von Siedlungshäusern in traditioneller Lehmbauweise. Unter Berlinern hatten diese Kampagnen jedoch wenig Erfolg. Sie strebten zurück in ihre Stadt.
js
27.11.2020