Beinahe wie im Märchen: Ein privater Investor aus dem Westen der Republik mit Sanierungsplänen für ein Haus an der Schönhauser Allee kommt mit den Mietern ins Gespräch. Aufgrund persönlicher Sympathien lässt er sich nicht nur auf eine Modifizierung seiner Baupläne ein, sondern auch auf das Wagnis, das Haus auf seine Kosten in eine begeh- und bewohnbare Kunstinstallation zu verwandeln. Im Frühjahr 2013 wurde es erstmals für Außenstehende geöffnet.
Die frisch sanierten weißen Treppenhauswände zieren auf jeder Etage große Schriftblöcke. Die leicht erhabenen, hellgrauen Buchstaben formen sich zu Zitaten von Zeitzeugen über das Kiezleben an der Schönhauser Allee aus rund sechs Jahrzehnten. Der dicke rote Treppenläufer und die blaugestrichenen Geländer und Wohnungstüren glänzen noch frisch und neu und sind angenehme Farbtupfer.
Im Eingangsbereich, wo die Briefkästen hängen, der ehemaligen Tordurchfahrt des Hauses, ist eine große Tafel angebracht. Fotos, die rund 100 Jahre in der Geschichte des Hauses zurückreichen, werden hier durch Texte ergänzt, die das Leben an der Schönhauser Straße und die Bevölkerungsstruktur erläutern und Auskunft geben über das Projekt, das das Künstlerpaar Julia Brodauf und Felix Müller am und im Haus realisiert hat – mit Unterstützung ihres Vermieters.
Ein Spiegel der Entwicklung
Im Hof findet sich eine Brandmauer, die von oben bis unten mit riesigen Lettern beschrieben ist, mit einem Text, der sich kritisch mit der strukturellen Veränderung des Kiezes auseinandersetzt. „Es gibt keine alten Leute mehr im Prenzlauer Berg – ist Ihnen das aufgefallen? Die sind in die billigeren Vorstadtbezirke gezogen – oder gestorben. … Wissense wat? Für mich bricht meine Heimat weg …“ Es spiegelt die Entwicklung wider, die auch im Hause selbst nach der Sanierung Realität geworden ist. Diese kontroverse Annäherung an die Gentrifizierung des Kiezes gefällt sicher nicht jedem Quartiersbewohner und spricht für einen gewissen Mut des Hausbesitzers.
Die beiden Künstler leben im ersten Stock des Vorderhauses mit ihrem zweijährigen Sohn. Von ihren Küchen- und Atelierfenstern aus blickt man direkt auf die Trasse der Hochbahn. Alle paar Minuten schaukelt ein „gelber Blitz“ vorbei. „Die Schönhauser ist einfach eine magische Straße“, sagt Felix Müller. „Von klein auf war die Straße für mich der Inbegriff der Großstadt in diesem schrägen Ost-Berlin. Sie hat Charme, sie hat Bögen, sie windet sich. Die Hochbahn hat mich schon als Kind an New York erinnert.“ Julia Brodauf fügt hinzu: „Die Nähe zur Hochbahn war für ihn der Grund, hier 1995 einzuziehen. Eines der ersten Worte unseres Sohnes war dann auch ‚U-Bahn‘.“
Um 2008 herum wurde das Haus zunächst von einem Unternehmen erworben, das im Hauptgeschäft die Objekte saniert und weiterveräußert. Dass das für die Mieter auch mit unschönen Szenen verbunden war, versteht sich beinahe von selbst. Doch sie hielten durch, und im Jahr 2009 wurde das Haus erneut verkauft.
„Dann ging es Schlag auf Schlag“, erzählen Brodauf und Müller. Der neue Vermieter kam mit Bauplänen. Die Grundrissänderungen, die er vorlegte, hätten eine Durchbrechung sämtlicher Sichtachsen nach sich gezogen und die großzügigen Räume, die Felix Müller auch als Atelier nutzt, in kleine Rigipsschachteln aufgeteilt. Stück für Stück setzte er sich in etlichen von gegenseitiger Sympathie getragenen Diskussionen mit dem Vermieter über dessen Sanierungsplänen auseinander, erklärte, machte ihn auf seiner Ansicht nach ungünstige Um-, An- und Einbauten aufmerksam, auf Einsparmöglichkeiten und schonendere Sanierungsverfahren.
Der Vermieter: aufgeschlossen
Nicht viele Mieter besitzen die Fähigkeit, anhand ihrer beruflichen Qualifikation die Argumentation eines Vermieters für seine Sanierungsideen zu hinterfragen und Gegenargumente zu liefern. Felix Müller besitzt sie. Der bildende Künstler und Kunstprofessor an der Uni Greifswald mit großem Interesse an Stadtentwicklung, Architektur und großer praktischer Erfahrung im Umgang mit Baumaterialien und Farbwirkungen war dem Hausbesitzer mit seiner direkten Art sympathisch. Aus den Gesprächen erwuchs die Übernahme der Fassaden- und Farbgestaltung des Hauses durch Müller. Und schließlich auch die Idee, ein künstlerisches Werk ins Haus einzubringen. „Die Beschäftigung mit dem Bezirk und seiner Geschichte, mit der stattfindenden Veränderung, hatte uns schon eine Weile umgetrieben“, erinnert sich Julia Brodauf. Daraus entstand die Idee zu einer „Collage im Raum“, wie sie die Arbeit nennen, die Verteilung des künstlerischen Werks über 37 Wände im ganzen Haus. Die Versatzstücke aus Zeitzeugenerinnerungen verbinden sich so im Kopf der Betrachtenden im Laufe ihrer Strecke durch das Haus zu einer eigenen Geschichte. „Der Hausbesitzer hat die Entstehung mit großem Interesse begleitet und ist jetzt auch sehr stolz darauf“, resümiert Julia Brodauf.
