„Wie möchte ich im Alter wohnen?“ überlegen sich immer mehr Menschen – lange bevor sie in „das Alter“ kommen. Die Hälfte der heute 50-Jährigen gibt in Umfragen an, später gemeinschaftlich, in engem Kontakt mit anderen Menschen, wohnen zu wollen. Seit zehn Jahren nehmen in Berlin Menschen ab 50 ihre Zukunft selbst in die Hand und organisieren sich in Wohnprojekten.
Der Zettel hängt an der Tür im Gemeinschaftsflur: „Hildegard kommt Dienstag aus dem Krankenhaus“. Mit 85 Jahren ist Hildegard das älteste Mitglied im Projekt „Gemeinschaftliches Wohnen im Alter“. Sie hatte sich das Bein gebrochen. Wenn sie wieder daheim ist in der Altenetage im „Bunten Haus“ in Steglitz, dann werden die anderen für sie kochen und da sein. „Die Ärzte hätten sie lieber ins Pflegeheim gesteckt“, erzählt Heike Grünewald, Mitbewohnerin und eine der Initiatorinnen des Projekts. Sie ist sicher, dass „Hildegard hier sehr gut versorgt wird“.
Die elf Frauen der Gruppe sind zwischen 40 und 85 Jahre alt und leben in barrierefreien Ein- oder Anderthalbzimmerwohnungen, die sich auf drei Etagen verteilen. Jeweils vier Wohnungen münden in einen großen, hellen, pflanzenreichen Gemeinschaftsflur. Für spontane Treffen stehen Sitzmöbel bereit. Einmal wöchentlich besprechen die Damen hier die anfallenden Dinge. In einer der Etagen wird das individuell gekochte Essen jeden Tag gemeinsam eingenommen. Heike Grünewald betont, „dass es ein mühsamer Weg war und ist. Er erfordert viel Engagement und Frustrationsbereitschaft“. Aber sie lebt hier „sehr zufrieden“. Die 385 Euro Miete sind erschwinglich. Christa Priwaß war noch zweifelnd eingezogen, „aber inzwischen will ich nicht mehr ausziehen“. Die geringe Fluktuation der Bewohnerinnen spricht für ihre hohe Zufriedenheit.
Single-Dasein adieu
1996 wurde das Bunte Haus in Steglitz, gefördert im Rahmen des Sozialen Wohnungsbaus, bezogen – ein Modellprojekt mit etwa 100 Bewohnern. Neben den selbstorganisierten „Alten“ stehen Räume zur Verfügung für allein erziehende Mütter mit ihren Kindern und für betreute Wohngruppen. Unter der Woche leben hier Kinder aus schwierigen Familien. Die Hälfte aller Wohnungen werden „normal vermietet“.
Die „Alten“, das meint Menschen über 65, werden im Jahre 2050 die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland ausmachen. Noch wohnen in Berlin 90 Prozent der jetzigen Alten in ihrer Mietwohnung, viele – vor allem Frauen – allein, manche mit Partner. Sie möchten am liebsten im vertrauten Kiez mit der bekannten Infrastruktur, eben mitten im Leben, auch ihr letztes Lebensviertel verbringen. Für die notwendige Betreuung wenden sie sich an einen der vielen ambulanten Pflegedienste. Aus den kommenden „Alten“-Generationen wollen viele weder allein wohnen noch im Altersheim oder in einer teuren Seniorenresidenz. Zu ihren Wohnerfahrungen gehören gelebte Alternativen zur aufgelösten Großfamilie. Die zukünftigen Alten sind aktiv und fit, mischen bei Hausplanungen mit, helfen beim Bauen und wagen sich auch an ein Wohnexperiment.
Das „Sonnenhaus“ in Schöneweide ist noch eine staubige, zugige Baustelle ohne Dach. Die 65-jährige Irmgard Kühn schippt mit anderen Bauschutt in eine Karre. „Ich arbeite hier für meine Enkelin, die im Rollstuhl sitzt und nicht selbst bauen kann“, erklärt sie lachend. Wenn es noch eine kleine Wohnung gäbe, würde sie auch gerne einziehen, denn „es ist so lustig hier“. Das glaubt man sofort. Ihre Enkelin zieht in die Parterrewohnung. Mit dem Fahrstuhl kommt auch sie in die Gemeinschaftsräume ganz oben. Ab dem nächsten Jahr werden hier mehrere Generationen wohnen. Die 77 Jahre alte Elfriede Engelmann bringt zur Mittagszeit frischgebackene Quarkkeulchen vorbei, auf dem Bau kann sie nicht mit anpacken. Die 18-Jährigen, Kinder der mittleren Generation, bauen sich mit Hilfe ihrer Freunde eine Gemeinschaftswohnung aus. Für das Modellprojekt Sonnenhaus bewilligte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Fördergelder aus dem baulichen Selbsthilfeprogramm. Die zukünftigen Bewohner leisten dafür 15 Prozent der Sanierung in Eigenarbeit. Der Quadratmeter Miete wird bei 4,25 Euro kalt liegen, die Nutzung der gemeinschaftlichen Räume inbegriffen.
