Der Norden Neuköllns gilt als neues Szeneviertel. Die Mieten steigen auf breiter Front. Doch eine Tendenz zur vielbeschworenen Gentrifizierung ist kaum festzustellen. Ausnahme: der Reuterkiez.
Die Anwohner des Richardplatzes haben jetzt schwarz auf weiß, was sie schon vermuteten: „Es hat einen deutlichen Mietanstieg im Gebiet gegeben“, fasst Sigmar Gude vom Stadtforschungsbüro Topos die Ergebnisse seiner Studie zusammen, die er im Auftrag des Quartiersmanagements Richardplatz-Süd erstellt hat. Innerhalb von drei Jahren sind die Bruttowarmmieten um 13 Prozent angestiegen. Während 2007 die Durchschnittsmieten dort noch weitgehend unterhalb des Berliner Mietspiegels lagen, befinden sie sich jetzt durchweg darüber. Es hat in dieser Zeit eine stark erhöhte Fluktuation gegeben: 36 Prozent der Bewohner sind seit 2007 ins Gebiet gezogen. Ein Viertel der Zugezogenen sind Studenten.
Das sind alles typische Anzeichen für eine Gentrifizierung. Dieser soziologische Begriff bezeichnet eine schrittweise Aufwertung eines Stadtteils, durch die zum Schluss die Mieten so sehr steigen, dass die angestammte Bewohnerschaft verdrängt wird. Doch Sigmar Gude kommt für den Richardkiez zu der Einschätzung: „Eine Gentrifizierung ist nicht zu erkennen.“ Der Grund: Die Zuziehenden kommen vor allem aus anderen Teilen Neuköllns und haben keine höheren, sondern sogar etwas niedrigere Einkommen als die, die schon länger dort wohnen.
Steigende Mieten sind in ganz Nord-Neukölln zu beobachten. Die Nachfrage nach innerstädtischen Altbauwohnungen ist hoch. Bei Wohnungsbesichtigungsterminen sind wieder Menschentrauben zu beobachten – ein Phänomen, das in Neukölln schon in Vergessenheit geraten war.
Willi Laumann von der Neuköllner Bezirksleitung des Berliner Mietervereins hat im April 2010 die Angebote aus den Immobilienportalen ausgewertet und deutlich höhere Mietforderungen festgestellt als der Wohnungsmarktbericht der Investitionsbank Berlin (IBB) von 2009. Der IBB zufolge waren noch 35 Prozent der Neuköllner Wohnungen für unter 5 Euro pro Quadratmeter zu haben, bei Laumanns Erhebung waren es nur noch knapp 22 Prozent. Der Anteil der Angebote über 6 Euro stieg gegenüber den IBB-Zahlen von 23 auf 31 Prozent.
Der Reuterkiez zeigt dabei auffällige Werte. „Da sind die Mieten etwa 50 bis 75 Cent pro Quadratmeter höher“, berichtet Willi Laumann. Unter 5 Euro gab es im Reuterkiez gar keine Angebote mehr.
Gleichzeitig verändert sich auch die Eigentümerstruktur: Viele kleine Hausbesitzer, die in Neukölln noch häufig vertreten sind, verkaufen ihre Immobilien. An ihre Stelle treten meist Immobilienunternehmen, die in spekulativer Absicht die Mieten hochschrauben. „Es sind immer die gleichen Anbieter, die die teuren Mieten nehmen“, hat Laumann beobachtet.
Ob Gentrifizierung oder nicht – die Mietenentwicklung stellt die geringverdienenden Neuköllner vor große Probleme. Rund 40 Prozent der Nord-Neuköllner leben in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften. Vor steigenden Mieten können sie praktisch nirgendwohin ausweichen.
Jens Sethmann
MieterMagazin 10/10
Wochenmarkt am Maybachufer im Reuterkiez: „Gefühltes Kreuzberg“ in Nord-Neukölln – auch bei den Miethöhen
Foto: Sabine Münch
17.12.2015