Am 8. Mai 2020 jähren sich die Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa zum 75. Mal. In Berlin endeten die Kampfhandlungen am 2. Mai 1945. Ein Blick zurück auf das Leben in der „Stunde Null“ und auf den schwierigen Beginn des Wiederaufbaus.
Berlin war am 2. Mai 1945 ein Trümmerfeld. Vor allem in der Innenstadt herrschte eine gespenstische Szenerie aus verlassenen Straßen, Ruinen, Schutthaufen, Resten von Barrikaden, ausgebrannten Panzern, zurückgelassenem Kriegsmaterial und toten Soldaten und Zivilisten. Von 1943 an war die Stadt von britischen und US-Flugzeugen immer stärker bombardiert worden, um der Nazi-Gewaltherrschaft ein Ende zu bereiten.
„Ihr werdet Berlin nicht wiedererkennen“, hatte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels versprochen. Er meinte die Zukunft Berlins als bombastische „Welthauptstadt Germania“, die nach dem gewonnenen Krieg geplant war. Es kam anders, doch Goebbels behielt recht: Die Stadt, die die Nazis nach zwölf Jahren Gewaltherrschaft hinterlassen hatten, war tatsächlich nicht wiederzuerkennen. Der Krieg, der 1939 von Berlin seinen Ausgang genommen hatte, schlug mit Wucht zurück.
Einwohnerzahl bis Kriegsende halbiert
544.000 Wohnungen waren 1946 als schwer beschädigt oder total zerstört gezählt worden. Das war mehr als ein Drittel des Wohnungsbestandes. Dazu kamen noch 314.000 Wohnungen mit mittelschweren Schäden. Intakt oder leicht beschädigt waren 704.000 Wohnungen – das entspricht nur 45 Prozent des Bestandes. Am schwersten betroffen waren die Bezirke Mitte, Tiergarten, Friedrichshain und Kreuzberg. Die Strom-, Gas- und Wasserversorgung war in großen Teilen der Stadt unterbrochen, es gab nicht genug Lebensmittel, die Krankenhäuser konnten nur absolute Notfälle behandeln, die Schulen waren geschlossen.
Obwohl sich die Einwohnerzahl Berlins von 4,3 Millionen bis Kriegsende ungefähr halbiert hatte, herrschte große Wohnungsnot. Die Situation verschärfte sich noch erheblich durch die zurückkehrenden Evakuierten, die entlassenen Kriegsgefangenen und die Flüchtlinge aus den Ostgebieten. Berlin hatte 1946 schon wieder drei Millionen Einwohner.
Unmittelbar nach Kriegsende setzte die sowjetische Besatzungsmacht Haus- und Straßenobmänner ein, die Obdachlose in verlassene Wohnungen einquartierten. Schon am 18. Juni 1945 erließ der Magistrat eine Verordnung, mit der die neugebildeten bezirklichen Wohnungsämter freie und unterbelegte Wohnungen beschlagnahmen und dort Wohnungssuchende einweisen konnten. Unterbelegt war eine Wohnung, wenn sie mit weniger als einer Person pro Raum belegt war, Küchen ab zehn Quadratmetern wurden als Raum mitgezählt.
Die meisten benutzbaren Wohnungen waren jedoch ohnehin schon dramatisch überbelegt. Nach der Zählung von April 1946 hatten rund 290.000 Wohnungen mehr als einen Bewohner pro Raum. Darunter waren 27.000 Zweiraumwohnungen mit vier Personen belegt. In fast 13.000 Wohnungen dieser Größe wohnten sogar fünf oder mehr Menschen. Einraumwohnungen hatten im Durchschnitt 1,63 Bewohner. Außerdem mussten über 110.000 Menschen in notdürftig hergerichteten Lauben und Baracken, in Kellern oder auf Dachböden hausen.
Gegen eine Einweisung konnte sich der Wohnungsinhaber nicht wehren. Ein Wohnungstausch war für Mieter attraktiv, wenn sie in eine kleinere Wohnung ausweichen konnten, statt in ihrer größeren Wohnung mit zugewiesenen Untermietern zusammenleben zu müssen. Küche, Bad und Flur mit fremden Leuten zu teilen, war oft eine Nervenprobe für Haupt- und Untermieter.
