In den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gaben viele Künstler dem ramponierten Westteil der Stadt auf unzähligen, riesigen Wandflächen ein buntes Gesicht – nicht selten mit gesellschaftskritischen Inhalten. Inzwischen ist eine beträchtliche Zahl der Kunstwerke verfallen oder ganz verschwunden. Doch es gibt Anzeichen für eine Renaissance – wenn auch eine entpolitisierte.
„Farbe im Stadtbild findet als Gestaltungsmittel zur Verbesserung der Lebensqualität unserer gebauten Umwelt bei Architekten, Bürgern und Politikern besondere Beachtung“, so Wolfgang Nagel im August 1989. Der damalige Senator für Bau- und Wohnungswesen blickte erwartungsvoll in die Zukunft: „Um die Attraktivität unserer Stadt weiter zu steigern, werden deshalb auch künftig Maßnahmen zur Verbesserung des Stadtbildes und damit die Farbe im Stadtbild gefördert.“ Es kam anders.
Wer heute durch Berlin flaniert und sein Augenmerk auf Fassadenbilder richtet, findet vor allem Werke aus den 70er und 80er Jahren. In diesen beiden Jahrzehnten hatte die Wandmalerei im öffentlichen Raum eine Hochphase. Die Motive jener Zeit prägen das Stadtbild bis heute, wenn auch viele bereits abblättern oder verblassen und einige ganz verschwunden sind.
Gesellschaftskritik im Großformat
Die erste bedeutende Wandbemalung West-Berlins aus jener Epoche stammt von dem Künstler Ben Wargin an einer Brandmauer in der Bachstraße, unmittelbar neben dem S-Bahnhof Tiergarten. Das Motiv ist heute kaum noch erkennbar: Das Auspuffrohr eines Motorrades bringt einen Baum zum Schreien, darüber ist ein Schiff zu sehen, das neue Bäume heranschafft – eine großformatige Auseinandersetzung mit dem damals aufkeimenden Thema Umweltzerstörung.
Solche kritischen Äußerungen fanden seinerzeit auch Akzeptanz beim „Establishment“: Unter das Bild mit dem Titel „Weltbaum – Grün ist Leben“ setzte der damalige Senator für Bau- und Wohnungswesen Harry Ristock bei der Einweihung seinen Namen. 1978 begann die West-Berliner Verwaltung die Wandgestaltung auch finanziell zu unterstützen. Den Anfang machte das Förderprogramm „Farbe im Stadtbild“. Zwei Jahre später folgte „Kunst im Stadtraum“: Mit jährlich drei Millionen D-Mark wurden offene Wettbewerbe finanziert.
Mit der Fassadenmalerei wurde eine Kunstform gefördert, die einen ausgeprägten gesellschaftskritischen Aspekt hatte. In den 70er und 80er Jahren waren es nicht zuletzt die „Instandbesetzer“ verfallener Altbauten, die Fassadenmalerei in Berlin im großen Stil betrieben haben. Zu den prominentesten Beispielen der Szene zählt bis heute das Tommy-Weisbecker-Haus in der Wilhelmstraße 9 in Kreuzberg. Auf dem Bild „Kabylon“ wird ein Turm aus Fernsehern dargestellt – eine Kritik an dem damals anbrechenden Zeitalter des Kabelfernsehens mit seinen unzähligen TV-Programmen.
Illusionismus mit Tradition
Gehen wir in der Zeit 100 Jahre zurück: Entstanden sind die steinernen Leinwände im Rahmen der sprunghaften baulichen Entwicklung Berlins im 19. Jahrhundert. Das enorme Bevölkerungswachstum der Spreestadt führte zu einem Bauboom, der die typischen Berliner Mietskasernenquartiere hervorbrachte – enge Bebauungen mit diversen Hinterhöfen und Seitenflügeln, deren Brandwände nackt und kahl blieben. Diese Flächen wurden schon in der Gründerzeit bemalt, um den baulichen Makel zu übertünchen. Naturalistische Landschaften und Anklänge an historische Architektur aus Renaissance, Gotik oder Barock zierten die Hofwände. Solche illusionistischen Motive haben eine lange Tradition (siehe Kasten auf Seite 18) und sie werden bis heute gerne verwendet.
