Vor 90 Jahren stand man in Deutschland vor einer ganz ähnlichen Herausforderung wie heute: Wie kann man preisgünstige Wohnungen bauen, ohne auf eine zeitgemäße Ausstattung und ein lebenswertes Umfeld zu verzichten? Quasi als Experimentierfeld entstand die Reichsforschungssiedlung in Spandau, das größte Wohnungsbauprojekt der Weimarer Republik in Berlin. Hier sollte exemplarisch untersucht werden, wie die Baukosten radikal gesenkt und damit die Mieten niedrig gehalten werden können.
„Erst die Küche, dann die Fassade!“, das war der Ansatz der liberalen Reichstagsabgeordneten Marie-Elisabeth Lüders. Sie zählt zu den Initiatoren der 1927 gegründeten „Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen e.V.“. Angesichts der dramatischen Wohnungsnot – schätzungsweise eine Million Menschen hatten damals keine eigene Wohnung – sollte nach Möglichkeiten für kostengünstiges Bauen gesucht werden. Alles sollte auf den Prüfstand: Baustoffe, Planung, Baumethoden und Bautechniken. Lüders: „Die objektive Durchprüfung aller dieser Zweige wird – so glauben wir sicher – wesentlich zur Reduktion der Herstellungskosten beitragen.“ Am Anfang stand die Frage, welches Minimum an Platz und Ausstattung eine zweckmäßig eingerichtete Wohnung überhaupt braucht, schreibt der Publizist und Stadtführer Michael Bienert in seinem Buch zur Geschichte der Siedlung (siehe Buchtipp in der Marginalspalte). Die Lösung waren Kleinwohnungen mit einer Wohnküche als Zentrum.
Zerwürfnis mit Gropius
Um diese Idee auch in die Praxis umzusetzen, wurde 1928 ein 45 Hektar großes Grundstück in Haselhorst ausgewählt, einem Ortsteil von Spandau. Als Bauherr war zunächst die „Gagfah“ vorgesehen, doch die gab das Projekt schließlich an ihr Tochterunternehmen „Gewobag“ ab. Ein städtebaulicher Ideenwettbewerb wurde ausgeschrieben, den ersten Preis vergab eine Jury an den Architekten Walter Gropius und den Ingenieur Stephan Fischer. Doch die Reichsforschungsgesellschaft war mit dem Entwurf von Gropius nicht glücklich. Nach einem Zerwürfnis zog die Gewobag das Verfahren an sich. Das Areal wurde in mehrere Baublöcke aufgeteilt und an verschiedene Architekten vergeben.
Für Haselhorst erwies sich das als Glückfall. Wer heute durch den Burscheider Weg und die Gartenfelder Straße spaziert, ist überrascht, wie abwechslungsreich die Siedlung trotz ihrer Größe ist. Die Handschrift des jeweiligen Architekten ist deutlich zu erkennen, dennoch wirkt die Siedlung auch als Einheit. Selbst die Nachkriegsbauten, mit denen die Wohnstadt ab 1954 erweitert wurde, fügen sich harmonisch ein. Die Zeilenbauten sind so angeordnet, dass ein Hof-Charakter entsteht. Zwischen den Häusern ist viel Grün, der Verkehr bleibt weitgehend draußen. Die Architekten haben innen und außen für viel Abwechslung gesorgt – schließlich ging es darum, unterschiedliche Bauweisen auszuprobieren. Es gibt 20 Typen von Treppenhäusern, 13 Varianten von Balkonen und Loggien und jede erdenkliche Form an Grundrissen. Neben Reihenhäusern, die heute nicht mehr zum Gewobag-Bestand gehören, entstanden auch einige Laubenganghäuser. Sie gelten als kostensparend, weil man für die Erschließung der Wohnungen nur ein einziges Treppenhaus benötigte. Auch einige Stahlskelett- und Stahlbetongebäude wurden zu Vergleichszwecken gebaut.
Als die ersten Mieter im Jahr 1931 einzogen, war die Reichsforschungsgesellschaft bereits aufgelöst. Über die Hälfte der Erstmieter arbeitete in den nahe gelegenen Industriebetrieben, vor allem bei Siemens. 50 bis 60 Reichsmark kostete eine Zwei- bis Zweieinhalbzimmerwohnung. Bei der offiziellen Fertigstellung 1935 lebten rund 12.000 Bewohner in den 3448 Wohnungen. Das Ziel, bezahlbare Wohnungen für Geringverdiener zu schaffen, war erreicht.
Und heute? „Die Siedlung hat eine große Bindekraft, viele wohnen hier in der zweiten und dritten Generation“, erzählt Michael Bienert, der Haselhorst wie kein Zweiter kennt. Weil es fast nur kleine Wohnungen gibt, sind manche Bewohner in der Familiengründungsphase ausgezogen. Doch im Rentenalter kamen etliche wieder zurück. Ende der 1990er Jahre entschloss sich die Gewobag, deren Unternehmensgeschichte eng mit der Siedlung verbunden ist, zu einer grundlegenden Sanierung. Neben der energetischen Ertüchtigung war ursprünglich auch die Zusammenlegungen von Wohnungen geplant. Doch der Markt hat sich gewandelt. Gerade die einst als unattraktiv geltenden Kleinwohnungen sind mittlerweile heiß begehrt, weil sie für Rentner, Studenten und Hartz-IV-Bezieher erschwinglich sind. Nur in Einzelfällen und auf Wunsch der Mieter wurden daher Wohnungen vergrößert.
