Peter Strzelczyk wusste immer, dass das Haus seiner Großeltern etwas Besonderes war. Er hat sie oft besucht und sich eingehend mit der Geschichte des schönen Gründerzeitbaus beschäftigt. Der ist eng mit den Namen Schütt und Kampffmeyer – bedeutender deutscher Mühlenunternehmer – verbunden und zählt zu den schönsten Wohngebäuden des Bezirks Tiergarten. Heute wohnt der Enkel nicht nur in der Wohnung der Großeltern – er hat sogar den Mietvertrag übernommen, den diese vor 80 Jahren unterschrieben haben.
Wenn Peter Strzelczyk seinen Mietvertrag in die Hand nimmt, geht er sorgsam zu Werke: Vier Seiten, hier und da schon ein wenig brüchiges, vergilbtes Papier. „Deutscher Einheitsmietvertrag“ steht auf dem Dokument – und am Ende das Datum 23. Mai 1935. Der Vertrag trägt die Unterschriften von Kurt Herrmann und „seiner demnächstigen Ehefrau“ Liesbeth Dannehl – „… meine Großeltern“, erklärt Peter Strzelczyk. „Damals waren sie noch nicht verheiratet, sondern erst verlobt.“ Dass das junge Paar dennoch die 73 Quadratmeter große Wohnung in dem repräsentativen Gründerzeithaus mit der Adresse Alt-Moabit 89 gemeinsam beziehen durfte, hing mit dessen Vermieter zusammen, der Friedrich Wilhelm Schütt AG. Schütt, ein Berliner Bäckermeister, hatte 1875 zwischen Stromstraße und Spreeufer die größte dampfbetriebene Kornmühle Berlins errichtet. Kurt Herrmann war Bürovorsteher der Rechtsabteilung des Unternehmens und bekam wohl auch deshalb die Wohnung in einem Haus des Bäckermeisters.
Gute Gegend, situierte Mieter
Bereits 1880 hatte Schütt die Mietshäuser gleich neben seiner Mühle gebaut. Moabit – seit 1861 nach Berlin eingemeindet – gehörte industriell, aber auch als Wohngegend zu den aufstrebenden, den „besseren“ Stadtteilen. Die Mieter in Schütts Häusern waren gesellschaftlich gut situiert und solvent. So wohnte im Haus 91/92 vor dem Ersten Weltkrieg beispielsweise der Berliner Oberbürgermeister, in die Nummer 89/90 zogen viele hohe Offiziere aus den Kasernen der nahen Invalidenstraße.
Kurt und Liesbeth Herrmann bezogen Mitte der 1930er Jahre im Seitenflügel eine Wohnung mit zwei Zimmern, einer Küche, einem Korridor und einem Bad. Im Mietvertrag standen dazu ein Keller- und ein Bodenraum. Der Dachboden war übrigens zugleich Waschküche und Trockenplatz. Dafür zahlten sie einen „Mietzins“ von 720 Reichsmark im Jahr – ein monatlicher Abschlag war bis zum dritten jeden Werktags zu entrichten. Wer damit 10 Werktage in Verzug geriet, riskierte die fristlose Kündigung.
„Wenn ich mir die vertraglichen Bestimmungen und auch die Hausordnung ansehe“, sagt Peter Strzelczyk, „so sagen die schon was über damalige Lebens- und Wohnverhältnisse aus. Andererseits ist so manche vertragliche Bestimmung den heutigen nicht ganz unähnlich.“
Da ist im Vertrag vom pfleglichen Umgang mit Haus und Wohnung die Rede: „Der Mieter haftet für durch ihn oder Familienangehörige entstandene Schäden.“ Ob er renovieren oder kleinere Reparaturarbeiten durchführen lässt, kann er selbst entscheiden. Will oder muss sein Vermieter bauliche Veränderungen vornehmen, so hat der Mieter kein Einspruchsrecht. Handwerker muss er in seine Wohnung lassen. Und wer untervermieten will, braucht dafür die Zustimmung seines Vermieters.