Wie alle Großstädte musste sich Berlin mit einer Zuzugssperre vor weiteren Wohnungssuchenden abschotten. Dadurch hatten Berliner, die wegen der Bombenangriffe aufs Land evakuiert worden waren, Schwierigkeiten zurückzukommen. Wer illegal nach Berlin kam, hatte keine Chance auf eine Wohnraumzuweisung und bekam auch keine der überlebenswichtigen Lebensmittelkarten.
Schuttberge von Hand abgetragen
An den Bau neuer Wohnungen war zunächst nicht zu denken. Es fehlte an fast allem: Es gab keine Baumaterialien, keine Baumaschinen, zu wenig Bauarbeiter, keine verfügbaren Grundstücke, keine Baugesetze und vor allem kein Geld. Zunächst galt es also, die Häuser wetter- und winterfest zu machen: Dächer abdichten, Wände zumauern, Fenster einsetzen.
Um dafür die Mittel zu bekommen, erhob der Magistrat ab Juli 1945 ein Jahr lang eine Gebäudeinstandsetzungsabgabe. Eigentümer bebauter Grundstücke mussten 50 bis 65 Prozent ihrer Mieteinnahmen entrichten. Damit sollte leicht und mittelschwer beschädigter Wohnraum repariert werden. Weil es dafür aber kein Baumaterial gab, wurde das Geld in der Praxis zu zwei Dritteln für Enttrümmerungsarbeiten ausgegeben.
Es waren vor allem Frauen, die die Schuttberge von Hand abgetragen und von jedem einzelnen Ziegelstein die Mörtelreste abgeklopft haben, damit man sie wiederverwenden konnte. Frauen haben schon während des Krieges die Stadt am Laufen gehalten und mussten nun, da die Männer in Gefangenschaft oder in Kämpfen gestorben waren, als „Trümmerfrauen“ den Grundstein für den Wiederaufbau legen. Anreiz war für sie vor allem die Schwerarbeiter-Lebensmittelkarte mit höheren Zuteilungen. Die Arbeit war aber nicht immer freiwillig: Wer sich etwa bei Diebstählen erwischen ließ, wurde oft zu Aufräumarbeiten verpflichtet.
Die Enttrümmerung war Arbeit für Jahre. Als Bertolt Brecht 1948 aus dem amerikanischen Exil zurückkam, war sein Eindruck immer noch: „Berlin: Der Schutthaufen bei Potsdam“. Ende 1950 war erst ein Drittel der gesamten Trümmermenge beseitigt.
Die Aufbau-Erfolge blieben zunächst bescheiden: Bis 1948 konnten gerade einmal 60.000 unbewohnbare Wohnungen wiederhergestellt werden. Ganze 113 Wohnungen wurden neu errichtet. Das Bauen kam erst 1949 in Fahrt, als in Ost und West neue Währungen eingeführt wurden und die Banken wieder arbeiten konnten. Die nun politisch getrennten Stadthälften versuchten sich in den 50er Jahren beim Aufbau gegenseitig zu übertrumpfen. Kriegsruinen gehörten jedoch auf beiden Seiten noch bis in die 80er Jahre hinein zum Stadtbild. Und bis heute werden bei Erdarbeiten immer wieder Kriegsmunition und Bomben-Blindgänger gefunden, die uns die Schrecken des Krieges vor Augen führen.
Jens Sethmann
Nachkriegs-Berlin: digital erlebbar
Berlin hat den 8. Mai in diesem Jahr einmalig zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Das Ende von Krieg und Faschismus kann aber Corona-bedingt nicht mit öffentlichen Veranstaltungen gewürdigt werden. In der virtuellen Ausstellung „Nach Berlin“ werden ab dem 2. Mai ausgehend von verschiedenen Orten in Berlin, unter anderem Reichstag und Brandenburger Tor, die letzten Kriegstage und die Befreiung vom Nationalsozialismus im Mai 1945 erzählt. Die Ereignisse werden mit einer eigens entwickelten Web-Experience sowie einer Augmented Reality App erfahr- und erlebbar gemacht. Während einer Themenwoche vom 2. bis zum 9. Mai begleiten außerdem eine Podcast-Reihe und Social-Media-Aktivitäten die virtuelle Ausstellung. Hier werden auch die Brüche und Kontinuitäten der unmittelbaren Nachkriegszeit thematisiert und Bezüge zur heutigen Gesellschaft hergestellt.
js
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