Reiner Wild, Jahrgang 1954 – ein junger Mann mit fünf Geschwistern – traf nach seinem sozialwissenschaftlichen Grundstudium in Konstanz Mitte der 1970er Jahre in Berlin ein. Er gehörte zu jener geburtenstarken Generation, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr miterlebt hatte. Aber die Geschichte des Dritten Reichs war den Jungen auf dem Weg zur Universität auf Schritt und Tritt begegnet, ohne dass man ihnen eine Erklärung für den vorangegangenen Zivilisationsbruch bieten konnte und wollte. In einer Phase beispiellosen deutschen Wohlstandswachstums aufgewachsen gehörte Wild zu einer Generation, die – wie ihre älteren Vorgänger der Studentenbewegung 1968 – durch die Neigung und den Anspruch verbunden war, alteingesessene Autoritäten und Institutionen in Frage zu stellen und es besser zu machen als die Alten.
BMV-Geschäftsführer Reiner Wild geht in den Ruhestand:
Das MieterMagazin befragte seine politische Wegbegleiterinnen und Kollegen
Die „Generation Hoffnung“ traf in Berlin und in anderen Universitätsstädten auf eine ernüchternde Wirklichkeit. Zu ihr gehörte eine anstrengende Wohnungssuche, der nach dem Studium eine ebenso schwierige wie langwierige Jobsuche folgte. Sie traf im „Schaufenster des Westens“, wie West-Berlin genannt wurde, zudem auf eine mächtige Meinungsmaschine, geführt vom „Cäsaren“ Axel Springer, die dem ungeduldigen und veränderungsdurstigen Nachwuchs mit selbstgerechter Antipathie begegnete. Und sie war mit Institutionen und Führungseliten konfrontiert, die in autoritärer Manier ihre Erbhöfe pflegten und für die Jungen bestenfalls jovial besserwisserisches Verständnis aufbrachten: „Wir waren ja auch mal jung!“
Die späten 1970er und die 1980er Jahre: Eine Mentorin und eine Palastrevolution
Wie die Alteingesessenen brauchten auch die jungen Erstnachfrager mit kleinem Budget Wohnungen. Meist fanden sie sie erst nach langem und mühseligem Suchen in den herabgewirtschafteten und vergleichsweise billigen Altbauquartieren Tür an Tür mit einer ebenfalls zahlungsschwachen Migrantenbevölkerung. Der drohende Abriss dieser Quartiere und die drohende Wegnahme der Preisbindung mit dem „Weißen Kreis“ war ein Griff ins ohnehin unruhige Wespennest. Protestbewegungen und Initiativen gegen dieses Vorhaben entfalteten sich vielerorts und schwappten bis hinein in die reformierten Universitäten. Die spätere Grünen-Politikerin Franziska Eichstädt-Bohlig, damals Assistentin im Fachbereich Architektur der TU-Berlin, hatte die Broschüre „Mieter gegen den Weißen Kreis“ mitverfasst und bescheinigte ihrem Studenten Reiner Wild „viel Wissenshunger, viel Engagement und ein gutes Verständnis für die sozialen und wohnungspolitischen Zusammenhänge.“ Neben persönlicher Förderung gehört zum Erfolg auch nicht ganz so zufälliges Glück.