Aber erst durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs wurde eine riesige Zahl von Brandwänden „freigelegt“. Bomben hatten in der ganzen Stadt Lücken in die ehemals geschlossenen Altbaublöcke gerissen. Viele dieser Lücken sind Brachen geblieben. Hinzu kamen Abrisse, die Platz schaffen sollten für breite autogerechte Straßen. Nicht nur entlang der innerstädtischen Autobahnen reihen sich kahle Wände in großer Zahl, sondern auch mitten in den Wohnquartieren – etwa entlang der Flughafenstraße in Neukölln.
Dort haben die Künstler des Ateliers „Oranienstraße 19 a“ (siehe Kasten „Der Stadtwandel spiegelt sich in der Kunst“) 1989 ein Bild erschaffen, das gleich auf zwei Epochen der Berliner Geschichte anspielt: Es zeigt einen „Rosinenbomber“ im Landeanflug auf den Flughafen Tempelhof, darunter eine Gruppe Kinder, die zum Flugzeug hinaufblicken. Dieses Gemälde zitiert ein bekanntes Foto von Henry Ries aus den Zeiten der Luftbrücke. Das Motiv wird von zwei Bögen eingerahmt, als ob der Betrachter durch Fenster oder Arkaden blicken würde – ein Stilmittel, dass wiederum schon während der Gründerzeit bei Fassadenbemalungen äußerst beliebt war.
Spielerisch und ironisch war auch der Umgang anderer Künstler mit der Tradition, auf kahlen Wänden Architektur zu simulieren. Gert Neuhaus etwa, der viele Fassaden in Berlin gestaltete, schuf in der Charlottenburger Zillestraße 100 einen haushohen „Reißverschluss“ (unser Titelbild): Im oberen Drittel geöffnet, legt dieser eine prachtvolle Gründerzeit-Fassade frei – gepinselte Illusion. Dass der Reißverschluss nicht weiter nach unten geöffnet war, hat einen simplen Grund: Es musste gespart werden. Neuhaus hatte erst einen anderen Entwurf vorgelegt: der Reißverschluss teilte eine gemalte Fassadenillusion und legte ein kleines Stück unbearbeitete Brandmauer frei. Der Bauherr entschied: Andersrum soll es sein. Das war billiger und in knapp fünf Wochen zu realisieren. Sowohl der Auftraggeber als auch später die Mieter waren zufrieden.
Ästhetik statt Politik
Manchmal brachte die Fassadenbemalung auch unerwünschte Nebeneffekte hervor. Die Dominanz eines anderen Bildes von Neuhaus lenkt – auch heute noch – immer wieder die Aufmerksamkeit von Autofahrern ab, die dadurch gelegentlich mit einer Verkehrsinsel kollidieren: Ein gigantischer Dampfer, der sich vermeintlich aus dem Charlottenburger Eckgebäude der Wintersteinstraße 20 auf die Straße zu schieben scheint, nimmt die gesamte Höhe der Wand ein. Bei diesem Bild ist die gemalte Fassadenarchitektur nur Beiwerk, auch wenn erst diese Illusion für den verblüffenden Effekt verantwortlich ist. Anders bei einem Bild von Irene Niepel an der Wand des Hauses am Tempelhofer Ufer 20: Die gemalte Fassade steht im Vordergrund, auch wenn sie auf den zweiten Blick als „Vorhang“ erkennbar ist. Diesem Spiel mit Architekturmotiven und anderen optischen Simulationen sind im Laufe der Jahre zunehmend die zuvor beliebten Motive mit gesellschaftskritischer Botschaft gewichen. Statt politischer Aussage rückten Ästhetik oder die originelle Idee in den Vordergrund.
Auch im Ostteil der Stadt war schon vor der Wende die Fassadenbemalung ein Mittel zur Wohnumfeldgestaltung. Auch dort wurden Wettbewerbe ausgeschrieben, doch die meisten Wandbilder im östlichen Teil von Berlin findet man an Schulen und Turnhallen und Kindertagesstätten.
Rund 480 Fassaden wurden in Berlin gestaltet, wobei etwa 200 (fast) verloren sind. Ihre Lebensdauer beträgt durchschnittlich nur etwa 15 bis 20 Jahre. Nach dem Fall der Mauer sind zudem viele Baulücken geschlossen und viele Hauswände mit Wärmedämmungen versehen worden. Die finanzielle Förderung der Fassadenmalerei machte in den 90er Jahren dem Aufbau Ost Platz – eine Prioritätenverschiebung, die der eingangs zitierte Senator Nagel sicherlich nicht voraussehen konnte. Wenn heute noch Fassaden künstlerisch gestaltet werden, dann fast ausschließlich privat finanziert.
