Der Bezirk Mitte hat einen Deal mit dem Eigentümer des Gebäudekomplexes in der Habersaathstraße 40–48 in Mitte geschlossen. Um einen Präzedenzfall im Sinne der Beschlagnahmung leerstehender Wohnungen nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) handelt es sich also nicht. Vorübergehend können nun Obdachlose dort wohnen, doch die Unterbringung hat ihren Preis, denn der Abriss des Wohnhauses ist nicht vom Tisch.
Im Oktober 2020 sorgte die Besetzung leerstehender Wohnungen in einem Gebäudekomplex in der Habersaathstraße in Mitte erstmals für Schlagzeilen. Koordiniert hatte die Aktion die Initiative Leerstand Hab-ich-saath. Doch die Besetzung scheiterte, weil die Polizei das Gebäude räumte. Die wohnungslosen Besetzer:innen mussten das Gebäude wieder verlassen. Im Dezember 2021 besetzten Wohnungslose der Initiative die leerstehenden Wohnungen erneut. Und diesmal schaltete sich Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) ein. 54 Personen konnten schließlich noch vor Silvester 2021 in die Habersaathstraße 40–48 einziehen.
Von Dassel hatte die Verhandlungen mit dem Geschäftsführer der Eigentümergesellschaft, Dr. Andreas Pichotta, über die Unterbringung der Wohnungslosen im Sinne der Initiative führen können. Unklar ist, wie lange die neuen Bewohner:innen bleiben können – und welcher Deal dahintersteckt. Denn die Diskussion um den geplanten Abriss des intakten Hauses mit insgesamt 106 Wohnungen geht weiter.
Hohe Aufmerksamkeit in den Medien
Der Wohnkomplex ist wegen des „ewigen“ Leerstands und seiner „hartnäckigen Hausbesetzer:innen“ längst bekannt. Alle drei Spielarten der Zweckentfremdung von Wohnraum liegen seit mindestens drei Jahren vor: Leerstand, gewerbliche Nutzung von Wohnraum als Ferienwohnungen und der geplante Abriss. Zu verlockend ist die Lage des Grundstücks, zu lukrativ erscheint dem Eigentümer der Plan, an der Stelle des ehemaligen Schwesternwohnheims der Charité einen schicken Neubau mit hochpreisigen Wohnungen zu errichten.
Acht verbliebene Mietparteien harren hier nach einer schikanösen Phase der Entmietung aus – kämpfen für ihre Wohnungen, für ihr Zuhause und ihren Kiez. Stetig sorgen sie dafür, dass die mediale Aufmerksamkeit auf die etwa 85 leerstehenden und zum Teil bezugsfertigen Wohnungen gerichtet bleibt – und auf die Ignoranz des Vermieters gegenüber Mängeln und verschleppter Instandhaltung.
Der Eigentümer will weiter den Abriss
Auch nach dem Deal mit dem Bezirksbürgermeister ist der Abriss nicht vom Tisch. Vielmehr stehe die Duldung der vorübergehenden Unterbringung der Obdachlosen mit dem Abriss selbst in Zusammenhang, heißt es aus dem Umfeld der Beteiligten. Die Verhandlungen über den Abriss des kleinen Plattenbaus laufen weiter, es gehe nur noch um Details, unter welchen Bedingungen der Neubau entstehen darf. So soll der Eigentümer ein Drittel der neuen Wohnungen danach zu „sehr günstigen Preisen“ vermieten, berichtet die Berliner Zeitung. Auch dürfe der Bezirk über zehn Jahre hinweg entscheiden, wer in die günstigen Wohnungen einzieht. Die verbliebenen Mieter:innen sollen ein Rückkehrrecht bekommen, die jetzt dort lebenden Obdachlosen würden vom Bezirk entsprechend untergebracht.
Ein fragwürdiger Deal, der den Erfolg der Initiative Leerstand Hab-ich-saath nicht schmälern darf. In mühevoller Kleinstarbeit hatte die Initiative den Kontakt zu den Obdachlosen gepflegt – die Aktivist:innen der liebevoll „Arbeitsgruppe Platte“ genannten Gruppe sprachen mit den Menschen auf der Straße. Knapp 60 Wohnungslose haben nun für diesen Winter – voraussichtlich auch etwas länger – ein menschenwürdiges Zuhause. Nur gemeinsam, als Initiative, konnten sie das erreichen.
Die temporäre Unterbringung verschafft Zeit
Der temporäre Einzug ist für die obdachlosen Menschen zumindest ein Zeitgeschenk, das Chancen auch abseits der Zukunft des Gebäudekomplexes bietet. Sie haben die Möglichkeit, bürokratische Hürden zu meistern, Behördengänge wahrzunehmen oder Ausweispapiere zu besorgen. Aktivist:innen der Initiative Leerstand Hab-ich-saath betonten, dass das Sozialamt Mitte beim Einzug sehr kooperativ war und die Menschen in Eins-zu-eins-Betreuung aufgenommen habe. Das Berliner Housing-first-Modellprojekt und der Verein Neue Chance sind als soziale Beratungseinrichtungen beteiligt und stehen den neuen Bewohner:innen vor Ort zur Verfügung.
Dennoch: Vor dem Hintergrund des erheblichen Instandhaltungsstaus, der dem Eigentümer anzulasten ist, der drohenden Vernichtung preiswerten Wohnraums sowie der negativen Folgen von Abriss und Neubau für das Klima ist ein Quidproquo-Deal des Bezirks mit dem Eigentümer nicht zu begrüßen. Warum die Bauaufsicht im Bezirk nicht bereits die Instandhaltungspflicht nach Paragraf 14 der Berliner Bauordnung eingefordert hat, bleibt ebenso offen wie die Frage, wie der Bezirksbürgermeister nun mit der einstigen politischen Entscheidung in der Bezirksverordnetenversammlung am 18. Juni 2020 für den Erhalt des Bestands in der Habersaathstraße 40–48 umgehen wird.
10.07.2023