In der ehrwürdigen Institution des Berliner Mietervereins – Gründungsjahr 1888 – hatte ein „Putsch“ der Jungen den alten Vorstand weggefegt. Heinz Janning, der entthronte Geschäftsführer, bescheinigte den unerwünschten Nachfolgern „utopische Ziele“ und „eine politische Linie, die weit links außen liegt“. Aus einem befristeten Werkvertrag für Reiner Wild wurde im November 1981 unter der neuen Führung mit Hermann Behlau und dem später eingestellten Geschäftsführer Hartmann Vetter eine Festanstellung. Der junge Wild(e) hatte sich offensichtlich bewährt. Eins seiner Aufgabengebiete: „Beteiligung an der wohnungspolitischen Interessenvertretung.“
Die 1980er Jahre waren für das Mieterbüro in der Wilmersdorfer Spichernstraße 12 ein Zeitraum stetigen, wenn auch abflachenden Mitgliederwachstums. Aus Bezirken wie Wilmersdorf, Schöneberg, Kreuzberg und Tiergarten, die damals noch keine hippen Quartiere für Aufsteiger und Arrivierte waren, rekrutierte der Verein den Hauptteil seiner Mitglieder. In all diesen Bezirken lag der Organisationsgrad deutlich über den Außen- und Randbezirken West-Berlins und dem gesamtstädtischen Durchschnitt. Der Kampf gegen die beschlossene Aufhebung der Mietpreisbindung in West-Berlin bestimmte über Jahre die politischen Aktivitäten des Vereins. 1987 war aber auch das gallische Dorf erobert: Als letzter deutscher Stadt wurde in Berlin das Vergleichsmietensystem eingeführt.
In West-Berlin tickten die Uhren auf ihre Weise, in der Dachorganisation der Mietervereine, dem Deutschen Mieterbund (DMB), herrschte eine andere Zeitrechnung. Reiner Wild gehörte wie Hartmann Vetter und die anderen Vertreter des Berliner Vereins zu den jungen Unangepassten im Deutschen Mieterbund. Traten die oft bärtigen und langhaarigen Vertreter des „Hausbesetzervereins“ – so der DMB-Flurfunk – bei Zusammenkünften des Dachverbands auf, ging das nicht ohne wechselseitigen Kulturschock vonstatten. Wild schilderte 2011, zu diesem Zeitpunkt längst anerkannter und geschätzter Vertreter im DMB, seine Erinnerung so: „Die Berliner Delegierten waren mit großer Ungeduld 1981 zum Deutschen Mietertag nach Freiburg gefahren. Ich war vom autoritären Führungsstil des Präsidenten überrascht und spürte bei den meisten anderen Delegierten viel Selbstgenügsamkeit und wenig Verständnis für Neues und Andersartiges. Vielleicht war das die typische Gemütslage nach der Wirtschaftswunderzeit.“ Ein Generationswechsel ist selten eine vergnügliche Veranstaltung, möchte der Chronist kommentierend hinzufügen.
Die 1990er: Der Mauerfall und eine neue Wirklichkeit
Mittlerweile zur festen Größe im Vereinsleben und in der Außendarstellung des BMV geworden, erlebte Reiner Wild im Jahr 1989 eine politische Erschütterung, die nicht nur den Verein, Berlin und Deutschland, sondern die ganze Welt verändert hat. Die Mauer und der Eiserne Vorhang fielen, und die politisch getrennten Stadthälften bildeten nun eine gemeinsame Verwaltungseinheit. Der Verein in der ehemals geteilten Stadt machte einen Sprung in die neue Zeit. Von rund 43.000 Mitgliedern 1989 wuchs die Zahl der Mitglieder auf rund 120.000 im Jahr 1999. Die Hauptgeschäftsstelle erlebte ihren ersten Umzug. Der Verein schlug sein neues Quartier in der östlichen Stadthälfte neben der britischen Botschaft und in Reichtagsnähe auf.
Es war die Zeit, in der Wild in den entspannten Stunden nach den unzähligen Events gerne von seinem Besuch in Ost-Berlin vor dem Mauerfall erzählte. Er hatte 1988 gemeinsam mit einer grünen Abordnung und dem Autor dieser Zeilen einen offiziellen Besuch in der DDR-Hauptstadt absolviert. Das Protokoll, das die Staatssicherheit von diesem Treffen verfasste, dokumentiert die andere, die unsichtbare Mauer, hinter der sich die DDR-Nomenklatura gegen die soziale Wirklichkeit verschanzt hatte: Ein von Selbstlob und Selbstgerechtigkeit triefendes Narrativ. Die Abwesenheit des Kapitalismus war offensichtlich kein Schutz vor Torheit und offiziell verordneter Weltverkennung.