Wandmalerei wird Wohnumfeldgestaltung
Dabei haben zumindest einige Wohnungsbaugesellschaften in den 90er Jahren fortgesetzt, was bereits im Jahrzehnt davor praktiziert wurde: Sie kooperierten mit Künstlern, um großen Wohnsiedlungen ein attraktiveres Umfeld zu verleihen. Das Wohnungsunternehmen „Stadt und Land“ beispielsweise arbeitete in Neukölln mit dem portugiesischen Künstler Carlos Martins und dem Quartiersmanagement zusammen. Die Beteiligten entwickelten ein Konzept für die Gestaltung von sechs Fassadenbildern in der High-Deck-Siedlung. Unter Anleitung Martins gestalteten Kinder und Jugendliche Fassaden nach Szenen aus Opern und Operetten, in denen jene Künstler mitwirkten, nach denen die Straßen benannt sind.
Ein weiteres Projekt der Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land ist die „Giebellandschaft im Grabenviertel“: In der Hellersdorfer Plattensiedlung wurden zu Beginn der 90er Jahre 21 Bilder von verschiedenen Künstlern gestaltet.
Brandwandgestaltungen jüngeren Datums finden sich gleich mehrfach im Kreuzberger Wrangelkiez. Dort haben zum Beispiel im Rahmen der Straßenkunstfestivals „Backjumps“ etliche junge Künstler der internationalen „Street Art“-Szene kahle Wände mit ihren Bildern versehen. Ein Wandbild an der Cuvrystraße, Ecke Schlesische Straße hat es – von Weitem einsehbar – mittlerweile zu Kultstatus gebracht: Alternative Reiseführer empfehlen die monumentale Brandwandgestaltung jungen Touristen als absolutes Muss bei einer Berlinbesichtigung.
Lars Klaaßen
MieterMagazin: Was gab den Ausschlag, sich nach Jerg Ratgeb, einem Schöpfer sakraler Kunstwerke aus dem frühen 16. Jahrhundert, zu benennen?
Brunner: Es war weniger das Sakrale als der soziale Hintergrund, durch den Ratgeb für uns interessant gewesen ist. Als wir uns 1977 zusammentaten, war der 450 Jahre zurückliegende Bauernkrieg ein großes Thema. Ratgeb spielte darin eine tragische Rolle. Weil er mit einer Leibeigenen verheiratet war, durfte der Künstler keine freie Werkstatt betreiben. Ohnehin an den Rand der Gesellschaft gedrängt, engagierte er sich für die Bauern. Sein Kampf endete schließlich damit, dass er gevierteilt worden ist.
MieterMagazin: Wie spiegelte sich Ihr sozialer Anspruch in der künstlerischen Arbeit und in den Fassadenbildern wider?
Brunner: Die Auseinandersetzung mit den Menschen, die unsere Bilder jeden Tag sehen würden, war uns wichtig. In der Neuköllner Richardstraße etwa setzten wir uns mit den Anwohnern zusammen. Die Familien böhmischer Abstammung sollten ihre Vorstellung äußern. Der Wunsch lautete: „Wat Schönet!“ Damit wurde eine längere Debatte eingeleitet, die am Ende zu einem Fassadenbild führte, dass die Geschichte der Einwanderer aus dem 18. Jahrhundert darstellt, aber auch die Gegenwart ihrer heute dort lebenden Nachfahren: Auf einer breiten Theaterbühne sieht man den Zug der Einwanderer nach einem Denkmalrelief, und auch einige der Nachbarn, die über den Entwurf mitdebattiert hatten, portraitierten wir in diesem Bild ebenfalls.
MieterMagazin: Große Harmonie statt provozierende kritische Kunst?
Brunner: Nicht ganz. Wir wollten ursprünglich den damaligen Baustadtrat mit in das Bild hineinnehmen – Bauklötze jonglierend. Das mussten wir nach harscher Kritik zurücknehmen. Unser Honorar wollte der Bezirk dann aber doch nicht auszahlen. Anlass dafür war ein Jugendlicher im Bild, der ein „Kraker“-Zeichen auf der Jacke hat, ein Symbol der Hausinstandbesetzer. Das war zu systemkritisch.
