Ende April wurden in Prenzlauer Berg die Sanierungsgebiete Winsstraße und Bötzowstraße nach 16 beziehungsweise 15 Jahren aufgehoben. Beide Gebiete haben sich stark verändert und sind stellenweise nicht mehr wiederzuerkennen. Auch die Bevölkerung ist nach eineinhalb Jahrzehnten weitgehend ausgetauscht.
Wer es sich leisten konnte, zog noch Mitte der 90er Jahre aus Prenzlauer Berg weg. Möchte man heute dort hinziehen, muss man es sich auch leisten können. Den Wandel vom bodenständigen Arbeiterbezirk mit alternativen Nischen zum bürgerlich-gediegenen Quartier mit Ökoanspruch spiegeln die Sanierungsgebiete Winsstraße und Bötzowstraße wider. Straßencafés, Kinderwagenkarawanen, Yogastudios, Musikschulen, Weinläden – jedes der Prenzlauer-Berg-Klischees scheint hier eine reale Entsprechung zu finden.
Das Winsstraßenviertel war im Vergleich zu den Nachbarkiezen immer eine graue Maus. Im Gegensatz zum Kollwitzkiez oder zum Bötzowviertel hatte es keinen Stadtplatz und keine repräsentativ breiten Straßen. Dafür gab es in den Blöcken zwischen Prenzlauer Allee und Greifswalder Straße mehrere Gewerbehöfe, zwei Umspannwerke und das Rettungsamt in der Marienburger Straße.
Die Bürger legten Hand an
Anstelle des abgerissenen Rettungsamtes entstand ab 1998 der Stadtplatz „Marie“ – zunächst nur als Zwischennutzung, denn das Grundstück war für den Neubau einer Polizei- und Feuerwache vorgesehen. Nachdem jedoch die Feuerwehr eine Ersatzfläche bekam, war die „Marie“ dauerhaft gesichert. Die Anwohner haben die Grünanlage selbst in einem Workshop entworfen und sogar beim Bau mitgeholfen. „Man merkt es dem Platz an, dass er von Leuten gemacht wurde, die den Park haben wollten“, sagt Constanze Siedenburg von der Betroffenenvertretung Winsstraße. Der Platz ist zum Mittelpunkt des Viertels geworden. „Der ganz besondere Erfolg liegt in dem unglaublichen Engagement der Bewohner“, lobte denn auch Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) bei der Eröffnung einer Ausstellung über das Sanierungsgebiet.
Erfolgreiches Bürgerengagement stand im Bötzowviertel ganz am Anfang der Sanierung: Anwohner konnten verhindern, dass das Filmtheater am Friedrichshain abgerissen wird. Das Bötzowviertel gilt seit jeher als ein „besseres“ Quartier in Prenzlauer Berg. Die Wohnhäuser sind hier repräsentativer und großzügiger gebaut worden und die Nähe zum Volkspark Friedrichshain gab dem Viertel eine bevorzugte Lage. Im östlichen Teil hinterließ der Krieg jedoch größere Zerstörungen. Die wiederaufgebauten Wohnblocks aus den 50er Jahren zählten nicht zum Sanierungsgebiet.
Vor allem der südliche Teil des Gebietes hat sich in den letzten Jahren komplett gewandelt. Die Sanierungsziele wurden hier auch mehrfach geändert. Auf dem Gelände des ehemalige Saalbaus Friedrichshain ließ sich zunächst eine Wagenburg nieder, bevor dort eine Seniorenresidenz gebaut wurde. Im „Schweizer Garten“, wo ursprünglich eine Grünanlage, eine Kita und eine Jugendfreizeiteinrichtung entstehen sollten, wurde ab 2005 eine exklusive Townhouse-Siedlung hochgezogen. Nach und nach entstanden entlang der Straße Am Friedrichshain weitere teure Eigentumsneubauten.
Die Modernisierung der Wohnsubstanz hat im Bötzowviertel gerade so die Zwei-Drittel-Marke erreicht, die zur Aufhebung als maßgeblich gilt. Im Winsstraßenviertel hat man bei erreichten 60 Prozent auch noch ein Auge zugedrückt. Vor allem an der Greifswalder und Danziger Straße gibt es noch Häuser mit großem Sanierungsbedarf.
In beiden Gebieten hinkte die Sanierung der öffentlichen Infrastruktur wie Schulen, Kitas, Grünanlagen, Straßen und Gehwege weit hinterher. Mit Ausnahme des Umbaus der Poliklinik in der Christburger Straße zur Grundschule wurde damit auch erst ab 2002 begonnen. Deshalb ist das schon für 2010 vorgesehene Ende des Sanierungsgebiets Winsstraße um ein Jahr verschoben worden.
Akademiker haben Zweidrittelmehrheit
Auch die Betroffenenvertretung des Bötzowviertels hat eine Verlängerung gefordert, weil eine dringend benötigte Schulsporthalle und eine schmerzlich vermisste Jugendfreizeiteinrichtung immer noch nicht gebaut werden konnten. Sie drang damit aber bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung nicht durch. Nun müssen die noch ausstehenden Sanierungsvorhaben in dem dreijährigen „Nachwirkungszeitraum“ erledigt werden.