Mit dem Fall der Mauer nahm die Arroganz der Macht neue Formen an. Die westdeutsche Parteienwalze planierte ziemlich schnell die bürgerbewegte DDR-Opposition, der sie die unblutige Ost-Revolution verdankte. Vielleicht lag es an den früh aufgebauten Kontakten zu den sympathischen Vertretern der Ost-Berliner Mieterschaft und den ehemals Bürgerbewegten, dass man den „Besserwessis“ und dem Gefasel vom „Demokratie- und Marktwirtschafts-Erlernen“ ebenso wenig Sympathie entgegenbrachte wie einst den Apparatschiks. Vielleicht ist sein Gedächtnis hier getrübt – aber der Autor meint sich an manches Gespräch zu erinnern, bei dem Reiner Wild die mit Macht aufkommende West-Arroganz bedauerte. Und man tat in jeglicher Beziehung gut daran, zum westdeutschen Siegestaumel Abstand zu halten.
Die 2000er Jahre: Der Sozialstaat schafft sich ab
Denn im Windschatten des vermeintlichen Endsiegs der westlichen Marktwirtschaft und als Reaktion auf die vereinigungsbedingte Höherverschuldung des Staates wurde in den 2000er Jahren die Wohnungspolitik schrittweise abgeschafft. Der Ökonom Peter Bofinger, zeitweiliges Mitglied im wirtschaftlichen Sachverständigenrat der Bundesregierung, hat die Jahrzehnte, die auf den Mauerfall und die Wiedervereinigung Deutschlands folgten, als „Jahrzehnte der Entstaatlichung“ bezeichnet. Mit dem fortschreitenden Abbau staatlicher Einflussnahme wurden dem öffentlichen Haushalt Ressourcen entzogen, mit denen er in den vorherigen Jahrzehnten über Programme und Investitionen lenkend und ausgleichend in das Wirtschaftsgeschehen eingegriffen hatte. Auch in Berlin wurde privatisiert und „gespart bis es quietschte“. Der Soziale Wohnungsbau wurde weitestgehend stillgelegt, bereits 1990 war das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz abgeschafft worden, und die städtischen Wohnungsunternehmen und ihre Bestände wurden privatisiert.
Als Reiner Wild den Staffelstab für die Geschäftsführung 2009 von seinem Vorgänger Hartmann Vetter übernahm, wurde ein Marathonläufer durch einen der fleißigsten Berliner Fahrradnutzer seiner Zeit ausgetauscht. Ein Soziologe trat an die Stelle eines Juristen, und die Bearbeitung der Medienöffentlichkeit rückte noch mehr ins Zentrum der Außendarstellung. Gemäß seinem Leitsatz, dass auch die „beste Rechtsberatung mieterfeindliche Gesetze nicht ausgleichen kann“, gehörte Wild zu den wichtigen Berliner Exponenten, die versucht haben, den bisweilen religiös anmutenden Glauben in die marktwirtschaftliche Wohnraumversorgung zu erschüttern. Von sozialdemokratischer Seite gab es bei diesem Versuch wenig Hilfe. Dem Chronisten geht es nicht um Schuldzuweisung. Die regierenden Parteien und Politiker sind immer zugleich Täter und Opfer der eigenen Weltsicht, und sie traten nie allein auf die Bühne der Weltgeschichte. Gerhard Schröder, früher Juso-Aktivist, dann Ministerpräsident, war zeitgleich mit Clinton in den USA und Blair in Großbritannien an die Macht gekommen. Beispielhaft für diese neue Sozialdemokratie steht die Aussage Blairs aus dem Jahr 2005: „Über die Globalisierung zu streiten, ist genauso sinnvoll wie darüber, ob auf den Sommer der Herbst folgen sollte.“ Für die Schutzmächte der kleinen Leute, die Mieterorganisationen wie die Gewerkschaften und andere, waren weiß Gott schwere Zeiten angebrochen. „Wenn sich durch politische Intervention die Gegebenheiten und Gesetze der Marktwirtschaft und Globalisierung nicht verändern lassen, wozu sollte man dann in einen politischen Verband eintreten?“, fragte damals ein Sozialwissenschaftler zu Recht.