MieterMagazin: Systemkritische Kunst ist an Berlins Fassaden mittlerweile sowieso selten geworden. Warum?
Brunner: Zum einen ist politische Agitation und Propaganda nicht mehr so angesagt. Kunst lässt sich ohnehin schwer für so etwas in den Dienst nehmen. Was sich damals auf Berlins Fassaden äußerte, war das Unbehagen über die Unwirtlichkeit der Stadt. Wer diese Fassadenbilder seinerzeit schuf, war unmittelbar betroffen. Mittlerweile ist Berlin, wie viele andere Städte auch, wieder lebensfreundlicher geworden. Dadurch haben wir ein anderes Problem: Aus den nunmehr schicken Wohnquartieren werden die sozial Benachteiligten verdrängt. Wer sollte sich etwa in Prenzlauer Berg grundlegend systemkritisch äußern? Denkbar ist dort eine sanftere, punktuelle Kritik – zum Beispiel mit Bezug zum Umweltschutz. Dieser Wandel spiegelt sich in der Kunst wider.
Interview: Lars Klaaßen
Ein illusionistisches Gemälde, bei dem versucht wird, Fotorealismus zu erzielen, wird „Trompe-l’œil“ genannt. Das bedeutet im Französischen „täusche das Auge“. Manchmal wird dafür auch der lateinische Begriff „Quodlibet“ („was beliebt“) genutzt. Solche Bilder werden häufig verwendet, um eine Vergrößerung der jeweiligen Architektur vorzutäuschen, indem sie Gestaltungselemente, Landschaften oder Skulpturen geometrisch genau vortäuschen. Solche Scheinarchitektur gab es bereits in der Antike, an Außenfassaden ist sie aber erst seit der Renaissance überliefert.
Eine volkstümliche Variante des Trompe-l’œil ist die „Lüftlmalerei“. Sie bezeichnet die in Oberbayern und Tirol heimische Kunstform der illusionistischen Fassadenmalerei. Die Bilder werden in einer Freskotechnik auf den frischen Kalkputz aufgetragen, so dass die Farben tief in den noch feuchten Mörtel eindringen und die Gemälde lange Zeit überdauern können. Die Herkunft der Bezeichnung ist umstritten, wahrscheinlich stammt sie vom Heimathaus („Zum Lüftl“) des Fassadenmalers Franz Seraph Zwinck (1748 bis 1792) aus Oberammergau.
Die unmittelbaren Impulse für die Fassadenbilder im Berlin der 70er und 80er Jahre kamen aus Mexiko. Hier waren es vor allem die mexikanischen Künstler Diego Rivera (1886 bis 1957), Jose Clement Orozco (1883 bis 1949) und David Alfaro Siqueiros (1896 bis 1974), die sich, beeinflusst von der mexikanischen Revolution 1910, verstärkt der sozialen Thematik in ihren Werken annahmen. Mit ihren Arbeiten wurden sie über die Grenzen ihrer Heimat bekannt. Auch in den Vereinigten Staaten fand die Wandmalerei weite Verbreitung. Zwischen New York und Los Angeles entstanden über 3000 Wandbilder. In Deutschland entstanden die ersten Fassadenbilder 1972 in Bremen, wo man alte Bunkeranlagen bemalte.
lk
Norbert Martins, Autor des mittlerweile vergriffenen Buchs „Giebelphantasien“, bietet regelmäßig Führungen zu den Berliner Fassadenbildern an.
Auch eine DVD mit drei Diashows zum Thema ist bei ihm erhältlich.
Preis: 9 Euro, Porto: 2,50 Euro.
Weitere Informationen:
www.freenet-homepage.de/norbert.martins/
Weitere Fassadenbilder können im Internet unter folgender Adresse betrachtet werden:
www.wandbilder-berlin.de
MieterMagazin 11/09
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Wandmalerei in der Oppelner Straße 46 in Kreuzberg
Werner Brunner hat die Künstlergruppe „Ratgeb“ (1977 bis 1985) und das Atelier „Oranienstraße 19a“ (seit 1985) mitbegründet.
Beide Gruppen haben viele Fassadenbilder in Berlin geschaffen.
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Foto: privat
05.02.2018