Vor 100 Jahren wurde das Berlin, wie wir es heute kennen, aus der Taufe gehoben. Damals schlossen sich 94 Gebietskörperschaften zu Groß-Berlin zusammen. Mit der weitsichtigen Fusion entstand die damals drittgrößte Stadt der Welt.
Die acht Städte Berlin, Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg, Neukölln, Lichtenberg, Köpenick und Spandau wurden mit 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken per Gesetz am 1. Oktober 1920 zusammengeschlossen. Berlin hatte damit seine Einwohnerzahl auf 3,8 Millionen verdoppelt und seine Fläche auf 878 Quadratkilometer verdreizehnfacht. Nur London und New York hatten damals mehr Einwohner. Der Fläche nach war Berlin hinter Los Angeles die zweitgrößte Stadt der Erde.
Zuvor erstreckte sich Berlin ungefähr über das Gebiet der heutigen Bezirke Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg sowie des Ortsteils von Prenzlauer Berg. Mit seinen Nachbargemeinden war die Stadt aber längst so verwachsen, dass selbst Alteingesessene die Grenzen nicht mehr wahrgenommen haben. Die Zersplitterung der Verwaltung führte aber im Alltag zu Problemen. Die einzelnen Kommunen unterhielten im Großraum Berlin 15 Elektrizitätswerke, 17 Wasserwerke, 43 Gaswerke und über 50 Kanalisationsbetriebe, deren Netze nicht aufeinander abgestimmt waren. Berlin musste außerhalb der Stadt weitläufige Rieselfelder für die Abwasserbeseitigung ankaufen. Bei den vielen Verkehrsbetrieben herrschte ein unübersichtlicher Tarifdschungel. Post, Justiz und Polizei hatten eigene Zuständigkeitsbereiche, die sich oft nicht mit den Stadtgrenzen deckten. So galt etwa auf der einen Seite der Kurfürstenstraße die Berliner Ortspolizeiverordnung, auf der anderen Seite aber die von Charlottenburg.
Die Verwaltung war zersplittert
Nüchtern betrachtet war die Bildung einer einheitlichen Stadtgemeinde dringend geboten. Dennoch gab es große Widerstände gegen einen Zusammenschluss, besonders in den westlichen und südwestlichen Vororten. Hier warben die Gemeinden mit großzügigen Villensiedlungen und niedrigen Steuern um die wohlhabenden Berliner, die gerne nach Lichterfelde, Westend oder Grunewald zogen, um der Großstadt zu entfliehen. Berlin und die ärmeren Vororte im Norden und Osten hatten das Nachsehen. Dem Berliner Magistrat gingen Steuereinnahmen verloren. Er musste aber die Armenfürsorge und die zentrale Infrastruktur für die Nachbargemeinden allein aufrecht erhalten.
Die reichen Vororte fürchteten außerdem, vom politisch „roten“ Berlin dominiert zu werden. Die hartnäckigsten Gegner einer Fusion waren die Städte Charlottenburg und Spandau. Charlottenburgs Oberbürgermeister Kurt Schustehrus erklärte äußerst selbstbewusst, seine Stadt müsse „nicht auf ein Groß-Berlin, sondern auf ein Groß-Charlottenburg hinarbeiten“. Bei der Grundsteinlegung des Spandauer Rathauses 1911 prägte Stadtrat Emil Müller den Spruch: „Mög schützen uns des Kaisers Hand vor Groß-Berlin und Zweckverband.“
„Des Kaisers Hand“, also der Staat Preußen, hatte tatsächlich jahrzehntelang die Groß-Berlin-Bestrebungen unterbunden, denn die Hauptstadt sollte kein mächtiger „Staat im Staate“ werden. Die letzten Eingemeindungen fanden 1861 statt, als Wedding, Moabit und kleine Teile von Schöneberg und Tempelhof zu Berlin kamen. Die Industrialisierung und der Gründerboom ließen Berlin aber schnell über seine Grenzen hinauswachsen. Der Berliner Bebauungsplan von James Hobrecht aus dem Jahr 1862 reichte schon ins Umland hinein. Fusionspläne scheiterten immer wieder trotz langer Verhandlungen am Widerstand des Preußischen Abgeordnetenhauses und der florierenden Umlandgemeinden, zuletzt 1896.
