Mietsteigerungen, Kündigungen, Wohnungsnot – die Probleme von heute beschäftigten Mieter:innen bereits vor 150 Jahren. Einige Hundert von ihnen behalfen sich mit eigens gezimmerten Bretterbuden vor den Toren der Stadt. Ein Einblick in andere Zeiten.
Viele unserer Kolleg:innen sind neben ihrer Tätigkeit beim Berliner Mieterverein auch in anderen Vereinen und Organisationen aktiv. Eine von ihnen ist unsere Kollegin Nicole, die sich bei der Berliner Geschichtswerkstatt engagiert. Sie brachte uns eine Episode der Berliner Mietenbewegung ins Gedächtnis, die zwar schon 150 Jahre zurückliegt, aber Probleme betrifft, mit denen auch Mieter:innen heute zu kämpfen haben: Spekulation mit Wohnraum, Wohnungsmangel und Mietsteigerungen. Damals spitzte sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt für Mieter:innen derart zu, dass diese in Landbesetzungen ein letztes Mittel sahen, um einen Platz zum Leben zu finden.
Berlin boomt, Mieter:innen sind nahezu rechtlos
Nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich und der Gründung des Deutschen Reiches 1871 erlebte die neue Reichshauptstadt einen Boom: Die Industrie wuchs und viele Arbeitsuchende zogen nach Berlin. Was fehlte, war Wohnraum. 824.000 Einwohner:innen zählt die damalige Wohnungsstatistik, knapp ein Viertel von ihnen lebte in bedrängten Verhältnissen in Kleinwohnungen, viele mussten Schlafstellen untervermieten, um sich die steigenden Mieten leisten zu können. Mehr als 10.000 Menschen waren obdachlos.
Zweimal im Jahr säumten besonders viele Karren und Wagen voller Möbel und Hausrat die Straßen der Stadt: Jeweils zum 1. April und 1. Oktober war „Ziehtag“ – dann liefen die halbjährlich geschlossenen Mietverträge aus und Vermieter:innen nutzten die Gelegenheit, um die Mietpreise heraufzusetzen. Wer die Miete nicht mehr aufbringen konnte, musste ziehen oder wurde geräumt; im 19. Jahrhundert waren Mieter:innen nahezu rechtlos. Häufig traf es die Kinderreichen. Im April 1872 waren mehr als 200 Familien noch eine knappe Woche nach dem Ziehtag ohne feste Bleibe. In ihrer Not besetzten die neuen Obdachlosen drei Wiesen vor den Toren der Stadt: Vor dem Frankfurter Tor, dem Landsberger Tor und an der Schlächterwiese (dem heutigen Planufer am Kreuzberger Landwehrkanal) griffen sie zu Hämmern und Nägeln und errichteten eigenhändig Baracken aus Holz. Julius Rodenberg berichtete in der sozialdemokratischen Zeitschrift „Der Volksstaat“:
„Auf freiem Felde, zwischen dem Cottbusserthor und der Hasenhaide, erheben sich mitten im Kartoffel- und Ackerland eine große Zahl ärmlicher, dürftig zusammengeschlagener Bretterbuden, durch deren Dach der Regen und durch deren fingerbreite Spalten in den Wänden der Wind pfeift (…) und diese ärmlichen, erbärmlichen Buden, direkt auf der feuchten Erde aufgepflanzt, dienen einer großen Zahl von Einwohnern der kaiserlichen Residenz als Wohnstätten.“
Der Staatsapparat greift hart durch
Um zu zeigen, dass sie nicht staatsfeindlich gesinnt waren, und um eine Räumung durch die Polizei zu verhindern, hissten viele der Bewohner:innen Flaggen mit dem Reichsadler. Geholfen hat es ihnen nicht. Der „Freistaat Barackia“, wie die Siedlung am Landwehrkanal im Volksmund hieß, hatte ebenso wie die beiden anderen Siedlungen nicht lange Bestand. Bereits im Juli 1872 räumte die Polizei die Siedlung am Frankfurter Tor, einen Monat später auch die Baracken vor dem Landsberger Tor. Nachdem es infolge der ersten Räumung zu großen Tumulten in den Straßen gekommen war – die Bilanz: 102 durch Steinwürfe verletzte Polizisten, 159 durch Säbelhiebe verletzte Demonstrierende – umstellten die Polizisten die Siedlung am Landsberger Tor mitten in der Nacht, transportierten die Möbel ab und zerstörten die Unterkünfte.
Ein Grund für das harte Durchgreifen der Staatsbeamten war vermutlich das bevorstehende Drei-Kaiser-Treffen zwischen Kaiser Wilhelm I., dem österreich-ungarischen Kaiser Franz Joseph I. und dem russischen Zaren Alexander II. Zudem befürchtete Kaiser Wilhelm I. offenbar, dass aus den Protesten gegen den Wohnungsnotstand eine Revolution erwachsen könnte. Die letzte noch bestehende Siedlung, „Barackia“ am Landwehrkanal, räumten die Behörden im Oktober 1872. Der „Volksstaat“ schrieb dazu:
„Ich bedaure zu sagen, dass die lustigen Sommerresidenzen nicht einmal den Herbst überlebt haben, trotzdem ihre Bewohner nun der Gewalt gewichen und mit ihren Petitionen zuletzt sogar bis an den Kaiser gegangen sind. Am 6. Oktober, früh gegen 6 Uhr, wurden auf Befehl der vierten Polizeihauptmannschaft die letzten Baracken auf der Schlächterwiese abgerissen. Es waren nur noch zwei bewohnte und fünf unbewohnte Baracken behufs Abbruchs der Feuerwehr übergeben worden. Alle übrigen Bewohner der Schlächterwiese hatten sich eine Wohnung zu beschaffen gewusst. Um 8 Uhr früh war nichts mehr von der ehemaligen Barackenstadt zu sehen.“
Die Siedlungen geräumt, die Probleme bleiben
Gelöst waren die Probleme damit keinesfalls. Dass es ein „Mißverhältniß zwischen dem Wohnungsbedarf und dem Angebot“ gibt, erkannte auch die Regierung. In einem Protokoll zu einer Konferenz im November 1872 hielt der Geheime Oberregierungsrat Hermann Wagener fest:
„Die Herstellung neuer Wohnungen halte mit der allgemeinen wirthschaftlichen Entwicklung nicht gleichen Schritt. Zudem habe die Spekulation sich bereits des Grunderwerbs bemächtigt und dadurch den Markt der Baustellen außerordentlich in die Höhe getrieben. Das Resultat sei die in erschreckenden Dimensionen zu Tage tretende und in vielfachen Beziehungen geradezu bedenkliche Wohnungsnoth, unter der die Arbeiter, kleinen Gewerbsleute und die Beamten am meisten litten.“
Doch aus der Erkenntnis folgte weiter – nichts: „Der Staat könne direkt wenig zur Sache thun, er könne weder selbst bauen, noch andere zu bauen verpflichten“, heißt es in dem Protokoll lapidar.
Ein Beitrag der Newsletter-Redaktion
mit Unterstützung der Berliner Geschichtswerkstatt e.V.
Zum Weiterlesen
Der Aufruhr von Mieter:innen 1872 war auch Thema im MieterMagazin 6|22.
19.07.2023