Die Bevölkerungsstruktur wurde stark umgewälzt. Von den heutigen Bötzowviertelbewohnern lebten nur 14 Prozent schon 1990 im Gebiet, von den Bewohnern des Winsstraßenviertels 12 Prozent. Die Quartiere haben sich zu wahren Akademikervierteln entwickelt: Von den erwachsenen Bewohnern haben 63 Prozent (Bötzowstraße) beziehungsweise 77 Prozent (Winsstraße) einen Hochschulabschluss. Das mittlere Haushaltsnettoeinkommen liegt im Bötzowviertel bei 2000 Euro, an der Winsstraße sogar bei 2300 Euro und damit weit über dem Berliner Schnitt von 1500 Euro. Die durchschnittliche Nettokaltmiete betrug 2010 im Bötzowviertel 5,80 Euro pro Quadratmeter, im Gebiet Winsstraße ein Jahr zuvor 5,77 Euro. Bei Neuvermietungen werden im Schnitt schon deutlich mehr als 8 Euro verlangt. „Das Ziel einer sozialverträglichen Erneuerung ohne Verdrängung haben wir nicht erreicht“, meint Pankows Baustadtrat Michail Nelken (Die Linke). „Hier hat sich ein Gentrifizierungsprozess vollzogen.“
Ins Bild der Verbürgerlichung passt auch das Sterben der Alternativkultur: Nach 59 Jahren musste zum Jahresende 2010 der Knaack-Club in der Greifswalder Straße schließen. Bewohner eines neugebauten Querflügels, der sich ohne den nötigen Schallschutz direkt an die Brandwand des Knaack anlehnt, haben sich mit Klagen wegen der Lärmbeeinträchtigung gerichtlich durchgesetzt.
Wenige Meter weiter mussten im ehemaligen „Treffmodelle“-Gewerbehof das Off-Theater Eigenreich und der Magnet-Club der Sanierung weichen. Letzterer ist im vergangenen Jahr nach Kreuzberg gezogen. In den ehemaligen Magnet-Räumlichkeiten befindet sich jetzt ein Bio-Supermarkt. Ebenfalls 2010 kam das Aus für das Programmkino „Blow Up“ in der Immanuelkirchstraße. Hier ist nun ein anspruchsvolles Nachhilfeinstitut eingezogen, das nach der Methode des „neurosystemischen Lernens“ arbeitet. Ins Klischee fügen sich auch die neuen Nutzungen der früheren Sanierungsinstitutionen nahtlos ein: Im Vor-Ort-Büro der Mieterberatung Prenzlauer Berg in der Christburger Straße befindet sich jetzt eine Beratungsagentur für Baugruppen, im Laden der Betroffenenvertretung Winsstraße wird nun „strukturelle Körpertherapie“ praktiziert.
Jens Sethmann
In Zahlen: Winsstraße
Das 1994 festgelegte Sanierungsgebiet Winsstraße liegt zwischen Prenzlauer Allee und Greifswalder Straße, umfasst zehn Straßenblöcke und hat eine Fläche von 35 Hektar. In den 5200 Wohnungen leben heute 8900 Menschen – 14 Prozent mehr als 1994. Zu Beginn der Sanierung waren von 4850 Wohnungen 4350 erneuerungsbedürftig. Bis Ende 2010 sind davon 2620 erneuert worden, also 60 Prozent. 509 Wohnungen sind umfassend gefördert worden und unterliegen deshalb einer Miethöhe- und Belegungsbindung. Die öffentliche Hand investierte bis 2010 insgesamt 99,5 Millionen Euro in dieses Gebiet.
In Zahlen: Bötzowstraße
Das Sanierungsgebiet Bötzowstraße wurde 1995 festgesetzt. Zum 29 Hektar großen Gebiet gehören neun Straßenblöcke zwischen Greifswalder Straße und Hans-Otto-Straße. Manche Blöcke zählen aber nur teilweise dazu. Die Einwohnerzahl hat sich seit 1995 um 20 Prozent auf 6150 erhöht. Von den knapp 3200 Altbauwohnungen sind heute 66 Prozent modernisiert. 404 mit öffentlicher Förderung sanierte Wohnungen unterliegen den Sozialbindungen. Durch Neubau und Dachgeschossausbauten stieg die Gesamtzahl der Wohnungen auf 3550. Bis 2010 sind insgesamt 53,7 Millionen Euro an öffentlichen Geldern investiert worden.
js
MieterMagazin 10/11
Das Quartier um die Winsstraße: früher „graue Maus“, heute Hort der Gutsituierten
An der Straße Am Friedrichshain entstanden Neubauten mit Eigentumswohnungen
Ein Stadtplatz nach Bewohnergeschmack
Gehwegaufpflasterung in der Marienburger Straße
Ein Stadtplatz nach Bewohnergeschmack
Das Bötzowviertel gilt traditionell als „besserer Teil“ von Prenzlauer Berg
alle Fotos: Sabine Münch
20.12.2015