Eine neue Gründerzeit nennt Hans Kohlberger den Beginn der 1970er Jahre: „Die Entscheidung, auf städtischem Grund Wohnhäuser für Senioren zu bauen, war eine wirklich große soziale Leistung.“ Es hatte gleich mehrere Vorteile: Die Älteren blieben meist im Kiez, hatten bezahlbaren Wohnraum und Hilfen im Haus. Auch wenn oder gerade weil durch die zwischenzeitliche Privatisierung vieles verloren ging, lassen sich die jetzigen Bewohner von schlampigen Vermietern und gierigen Investoren nicht alles gefallen.
„Kaputte Häuser, zugige und schwer zu beheizende Wohnungen, keine Bäder, oft nicht mal warmes Wasser und Außentoiletten“, so beschreibt Hans Kohlberger die West-Berliner Wohnverhältnisse der 1960er und frühen 1970er Jahre. Als der Diplom-Politologe 1970 zum Stadtrat für Soziales in Kreuzberg ernannt wurde, gab es bereits Überlegungen, das zu ändern: Zwischen Wiener Straße und Reichenberger Straße war eine Seniorenwohnanlage gebaut worden. Die einstöckigen Gebäude verfügten nur über einfachste Standards. Es waren winzige Einzimmerwohnungen, deren Waschgelegenheiten und Toiletten auf dem Flur sich noch immer mehrere Mieter teilen mussten. „Eine Kochstube, wenn sie so wollen“, erinnert sich Hans Kohlberger.
Aber die Anlage war bereits nach einem Muster errichtet, das sich in den folgenden Jahren zunehmend bewähren sollte: Städtische Baugrundstücke wurden kostenlos an eine Wohnungsbaugesellschaft übergeben mit der Auflage, Sozialwohnungen für Senioren zu bauen. „Der Senat ließ uns dabei ganz unbürokratisch freie Hand“, erinnert sich der einstige Stadtrat. Der Bezirk entschied, verhandelte mit dem Bauträger, übernahm dann die fertigen Häuser als Generalmieter und vergab alle Wohnungen in Eigenregie.
„Um sich zu bewerben, war kein WBS notwendig“, ergänzt Hans Kohlberger. Die Wohnungssuchenden mussten mindestens 60 Jahre alt sein, durften nur über ein geringes Einkommen verfügen und sollten sich ärztlich bescheinigen lassen, dass sie noch in der Lage waren, ihren Haushalt selbst zu führen.
Nachfragen ohne Ende
Für sehr viele Alte im eingemauerten West-Berlin mit seinem ebenso begrenzten wie teuren Wohnungsangebot waren die bezahlbaren Mini-Apartments zwischen 40 und knapp über 50 Quadratmetern ein Segen. Dort gab es auch Waschküchen, Gemeinschaftsräume, einen Hausmeister und ab 100 Bewohnern auch eine Sozialarbeiterin.
„Wir hatten bis zu dreieinhalbtausend Nachfragen auf dem Tisch“, erinnert sich der einstige Stadtrat. Acht Seniorenhäuser wurden unter seiner Leitung in Kreuzberg gebaut. „Bei unserem letzten Bau in der Charlottenstraße gab es allerdings Widerstand“, erinnert sich Hans Kohlberger. Der damalige Senatsbaudirektor wollte die Freifläche nahe dem Checkpoint Charly nicht aus der Hand geben. Sein Motiv: Wenn die Mauer doch einmal fallen sollte, wäre das ein Filetgrundstück.
Viele Zusatzleistungen im Mietvertrag
Das Haus wurde dennoch gebaut. Charlotte Oberberg ist 1992 dort mit ihrem Mann eingezogen: „Drei Jahre haben wir darauf gewartet“, erklärt sie. In den Seniorenwohnhäusern gab es nur wenige Wohnungen für Ehepaare. Die Oberbergs bezogen ein 56 Quadratmeter großes Zweizimmer-Apartment. Im Mietvertrag inbegriffen waren die Freizeitstätte im Erdgeschoss, eine Waschküche und die Sozialarbeiterin. Deren Stelle und Büro wurden vom Senat finanziert – als Ansprechpartnerin für die Senioren, aber auch als Organisatorin für Veranstaltungen, Busfahrten und Nachmittage mit Kaffee und Kuchen. Die Begegnungsstätte in der Charlottenstraße gibt es zwar noch immer, aber sie ist seit Wochen wegen eines Wasserschadens geschlossen.