In dieser Phase zwischen 1999 und 2009 gab es 25-prozentige Mitgliederzuwächse im BMV – eine stolze Leistung. Im gesamten Bundesgebiet musste der Deutsche Mieterbund nach der Wende-Euphorie dagegen erstmals wieder Mitgliederrückgänge hinnehmen – ein Schicksal, das der DMB mit dem DGB teilte, der einen noch deutlich stärkeren Mitgliederschwund verzeichnete.
Aus dem jungen Wild(en) von damals war mittlerweile ein sesshafter Familienvater mit Ehefrau und drei Kindern geworden. Wilds einjähriger Vaterschaftsurlaub nach der Geburt des ersten Sohnes 1994 mag illustrieren, wie ernst er seine Vaterrolle nahm. Im politischen Geschäft, als Teamplayer in einer kinderreichen Familie trainiert, war aus ihm ein Mensch geworden, der im Umgang mit den Repräsentanten der alten Institutionen Geduld und diplomatisches Geschick erworben hatte. Er war dabei ebenso freundlich wie hartnäckig geblieben. Seine Mitstreiter ebenso wie seine politischen Gegner bezeugen das voller Respekt. Anders als viele Jungmarxisten von einst war Reiner Wild nicht auf die marktkonforme Gewinnerseite gewechselt, auf der man deutlich schneller und leichter Geld verdienen konnte. Er hatte allerdings auch darauf verzichtet, einen fundamentalistischen Staatsglauben gegen die marktreligiösen Positionen in seinem Umfeld zu entwickeln. Die DDR-Erfahrung war vermutlich noch zu lebendig. Nicht zuletzt war etwas anderes helfend dazugekommen: die wachsende Skepsis gegenüber dem grenzenlosen kapitalistischen Wachstum, das der Club of Rome 1972 erstmals kritisiert hatte. Der zweite große Reaktorunfall nach Tschernobyl in Fukushima 2011 wurde durch einen Tsunami ausgelöst, ein Naturereignis, das die meisten Menschen nicht einmal als Begriff kannten. Als deutsche Reaktion darauf verkündete die konservative deutsche Regierungschefin den mittelfristigen Ausstieg aus der Atomenergie und das stufenweise Abschalten der Reaktoren. Es war ein Positionswechsel der Konservativen, der ohne das sehr gute Abschneiden der Grünen bei der Bundestagswahl 2009 mit 10,7 Prozent nicht stattgefunden hätte. Die unlängst noch als „Oköspinner“, „Technologiefeinde“ und „Wachstumsgegner“ Verhöhnten hatten Recht behalten. Hartmann Vetter und sein Nachfolger Reiner Wild gehörten zu ihnen. Vetter hatte als Präsidiumsmitglied des DMB Franz Josef Radermacher, ein Mitglied des Club of Rome, als Hauptreferenten auf den Stuttgarter Mietertag geholt. Selten hat der Autor dieser Zeilen eine so nachdenkliche Menge von DMB-Mitgliedern aus dem Vortragssaal gehen sehen. Ohne die weltweit gewachsene Reputation der Klimaforschung und ohne eine Reihe von klimatischen Kleinkatastrophen danach wäre das vermutlich nicht möglich gewesen.