Netzwerke und Hilfen
In Hunderten verschiedener Modelle von gemeinschaftlichem und betreutem Wohnen leben in Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Bremen bereits junge Alte, Senioren und Pflegebedürftige eigenverantwortlich zusammen. Die Seniorenministerin Ulla Schmidt unterstützte in Nürnberg das Projekt „Oldies leben gemeinsam aktiv“ mit Fördergeldern.
Eine wichtige Anlaufstelle ist die Bundesvereinigung „Forum gemeinschaftliches Wohnen e.V.“. Gerda Helbig, die Vorsitzende, zieht aus ihrer Arbeit das Resümee, dass es den Menschen neben der Versorgung im Alter „auch um eine Lebensweise geht, die herausführt aus Anonymität und Vereinsamung. Und dafür brauchen sie geeignete und bezahlbare Wohnungen.“ Die Erfahrungen würden außerdem zeigen, „dass ältere Bewohner in einer Gemeinschaft weniger schnell pflegebedürftig werden“.
Noch auf der Suche nach einem geeigneten Haus sind die Aktiven von „Neugier trifft Erfahrung“. Nach den Bedürfnissen der interessierten Alten soll „eine Hausgemeinschaft mit individuellen Wohnungen und Gemeinschaftsräumen entstehen“. Eine „Mischung von älteren, gesundheitlich kaum beeinträchtigten und hilfebedürftigen Senioren ist angestrebt“, so Julia Hüttner. Gegenseitige Unterstützung wird den Alltag erleichtern. Zum Konzept gehören eine Kita, eine Sozialstation und ein Café. Patenschaften von Jung und Alt sind erwünscht, weil sie die Kontakte erleichtern und Verbindlichkeit in das Hausleben bringen.
Sie treffen sich auch mit anderen Projekten im Arbeitskreis „50plus – Gemeinsam wohnen bis ins hohe Alter“. Mit dieser Vernetzung werden sie stärker. Und der Austausch von Erfahrungen ist überaus hilfreich.
Vorurteile auf Vermieterseite
Bei der Suche nach einem geeigneten Haus stoßen die Initiativen auf erhebliche Vorurteile bei Vermietern. Noch fehlt häufig Verständnis für diese Wohn- und Lebensideen. Oft verzögern sich dadurch Vertragsverhandlungen. Zusätzlich erschwerend ist der Wunschstandort: meist ein Innenstadtbezirk. Zwar werden den Initiativen Häuser zum Kauf angeboten – die meisten wollen aber mieten. Anita Engelmann aus dem Sonnenhaus begründet dies damit, dass man nicht wisse, „wie unsere Kinder später leben werden. Deshalb wollen wir kein Eigentum erwerben“. Sie fanden mit TRIAS eine geeignete Stiftung, die in das Sonnenhaus investierte, jetzt an sie vermietet und sie das Haus selbst verwalten lässt.
Einen mutigen Schritt traute sich 1999 nach langen Planungsjahren die „Baugenossenschaft 1892“ zu tun. Sie ermöglichte das Generationen übergreifende Frauen-Wohnprojekt „Offensives Altern“. Auch hier ging es nicht ohne den hartnäckigen persönlichen Einsatz der Frauen, die hier „menschenwürdig und lebensbejahend alt werden“ wollen. Deren Erfahrungen haben bei der Genossenschaft mittlerweile Spuren hinterlassen. Die Vorschläge von Nachbarn freier Wohnungen werden bei Neuvermietungen besonders berücksichtigt. Denn eine gute Nachbarschaft zahlt sich für Vermieter und Mieter aus, ob im normalen Mietshaus oder im Hausprojekt. Natürlich gilt das auch für Seniorenwohnhäuser mit bezirklicher Altentagesstätte. In dem modernen Bau mit Lichthof in der Köpenicker Straße – direkt am Schlesischen Tor in Kreuzberg – fühlt sich Gisela Rolle, 75 Jahre, „sehr wohl“. Eine andere Hausbewohnerin, die etwas jüngere Ikbal Yücel, lebte schon vorher in Kreuzberg. Sie ist viel im vertrauten Kiez unterwegs und auch deswegen gefällt es ihr hier sehr gut. Die Bewohner kochen entweder selbst oder bestellen „Essen auf Rädern“.