Zweckverband und Zusammenschluss
Im Jahr 1912 kam immerhin der Zweckverband Groß-Berlin zustande. Er umfasste Berlin mit seinen Nachbarstädten und die Landkreise Teltow und Niederbarnim. Sein Ziel war es, sich bei Verkehrsfragen, bei der Bebauungsplanung und beim Erhalt von Freiflächen abzusprechen. Das war bitter nötig. Berlin hatte auf seiner kleinen Fläche mittlerweile fast zwei Millionen Einwohner. Orte wie Rixdorf (ab 1912 Neukölln), Schöneberg, Lichtenberg und Wilmersdorf waren mit über 100.000 Bürgern eigene Großstädte geworden. Charlottenburg hatte sogar schon über 300.000 Einwohner und war die reichste Stadt Preußens. Viele der als Landgemeinden geltenden Orte hatten mit einer dichten Mietskasernenbebauung und mehreren 10.000 Einwohnern durchaus schon einen städtischen Charakter.
Die Umlandgemeinden traten deshalb immer selbstbewusster auf. Sie bauten sich in diesen Jahren prächtige neue Rathäuser, mit denen sie ihre Eigenständigkeit unterstreichen wollten. Andererseits war ihnen auch die Zugkraft des Namens „Berlin“ bewusst: So haben 28 Gemeinden ihrem Namen ein „Berlin-“ vorangestellt und hießen also offiziell zum Beispiel „Berlin-Wilmersdorf“. „Wir behalten und wahren unsere Selbstständigkeit, erkennen und bekennen aber gleichzeitig, dass wir ein Glied Groß-Berlins sind“, begründete der Wilmersdorfer Stadtrat Max Steinborn diese Namensgebung.
Treibende Kraft hinter dem Zusammenschluss war der 1912 ins Amt gewählte Berliner Oberbürgermeister Adolf Wermuth. Neben ihm engagierte sich auch der Schöneberger Oberbürgermeister Alexander Dominicus für einen Zusammenschluss. Er gründete 1917 den „Bürgerausschuss Groß-Berlin“, der für eine Einheitsgemeinde warb, die sich in einem Radius von 20 Kilometern um Berlin herum ausdehnen sollte. Adolf Wermuth sprach sich hingegen für einen 15-Kilometer-Radius aus, der Spandau und Köpenick außen vor gelassen hätte.
Mit dem Ende der Monarchie 1918 kam die Stunde der Zusammenschluss-Befürworter. Des Kaisers schützende Hand war verschwunden und die demokratische Landesregierung stimmte den Vereinigungsplänen zu.
Um den einzugliedernden Städten eine gewisse Selbstverwaltung zu lassen, gab man der neuen Stadt eine polyzentrale Struktur: Groß-Berlin wurde in 20 Bezirke eingeteilt, die ihre eigenen Parlamente und Regierungen bekamen. Während Alt-Berlin in sechs Bezirke aufgeteilt wurde, erhielten die 14 Außenbezirke den Namen des jeweils größten Ortes.
Außerdem ließ Adolf Wermuth das „Groß“ aus dem Namen streichen: Um nicht den Eindruck einer übermächtigen Riesenstadt zu erwecken, sollte die neu zu bildende Stadt nun einfach Berlin heißen. So bekam das Gesetz am 25. April 1920 im dritten Anlauf eine knappe Mehrheit und trat am 1. Oktober 1920 in Kraft. Der Name Groß-Berlin war aber trotzdem noch lange Zeit gebräuchlich, vor allem zur Unterscheidung vom alten Berlin.
Jens Sethmann
Reform mit Bestand
Das vor 100 Jahren geschaffene Berlin hat sich bis heute kaum verändert. 1938 wurden die Bezirksgrenzen begradigt. Dabei haben Treptow und Köpenick die Ortsteile Oberschöneweide und Bohnsdorf getauscht. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Alliierten die Stadtgrenze im Westen geändert. Der Ostteil der Gemeinde Groß-Glienicke kam zum britischen Sektor, West-Staaken zur sowjetischen Zone. Nach dem Mauerfall ging West-Staaken wieder an den Bezirk Spandau. 1990 wurden auch kleine Teile der Gemeinden Ahrensfelde und Hönow eingemeindet, weil dort die Großsiedlungen Marzahn und Hellersdorf über die Stadtgrenze hinausgingen. In Ost-Berlin waren auf dem Gebiet von Lichtenberg und Weißensee mit Marzahn (1979), Hohenschönhausen (1985) und Hellersdorf (1986) drei neue Bezirke gegründet worden. Der größte Einschnitt war die Bezirksreform von 2001, bei der die 23 Bezirke auf 12 reduziert wurden. Die Verwaltungen sollten dadurch gestrafft werden und die Bezirke eine einander vergleichbare Größe erhalten.
js
„Chaos & Aufbruch – Berlin 1920/2020“, Sonderausstellung im Märkischen Museum, Am Köllnischen Park 5, 10179 Berlin, ab 26. April 2020
03.02.2020