Drei Jahre insgesamt gingen von der ersten Idee bis zur Öffnung des Hauses für Betrachter der künstlerischen Installation ins Land. „Bei mir als Altberliner gab es so das Gefühl: Jetzt kommen die ganzen Leute aus dem Ausland hier nach Berlin und wissen nichts“, erzählt Felix Müller. „Die Geschichten aus dem Kiez sind verschwunden, zusammen mit den alten Leuten und der Szene. Also haben wir gedacht, dann muss das Haus die Story erzählen. Das kann ja auch mal was tun für sein Geld.“
Das Haus soll mal was tun für sein Geld
Julia Brodauf, als Autorin neben ihrer bildenden künstlerischen Tätigkeit mit Archiven vertraut, recherchierte daraufhin intensiv die Geschichte des Hauses und der näheren Umgebung, konsultierte alte Adressbücher, Stadtpläne, Geschichtsbücher, suchte und fand Zeitzeugen. Sie führte zahlreiche Interviews mit Freunden, Bekannten und Bewohnern des Altersheims St.-Elisabeth-Stift an der Eberswalder Straße. „Dann mussten wir raushören, auswählen, uns auseinandersetzen, zusammenkürzen, um Sätze kämpfen. Jeder hatte schnell seine Lieblinge. Aber wir konnten ja nicht hundert Zitate hier anbringen.“ Ein Teil der recherchierten Geschichte(n) ist auf der eigens geschaffenen Website zum Projekt nachzulesen. „Im Mai 2012 fiel der Startschuss für das Wandbild an der Brandmauer.“ Jedes einzelne der Zitate an den Treppenhauswänden hat danach Felix Müller mit einem Assistenten in einem Vierschichtverfahren mit Silikatfarbe unter Zuhilfenahme von Folienschablonen selbst aufgebracht. „Die Schriften sind jetzt wie eingeschrieben in das Haus“, sagt er. „Wir haben sie extra typrografisch und farblich sehr zurückgenommen gestaltet. Wenn man täglich aus der Wohnungstür tritt, muss man sich ja auch mit ihnen anfreunden können.“ Nachbarin Anja Junker gefällt das jedenfalls: „Ich finde es richtig gut, in einem Haus zu wohnen, das mir seine Geschichte erzählt.“
Elke Koepping
MieterMagazin 11/13
Foto: Fotothek/Abraham Pisarek
„Magische Straße“: die Schönhauser Allee, einst und jetzt
Foto: Felix Müller
Foto: Juliane Wiedemeier
Die Wände lassen Zeitzeugen sprechen: Künstlerpaar Julia Brodauf und Felix Müller; Innenhof mit Betrachter
Foto: Julia Brodauf
„Kunst im Haus eingeschrieben“: Gebäude Schönhauser Allee 52
Foto: Julia Brodauf
Tag der offenen Tür im Haus Schönhauser Allee 52 am Sonntag, 24.11., 12 bis 18 Uhr, sonst nach Anmeldung.
Weitere Infos:
www.lebenanderschoenhauser.de
Im November wird das Projekt temporär in die Ackerstraße erweitert. Es nimmt in zwei Wandbildern die Erzählung vor Ort auf. „Leben an der Ackerstraße“, 29.11. bis 1.12.2013,
Institut für alles Mögliche/Abteilung für alles Andere,
Ackerstraße 18, 10115 Berlin
www.i-a-m.tk
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Abbild einer typischen Geschichte
Julia Brodauf und Felix Müller konnten zu günstigen Bedingungen in ihrer Wohnung bleiben. Und doch ist die Geschichte des Hauses Schönhauser Allee 52 symptomatisch für den Wandel der Bevölkerungsstruktur im Prenzlauer Berg. Felix Müller war wie viele Studenten und junge Kreative nach der Wende in eines der unsanierten Häuser entlang der Schönhauser Allee gezogen und schätzte den rauen Charme des Kiezes und der verwurzelten Subkultur. Das Haus wurde nach Eigentümerwechseln dann zum Spekulationsobjekt und sollte gewinnbringend saniert werden. Mit allerlei Druckmitteln, unlauteren Methoden und finanziellen Auszugsreizen wurde der Großteil der Mieterinnen und Mieter schließlich aus dem Haus vertrieben. Auch die Aufgeschlossenheit des neuen Hausbesitzers gegenüber den verbliebenen Mietparteien ändert nichts daran, dass auch dieses Haus Teil eines Gentrifizierungsprozesses ist. Felix Müller und Julia Brodauf bedauern, dass sie heute nur noch selten mit ihren überwiegend neuen Nachbarn ins Gespräch kommen. Das ist der Punkt, an dem ihre künstlerische Arbeit ansetzt: Das Haus erzählt die Geschichte eines gentrifizierten Kiezes, der sein altes Gesicht verloren und noch kein neues gefunden hat.
ek
17.12.2015