Ein Verein organisiert das Gemeinwesen
Nach wie vor leben in der Reichsforschungssiedlung viele ältere Bewohner. Zunehmend gibt es Zuzüge von Mietern mit polnischen, russischen und türkischen Wurzeln – die mitunter als sechsköpfige Familie eine Zweizimmerwohnung bewohnen. Spandau ist zum Sammelbecken für all diejenigen geworden, die aus Prenzlauer Berg oder Kreuzberg verdrängt worden sind. Etwa 40 Prozent der Mieter haben einen Migrationshintergrund, schätzt Elke Schönrock vom Gemeinwesenverein Haselhorst. Das geht natürlich nicht ohne Konflikte ab. Der Verein, der bereits 1984 auf Initiative von Mietern gegründet wurde, bemüht sich, den Zusammenhalt zu stärken und alte und neue Bewohner zusammenzubringen. Es gibt Angebote von Babymassage bis zur Seniorengymnastik, Sozialberatung, Deutschkurse und einen wöchentlichen Mittagstisch. Ausflüge und Malgruppen sollen alleinstehende Bewohner aus ihrer Einsamkeit herausholen. „Wir haben hier sogar 80-jährige Erstbezieher“, berichtet Schönrock.
Für viele sei die gestiegene Miete seit der Modernisierung ein großes Problem, zumal die angekündigte Heizkostenersparnis von 40 Prozent nicht eingetreten ist. Doch weil die Wohnungen so klein sind, ist das für die meisten Mieter zu schaffen. Was die Durchführung der Sanierung betrifft, ist man beim Gemeinwesenverein voll des Lobes. Alle mussten für einige Monate in eine Umsetzwohnung ziehen: „Die Gewobag hat wirklich sehr viel Unterstützung geleistet und hat den Leuten auch beim Ein- und Auspacken geholfen“, so Schönrock.
Seit 1995 steht die Siedlung unter Denkmalschutz. Den Status eines UNESCO-Weltkulturerbes hat sie – anders als beispielsweise die Hufeisensiedlung – nicht. Für Michael Bienert eine völlig unverständliche Benachteiligung: „In puncto kostengünstiges Bauen ist das ein tolles Resultat, von diesem Experiment gehen noch immer wichtige Impulse aus.“
Birgit Leiß
2003 hatte die Modernisierung der rund 2750 Wohnungen begonnen, wobei zunächst ein Denkmalpflegeplan erstellt wurde. Block für Block wurden Fenster ausgetauscht, Fassaden gedämmt, Treppenhäuser originalgetreu wiederhergestellt und die Außenanlagen neu gestaltet. Fast alle Wohnungen erhielten einen Balkon, sofern sie bisher keinen hatten.
Um die Wärmedämmung gab es einen langen Kampf – der Denkmalschutz erlaubt Außendämm-Maßnahmen in der Regel wegen der Veränderungen an der Fassade nicht. Doch es fand sich eine optisch elegante Lösung: die Fensterlaibungen wurden um acht Zentimeter nach außen versetzt. Dadurch wird der sogenannte „Bullaugeneffekt“ vermieden. Bei den Laubenganghäusern musste dagegen auf die Wärmedämmung verzichtet werden. Auch der Einbau von Aufzügen war mit dem Denkmalschutz nicht vereinbar.
Die Mieten stiegen bei den Bestandsmietern von bisher 4,75 bis 5,19 Euro netto kalt auf 6,20 bis 6,43 Euro pro Quadratmeter. Neumieter ohne Wohnberechtigungsschein (WBS) zahlen durchschnittlich 7,44 Euro nettokalt. Entsprechend dem Mietenbündnis ist die Gewobag nach eigenen Angaben bestrebt, ein Drittel der Wohnungen an WBS-Berechtigte zu vergeben. Von ihnen werden 6,20 Euro verlangt.
Insgesamt 120 Millionen Euro hat die Gewobag investiert. Noch in diesem Jahr sollte das Sanierungsende mit einem Mieterfest, Führungen und Lesungen gefeiert werden. Doch wie sich kürzlich herausstellte, muss bei den Balkonen nachgebessert werden. Die Feierlichkeiten wurden daher erst einmal auf 2015 verschoben.
bl
MieterMagazin 4/14
Die Laubengänge an manchen Häusern sparen Kosten, sehen aber auch attraktiv aus
Fotos: Nils Richter
50 bis 60 Reichsmark kostete die Zweizimmerwohnung: Haselhorster Wohnküche um 1931
Siedlung mit Bindungskraft: Manche Familie wohnt seit Generationen hier
Fotos: Nils Richter
Buchtipp: Michael Bienert: Baukunst in Haselhorst – Geschichte, Bewohner und Sanierung der Reichsforschungssiedlung in Berlin-Spandau. Berlin Story Verlag 2013, 19,80 Euro
05.02.2018