Hinderliche Baubestimmungen
„Neue Wohnformen im Alter“ hieß das Thema eines Kongresses der Grünen im Februar. Die über 400 Teilnehmer bestätigten einen dringenden politischen Handlungsbedarf. Irmingard Schewe-Gerigk, Grünen-Sprecherin für Altenpolitik, betonte, dass „vor allem die restriktiven Baubestimmungen der Heimgesetze zur Unterbringung von Pflegebedürftigen oder kranken alten Menschen nicht zu den veränderten Vorstellungen passen“. Die geltenden Bestimmungen erschweren das Engagement derjenigen, die Projekte für die sich ändernden Wohnbedürfnisse aufbauen wollen.
Auch die Berliner Wohnungswirtschaft fordert eine deutliche Reform der Heimgesetze. Auf einer Veranstaltung der Investitionsbank im März beklagte Ludwig Burkhardt vom Verband der Berlin-Brandenburgischen Wohnungsunternehmen: „Die vorgeschriebenen Baustandards führen zu kaum bezahlbaren Mieten“. Gleichzeitig betonte er, dass „es sich lohnt, für ältere Menschen etwas zu tun“, da sie gute Mietzahler seien. Ein Bankenvertreter kritisierte die Wohnungsunternehmen, dass sie „mit deutlicher Verzögerung auf den veränderten Bedarf reagieren“ würden.
Aber es hat sich schon einiges bewegt. Stichwort: Servicewohnen in Ein- bis Zweizimmerwohnungen. Zum Beispiel bietet die HOWOGE kleine Wohnungen für 280 Euro an. Über die Volkssolidarität können Betreuungs- und Pflegedienste, aber auch kulturelle Ausflüge „dazugekauft“ werden. Die IHZ wirbt mit „City-Wohnen im Alter“ für ihre „seniorengerechten Neubauten“ in der Nähe des Ostbahnhofs.
Barrierefreiheit ist ein Schlüsselwort. Aber muss die Dusche ohne Schwelle sein? Nach einer Studie aus Nordrhein-Westfalen tut es oft genauso ein angebauter, wesentlich preiswerterer Griff. Zwar ist der Fahrstuhl ein Muss, aber ein zweiter Treppenhandlauf kann auch noch bei Bedarf eingebaut werden.
Gefragt ist das bewohnergerechte Wohnen. Das meint: Teilhabe der zukünftigen Mieter an der Planung – auch bei den großen Wohnungsunternehmen. Ein zweites Schlüsselwort heißt: Nachrüstbarkeit. Ändern sich die Lebensumstände, sollten sich die Wohnungsverhältnisse dem anpassen können.
Clara Luckmann
MieterMagazin 6+7/05
Fit, aktiv, experimentierfreudig: Die heutigen Senioren engagieren sich in gemeinschaftlichen Wohnprojekten
alle Fotos: Kerstin Zillmer
„Die Ärzte hätten sie lieber ins Pflegeheim gesteckt“: Im „Bunten Haus“ erwarten die Bewohnerinnen die Rückkehr von Hildegard
Vorm Zusammen-Wohnen steht das Zusammen-Bauen: Generationen übergreifendes Projekt „Sonnenhaus“
Elf Frauen zwischen 40 und 85: Heike Grünwald, Initiatorin des Bunten Hauses (rechts), Mitbewohnerin
Vertrauter Kiez um das Seniorenwohnhaus in der Köpenicker Straße: Ikbal Yücel lebte vorher schon in Kreuzberg
Internetadressen und Kontakte:
Forum Gemeinschaftliches Wohnen e.V.,
Projekt 50 plus,
www.wohnprojekte- 50-plus.de
Beratungs- und Hilfe-koordinierungsstelle rund ums Alter bei den Bezirksämtern
www.rund-ums- alter.de
20.01.2019