Die 2010er Jahre – Untote leben länger
Mit mehr als 158.000 Mitgliedern drohte der Verein aus den Nähten zu platzen, und „die Zentrale“ brauchte eine neue Behausung für ihre angewachsene Mitarbeiterschar. Unter Wilds Führung blieb der BMV trotz Gegenwind unverdrossen auf der marktkritisch-sozialen Seite positioniert. Argumentieren und kritisieren ist das Eine, die „normative Kraft des Faktischen“ besitzt jedoch eine ganz andere Überzeugungskraft. Erst ein Fast-Zusammenbruch der Weltwirtschaft 2008 und 2009, ausgelöst durch global entfesselte Finanzmärkte, stoppte fürs Erste die marktreligiöse Bewegung. „Das Vertrauen in die selbstregulierenden Kräfte einer weitgehend unkontrollierten Marktwirtschaft ist weg.“ Im Nachhinein wird man diesen optimistischen Blick Wilds – viele teilten ihn – dem Prinzip Hoffnung zuschlagen. Der Neoliberalismus hat noch lange und fröhlich weiterexistiert, aber schon gegen Ende der 2000er Jahre begann sich außerhalb des Parlaments und des etablierten Parteienspektrums die Empörung gegen seine Folgen zu formieren. Nicht nur deshalb war die Zeit nach 2010 in wohnungspolitischer Hinsicht bemerkenswert. Nachdem viele Städte, so auch Berlin, längst ihr öffentliches Wohnungsvermögen verkauft hatten und über das Ausmaß der Wohnungsleerstände lamentierten, baute sich zeitgleich und von offizieller Seite weitgehend unbeachtet eine Wohnraumknappheit auf. Die Migration in Folge der Schengenraum-Erweiterung der EU hatte einen maßgeblichen Anteil an diesem Prozess. Zeitweilig kamen bis zu 70 Prozent der Nettozuwanderung in ost- wie westdeutschen Großstädten aus den ärmeren und wirtschaftsschwächeren Regionen Osteuropas. 2015 verstärkte die kriegsbedingte Flucht aus den syrischen Kriegsgebieten die Situation. Wieder einmal war die Wohnungspolitik Getriebene von Migrationsprozessen, auf die sie reagieren musste. Diesmal aber wurde sie auf dem falschen Fuß erwischt.
„Ab 2008 demonstrierte die Politik zunächst durch die Bankenrettungen, anschließend in der Europäischen Union durch die Staatenrettungen und schließlich in der Flüchtlingskrise eine Handlungsfähigkeit und fiskalische Belastbarkeit, die es der jahrzehntelangen Rhetorik von ‚keine Alternative‘ und die ‚Kuh ist gemolken‘ zufolge nicht hätte geben dürfen“, so der Aachener Politikwissenschaftler Alban Werner. Die Kapitulation des Sozialstaats, die sowohl die Arbeits- wie die Wohnungsmärkte paralysierte, leitete nun Wasser auf die Mühlen einer erstarkten nationalistischen Bewegung. Vermeintlich als Fürsprecher und Im Namen der kleinen Leute, die ihre politischen Schutzmächte weitgehend verloren hatten, konnten fremdenfeindliche Parteien scharenweise Wähler gegen die etablierten Regierungen mobilisieren – eine Entwicklung, zu der es auch hier wieder weltweite Parallelen gab, wie Frankreich und die USA gezeigt haben.