Die mittlerweile fast 95-jährige Charlotte Oberberg ärgert das besonders. „Seit der Bezirk das Haus nicht mehr verwaltet, ist es immer ein bisschen schlechter geworden“, bedauert sie. Mit Auslaufen der Generalmietverträge nach 25 Jahren waren die Häuser in der Regel in die Verwaltung städtischer Wohnungsbaugesellschaften zurückgegeben worden.
Das Haus, in dem Charlotte Oberberg seit 26 Jahren wohnt, übernahm die GSW – und wurde zusammen mit dieser städtischen Wohnungsbaugesellschaft verkauft. Nun heißt die Vermieterin Deutsche Wohnen – und die bekommt es regelmäßig mit der kämpferischen Seniorin zu tun. „Als wir erfuhren, dass unser Haus an die GSW übergeht, haben wir hier schnell einen Mieterbeirat gegründet und eine Mieterschutzklausel durchgesetzt.“
Eine kluge Entscheidung, denn die Seniorenwohnhäuser sind längst dem Spiel der Kräfte auf dem freien Wohnungsmarkt ausgesetzt. Das bekamen beispielsweise die Mieterinnen und Mieter am Hansa-Ufer 5 zu spüren, als sie 2007 zusammen mit zwei anderen Einrichtungen in Tiergarten lukrativ an den schwedischen Investor Akelius verkauft wurden. Der stand schnell mit ganz konkreten Bauplänen auf der Matte, die wohl nahezu alle alten Mieterinnen und Mieter aus ihren Wohnungen vertrieben hätten.
Aber die sind längst keine geduldigen Bittsteller mehr. Sie widersetzen sich gierigen Investoren wie auch nachlässigen Vermietern. Da ist zum Beispiel Helmut Richter. Er lebt seit sechs Jahren mit seiner Frau im Kreuzberger Seniorenwohnhaus Gitschiner Straße und ist frustriert: „Was nützt es, wenn du deine Wohnung schön machst – und der Vermieter lässt das Haus verkommen?“ Die Vorzüge, die das Seniorenwohnhaus gerade Älteren bot, gibt es hier längst nicht mehr. Dafür kommt es unter der Deutschen Wohnen zu Heizungsausfällen und Reparaturstau. Die Hausordnung wird nicht durchgesetzt, vor allem aber: Obdachlose machen zunehmend Hausflur, Treppen und Laubengänge unsicher, und alles verkommt zu einem Müllabladeplatz. Fast wöchentlich setzt sich Richter mit seiner Vermieterin auseinander. Er und seine Frau möchten im vertrauten Kiez bleiben – und wo sollten sie sonst auch hin?
Selbst wenn sich die Wohnsituation nicht mehr mit der vor fast einem halben Jahrhundert vergleichen lässt, für viele Alte mit kleiner Rente ist bezahlbarer Wohnraum wieder einmal kaum zu finden.
Rosemarie Mieder
Lange Wartezeit
Wohnen im Alter ist heute deutlich vielfältiger geworden. Der Berliner Senat setzt deshalb auch nicht mehr auf den Neubau von Seniorenwohnhäusern. Aber es gibt sie noch immer in vielen Berliner Bezirken: Auf der Homepage des Bezirksamts Charlottenburg werden 16 Einrichtungen aufgelistet. Spandau kann auf acht bezirkseigene Häuser und sechs Angebote von Wohnungsbaugesellschaften verweisen. Tempelhof-Schöneberg benennt sieben Seniorenwohnhäuser und Treptow-Köpenick macht fünf Angebote. Alle Einrichtungen wurden zwar inzwischen meist aufwendig saniert, aber es gibt noch immer vor allem Einzimmer-Apartments und nur wenige Wohnungen, die über anderthalb oder zwei Zimmer verfügen. Die Voraussetzungen für eine Bewerbung um die preisgünstigen kleinen Wohnungen sind überall ähnlich: ein Mindestalter von 55 oder 60 Jahren, ein niedriges Einkommen, teilweise ein Wohnberechtigungsschein – und viel Geduld. Die Wartezeit kann bis zu fünf Jahre ausmachen.
rm
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25.05.2018