Das Corbusierhaus in der Charlottenburger Flatowallee 16 feiert einen runden Geburtstag: 1958 zogen die ersten Mieter in die 530 Wohnungen ein. Das einstige Zukunftsmodell hat eine wechselhafte Geschichte durchgemacht.
Eine „vertikale Stadt im Grünen“ sollte die „Unité d’habitation Typ Berlin“ sein, wie das Haus von seinem Architekten Le Corbusier (1887 bis 1965) getauft wurde: Supermarkt, Waschsalon, Postamt und Ärzte – alles unter einem Dach und alles er-reichbar, ohne dass man das Haus verlassen musste. Diese Vision vom Wohnen der Zukunft wurde vor 50 Jahren verwirklicht. Die 135 Meter lange, 17 Stockwerke hohe und auf Stelzen stehende „Wohnmaschine“ fällt schon durch ihre schiere Größe aus dem Rahmen.
Das Haus war eigentlich als Teil der „Interbau 1957“ konzipiert. Doch zur Bauausstellung konnte man nur die Baustelle besichtigen. Zunächst gab es in der Villengegend an der Heerstraße zähen Widerstand gegen das riesige Ungetüm, das auf dem Hügel neben dem Olympiastadion entstehen sollte. Dann wehrte sich Le Corbusier lange gegen die Bauverwaltung, die auf die Berliner Bauordnung pochte und Raumhöhen von mindestens 2,50 Metern forderte. Der Architekt hatte nach seinem ausgeklügelten „Modulor“-Maßsystem nur 2,26 Meter hohe Decken vorgesehen. Erst nach langem Ringen gab er nach. Infolgedessen mussten auch die Raumbreiten umgeplant werden, um die Proportionen zu wahren. Le Corbusier hat sich deswegen später von dem Haus distanziert und es ein „Gestell für Flaschen“ genannt.
Die 17 Wohngeschosse werden über zehn sogenannte Innenstraßen erschlossen: 130 Meter lange Mittelflure, die sich durch die ganze Länge des Hauses ziehen. Etwas Besonderes sind auch die verschachtelt angeordneten Wohnungen. Sie haben oft zwei Geschosse, die über eine Innentreppe verbunden sind, und erstrecken sich teilweise von der Ost- zur Westseite des Hauses. Unverwechselbar ist auch das Farbenspiel der leuchtend-bunten Loggien.
1979 wurde das Haus zum Spekulationsobjekt: Die Immobilienfirma Bendzko kaufte es zum Quadratmeterpreis von 750 DM, wandelte die Sozialwohnungen in Eigentumswohnungen um und bot sie zum Verkauf an – zunächst nur den Mietern zum Preis von 1600 bis 1800 DM, später auch Kapitalanlegern für bis zu 2600 DM pro Quadratmeter. Dabei hatten sich in den 20 Jahren zuvor erhebliche Instandhaltungsmängel angestaut, für deren Beseitigung die neuen Wohnungseigentümer aufkommen mussten. In den Jahren 1983 und 1984 wurde eine umfangreiche Betonsanierung durchgeführt. Das Corbusierhaus wurde 1994 zum Baudenkmal erklärt. Seitdem wurden die Innenstraßen und das Foyer denkmalgerecht wiederhergestellt, nach und nach werden auch die Fenster erneuert.
Allen Wirren zum Trotz gibt es heute noch Mieter der ersten Stunde, die vom Haus immer noch begeistert sind und auch nicht mehr ausziehen wollen.
Jens Sethmann
MieterMagazin 11/08
130 Meter lange Flure durchziehen das Corbusierhaus
Foto: Sabine Münch
26.12.2018