„Von meiner Oma weiß ich, dass der Vermieter sehr oft persönlich nach dem Rechten geschaut hat“, erzählt der Enkel. Das war irgendwann nicht mehr Friedrich Wilhelm Schütt, sondern Kurt Kampffmeyer, der die Mühle an der Spree übernommen, elektrifiziert und in sein Imperium eingebaut hat. Obwohl er jahrzehntelang der größte Industriemüller Deutschlands war, kam er regelmäßig persönlich über den Hof. „Wenn da was nicht stimmte, hat er es in Ordnung bringen lassen.“
Peter Strzelczyk blättert in dem kleinen schwarzen Büchlein, in dem jede Mietzahlung akribisch vermerkt worden ist: „Ich hab meine Oma nie gefragt, warum die Kästchen in den Jahren zwischen 1943 und 1945 leer geblieben sind.“ Wurde in dieser Zeit, in der schon Bomben auf Berlin fielen und der Großvater zur Wehrmacht eingezogen war, etwa keine Miete gefordert?
Sicher ist: Die vierköpfige Familie hatte Glück. Der Vater kam aus dem Krieg zurück, und die Gründerzeithäuser 89/90 und 90/91 blieben von Bombenschäden nahezu verschont. Nur eine Luftmine war zwischen Wohnhöfen und Mühle explodiert. Sie hatte das Glas der Fenster und Türen zerbrochen, den Stuck abplatzen lassen und Leichtbauwände in den Wohnungen beschädigt. Aber die Häuser selber blieben stehen und bewohnbar.
Ein Haus mit Qualitätssiegel
Peter Strzelczyk hat ein weiteres Dokument aus seiner Mappe geholt, es trägt das Datum 10. Februar 1955.
Der Bauunternehmer Max Däul aus der Köpenicker Straße in „Berlin SO 36“ hatte den Auftrag erhalten, die Gründerzeitgebäude zu begutachten und Instandsetzungsmaßnahmen für die Straßenfronten und auch die Hofseiten vorzuschlagen. Er tat dies mit großem Respekt vor der noch erhaltenen Bausubstanz. Bei einer Überprüfung durch den Magistrat im Jahre 1914, so begründete er, hätten die Häuser das Prädikat „sehr gut“ erhalten: „Es waren in Bezug auf Ausbau und äußerer Gestaltung die am besten gebauten Wohnhäuser im Bezirk Tiergarten.“ Däul lobte die Fassadengliederung, die Symmetrie der Fenster, Erker, Gesimse, die Schönheit der erhaltenen Verzierungen – und warnte davor, den Stuck einfach abzuschlagen und die Außenwände glatt zu putzen, auch wenn dies die preiswertere Variante sei. Der Vermieter folgte dem Rat des Baufachmannes.
„Als Kind dachte ich, meine Großeltern wohnen in einem Schloss“, erzählt Peter Strzelczyk. „Ihr Haus sah so anders aus, als die grauen Fassaden ringsum.“ Vielleicht ist er deshalb ja auch Stuckateurmeister geworden, hat sich immer um die Erhaltung alter Bausubstanz bemüht, engagiert sich heute für den Aufbau eines einstigen Gutshauses in der Uckermark.
1990 meldete er Alt-Moabit 89 als seine Wohnadresse an. Da stand das Haus schon einige Jahre unter Denkmalschutz. Zwar war im Inneren vieles modernisiert worden – es wurden längst keine Kohleöfen mehr beheizt, die Loggien waren verglast, im Vorderhaus gab es keine Mietwohnungen mehr, sondern ein Hotel – aber seinen alten Charme hat das Haus bis heute bewahrt.
Als Peter Strzelczyks Großmutter 2001 starb, ging er mit ihrem alten Mietvertrag von 1935 zum Vermieter. „Dort bot man mir einen neuen an – mit einer deutlichen Mieterhöhung. Da habe ich mich an den Berliner Mieterverein gewandt.“ Mit dessen Beratung und Hilfe übernahm der heute 45-Jährige den Mietvertrag seiner Großeltern.
Wenn er jetzt aus dem Fenster schaut, blickt er auf einen Hof, der geblieben ist, wie er war. Dahinter jedoch steht Industriearchitektur der 1980er Jahre. Von der Berliner Kornmühle ist nur der Ladeturm am Spreeufer stehen geblieben.
Rosemarie Mieder
25.11.2015