Dennoch regierte von 2016 bis heute eine rot-rot-grüne Koalition die Hauptstadt. Das war kein ausschließlich lokal errungener Erfolg. Nicht nur die AfD, sondern auch Parteien auf der linken Seite hatten den etablierten Parteien bundesweit das Wasser abgegraben. Der Generationswechsel spielte dabei wieder eine große Rolle. Während 2019 in den ehemals großen „Volksparteien“ CDU und SPD die über Sechzigjährigen mehr als die Hälfte der Mitglieder stellten, waren es bei den Grünen weniger als ein Viertel. Die Anteile der Jüngeren lagen bei den Grünen mehr als doppelt so hoch wie bei ihren etablierten Kontrahenten. Ähnliches galt für den Frauenanteil, der bei den Grünen allmählich auf die 50-Prozent-Marke zurückte, während das organisierte „Volk“ bei den Etablierten lediglich zu einem Drittel weiblich war. Kurz: Die Bewegung rund um die umweltpolitischen Themen war radikaler, jünger und weiblicher. Vor dem Hintergrund dieses bundesweiten Trends war es kein Wunder, dass in Berlin, der Stadt der Hochschulen, der Jungen, der Ost-West-Begegnung und der Alternativkultur eine Allianz des Unmuts und Reformwillens möglich wurde. Es war eine Koalition, die auf Kosten der SPD ging, die auf rund 22 Prozent (2016) abgerutscht war. Der kleine Vorsprung reichte dennoch zur Führungsrolle in einer Koalition. Reiner Wild und die von ihm vertretenen Mieterinteressen – das dokumentieren viele Fotos – fanden bei der Bausenatorin, einer Vertreterin der Linken, deutlich mehr Gehör als bei den Verantwortlichen davor.
Die Wohnungspolitik spielte im Verlauf der 2010er Jahre eine zunehmend wichtigere Rolle. Im Windschatten wachsender Proteste gegen rasant steigende Mieten, finanzmarktgetriebenen Handel mit Wohnimmobilien durch Unternehmen wie Deutsche Wohnen und Vonovia vergrößerte sich auch für den BMV der politische Handlungsspielraum und der Resonanzraum für bessere Schutzregelungen. Anfangs taten sich die Etablierten schwer: „Ich muss Ihnen nicht sagen, dass die offiziell und nachhaltig kommunizierte Bewertung des Berliner Wohnungsmarktes als ‚entspannt‘ rechtliche Folgen hat und dazu beiträgt, dass auch die wenigen rechtlichen Steuerungsinstrumente zur Sicherung bezahlbarer Mieten … damit funktionslos gemacht beziehungsweise in ihrer Wirkung stark beschnitten werden.“ Das hatten in einer gemeinsamen Initiative von BMV und DMB Mieterbundpräsident Franz Georg Rips dem Regierenden Bürgermeister von Berlin noch 2015 schriftlich zukommen lassen. In den Folgejahren versuchten die Berliner und der ebenfalls an den Regierungssitz Berlin umgezogene Mietervereins-Dachverband DMB, die Folgen der zunehmenden Mangellage durch neue und verbesserte Rechtsinstrumente des Mieterschutzes in Grenzen zu halten. Es gab Initiativen gegen Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen und Eigenbedarfskündigungen als Folge. In Großstädten mit angespannten Wohnungsmärkten wie Berlin wurde 2015 eine „Mietpreisbremse“ eingeführt und auf Druck der Mieterverbände 2019 verschärft. Sie sollte die weitgehend ungebremste Ausnutzung der Mangellage im Fall von Wiedervermietung zügeln. All dies – so sah es Reiner Wild – wäre „ohne den wachsenden Druck von der Straße“ nicht möglich gewesen. Aber er half nur bedingt. Die ansteigenden Miet- und Immobilienpreise koppelten sich immer weiter von der Einkommensentwicklung der Mieterinnen und Mieter ab, und die Mietpreisbremse bei Wiedervermietungen wurde dank ihrer zahlreichen Schlupflöcher zu einem weitgehend zahnlosen Papiertiger. Anders als vor 2008 war es nun schwieriger, die sozialstaatliche Ohnmacht als „alternativlos“ zu verkaufen. Im April 2019 entlud sich die Empörung gegen den „Mietenwahnsinn“ in einer Berliner Großdemonstration. Die Schätzungen der Teilnehmerzahl reichten von 20.000 bis 40.000.
Im Juni 2018 warf Peter Weber – ein Jurist beim Bezirksamt Pankow – mit einem Fachartikel einen Stein in das bereits brodelnde Wasser. Er plädierte darin für einen landesrechtlichen Mietendeckel mit amtlich festgelegten Obergrenzen. Das warf beachtliche Wellen. SPD-Bundestagsabgeordnete, die Berliner SPD-Fraktion, Grüne und Linke sowie Berlins Bausenatorin Lompscher griffen die Grundidee auf, und der BMV erarbeitete einen Gesetzentwurf. Im April 2019 kam für die Mietendeckel-Initiative grünes Licht aus dem Büro des Regierenden Bürgermeisters Müller. Rainer Tietzsch, seit 2014 Vorstandsmitglied und seit 2017 Vorsitzender des BMV, hatte zusammen mit Reiner Wild und anderen Fachleuten einen langfristig konzipierten, juristisch belastbaren Mietendeckel ausgearbeitet. Ein Mietenstopp für fünf Jahre, nach Wohnwert differenzierte Mietobergrenzen und ein auch bei Wiedervermietung gültiges Verbot zur Überschreitung der Obergrenzen waren die Eckpunkte eines dann beschlossenen Landesgesetzes, in das die BMV-Vorschläge weitgehend eingearbeitet waren. „Ein historischer Erfolg“, kommentierte Wild diesen Schritt. Der Wechsel zu einer einfach anwendbaren, rechtssicheren Höchstmiete war jedoch leider nur ein Etappensieg. Im April 2021 erklärte das Bundesverfassungsgericht, dass das Land Berlin die Kompetenz zum Erlass eines solchen Gesetzes nicht hätte. Der mit „Blut, Schweiß und Tränen“ errungene Erfolg endete in „einem schwarzen Tag für die Mieter“ (Wild/Tietzsch). Wieder einmal wurde klar, dass Politik – wie der Soziologe Max Weber es formuliert hat – „das beharrliche Bohren dicker Bretter“ bleibt. Bereits eingeleitet ist deshalb eine neue Etappe, an deren Ende ein mietendeckelndes Bundesgesetz stehen könnte.
Wenn einer wie Reiner Wild jetzt von der Bühne abtritt, wird er den Nachfolgenden kein organisatorisches und politisches Vakuum hinterlassen. Denn er hat denen, die mit ihm als Schutzmacht der kleinen Leute gekämpft haben, Kampfgeist und Beharrlichkeit gepaart mit freundlicher Bescheidenheit und damit eine politische Praxis hinterlassen, an die man sich erinnern wird.
Ein Dankeschön dafür, „Chapeau!“
und viel Spaß bei Deinen neuen Fahrradtouren, Reiner.
Vom schwierigen Unterfangen des Biografen
Bei jedem biografischen Versuch stellt sich dem Autor die Frage, wie und was er über das Leben eines anderen Menschen schreiben darf, ohne anmaßend zu sein. Es bleibt allemal ein schwieriges Unterfangen, bei dem sich der Schreiber nur in einem Punkt sicher ist: Keine Lebensgeschichte ist die in sich stimmige Verwirklichung eines persönlichen Entwurfs. Man schreibt mit an seiner Biografie, aber man schreibt sie nicht selbst. Es gibt viele – wir nennen sie „die Gesellschaft“ –, die erwünscht oder ungebeten die Feder (mit)führen. In diesem Sinne bittet der Autor die wertgeschätzte Person, um die es geht, um Verständnis für mögliche Fehler, Auslassungen und die eingeflochtene Ironie. Was das Letztere angeht, möchte der Erzähler sich hinter dem großen Shakespeare verstecken, der am Ende von Macbeth sagen lässt: „Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild. Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht. Sein Stündchen auf der Bühn’ und dann nicht mehr. Vernommen wird; Ein Märchen ist’s. Erzählt von einem Blöden, voll Klang und Wut, das nichts bedeutet.“
Armin Hentschel
26.08.2022