Pressemitteilung Nr. 04/08
Im Auftrag des Berliner Mieterverein e.V.
Juni 2008
Bearbeiter: A. Hentschel / IFSS
Inhalt
1 Einleitung
2 Kurzfassung
3 Hintergrund und Indikatoren – Die Medien- und Fachdiskussion über die „Renaissance der Städte“
3.1 Der mediale Hintergrund
3.2 Die „Renaissance“ und ihre Indikatoren
4 Bevölkerungsentwicklung in Berlin
4.1 Der Einfluss der Außenwanderung auf die Bevölkerungsentwicklung in Berlin
5 Das Ergebnis aus Zu- und Fortzügen zwischen Berlin und dem engeren Verflechtungsraum (EVR)
5.1 Ende der Wohnsuburbanisierung?
5.2 Suburbanisierung im Zeitablauf – Zu- und Fortzüge zwischen 2002 bis 2007
5.3 Geburtenraten und junge Erwachsenen in den neuen Bundesländern
5.4 Sub- und Reurbanisierung in Vergleichsstädten
5.5 Kleinräumliche Trends in Berliner Innenstadtquartieren –
Das Beispiel der Sanierungsgebiete in Berlin-Friedrichshain
6 Stärkung der Innenstadt? – Binnenwanderung in Berlin
7 Anmerkungen zu einigen theoretischen Aspekten der Stadtdiskussion
7.1 Reurbanisierung der Stadt oder des Denkens?
1 Einleitung
Gestützt auf eine Mischung aus Beobachtung und Hoffnung, wird in den Medien seit geraumer Zeit über die „Renaissance der Städte“ publiziert. Danach wachsen die Innenstädte wieder, die Wohnsuburbanisierung geht zurück und für Investoren sind die Innenstädte wieder lohnende Standorte geworden. Die Indikatoren, an denen die Wiedergeburt der Stadt festgemacht wird, sind höchst unterschiedlicher Art und die angeführten Belege betreffen verschiedene Ebenen und sind von unterschiedlicher Beweiskraft. Wie belastbar diese Aussagen auch sein mögen; in jedem Fall sprechen sie für eine „gefühlte Renaissance“. Die vorliegende Studie überprüft die empirischen Befunde für diese These mit dem Fokus auf Berlin als Wohnstandort. Beauftragt wurde die Untersuchung durch den Berliner Mieterverein e.V., der als Großstadtorganisation der Mieter ebenso von den Folgen der Desurbanisierung wie der Reurbanisierung betroffen wäre.
Aufgrund der regionalen Beschränkung und des Schwerpunkts Wohnen handelt es sich um einen ausschnitthaften Diskussionsbeitrag zur Stadtentwicklung, der nicht beansprucht, die Frage abschließend zu beantworten, ob wir heute und in absehbarer Zukunft eine Renaissance der Stadt erleben.
2 Kurzfassung
In den Medien und in der Fachdiskussion mehren sich Meldungen über eine Renaissance der großen Städte. Berlin gilt in diesem Kontext trotz seiner Regierungssitz- und Hauptstadtfunktion als Beispiel- und nicht als Sonderfall. In den Berichten schimmert die Hoffnung durch, dass der jahrzehntelange Trend der Suburbanisierung gestoppt werden kann, das Ausbluten der Innenstädte beendet ist und – auf der Immobilieninvestorenseite – der Standort Innenstadt sich wieder rechnet. Die Studie des Institut Für Soziale Stadtentwicklung hat diese These überprüft und kommt zu dem Schluss, dass Berlin als Kronzeuge für die Renaissance der Innenstadt nicht dienen kann.
Bevölkerungsentwicklung
Die Turbulenzen in der Bevölkerungsentwicklung, die Berlin nach der Wende aufweist, gehen auf Mauerfall, Regierungssitzentscheidung und eine rasch nachgeholte Suburbanisierung zurück. Stark schwankende Wanderungssalden sind die Hauptursache für das Auf und Ab des Bevölkerungsstands. Nach 2000 werden die suburbanisierungsbedingten Verluste durch Wanderungsgewinne aus dem Ausland und dem Bundesgebiet zeitweilig ausgeglichen. Von einer kontinuierlichen Aufwärtsbewegung kann jedoch keine Rede sein.
Vor allem die Außenwanderung über die Grenzen von Brandenburg und Deutschland hinaus ist für die Veränderungen in der Bevölkerungszahl des betrachteten Zeitraums verantwortlich. In absoluten Zahlen ausgedrückt gewinnt Berlin alleine zwischen 2001 und 2006 ein Wanderungsplus von 62.495 aus dem Ausland und 22.509 aus den alten Bundesländern. Diese beiden Herkunftsbereiche sind für das Berliner Bevölkerungswachstum nach 2000 verantwortlich. Es ist eine Entwicklung, die Berlin nicht nur seiner Hauptstadt- und Regierungssitzfunktion verdankt, sondern auch seinem internationalen Image als „preiswerte und lebendige“ Metropole bei jungen Menschen.
Ende der Suburbanisierung?
Umzüge aus Berlin in das Brandenburger Umland von Berlin waren die Hauptursache für die Bevölkerungsverluste zwischen 1995 und 2000. Alleine in 10 Jahren zwischen 1994 und 2004 hat Berlin gut 197.000 Menschen an das Umland verloren. Die derzeitige Diskussion erweckt den Eindruck, als sei diese Suburbanisierung beendet und werde durch eine Rückwanderung aus dem engeren Verflechtungsraum in das Innenstadtgebiet abgelöst. Diese These ist falsch. Das Ergebnis aus den Zu- und Fortzügen zwischen Berlin und dem Engeren Verflechtungsraum (EVR), der sogenannte Wanderungssaldo, ist für Berlin nach wie vor negativ. Von einem Suburbanisierungsstop kann also nicht die Rede sein. Es sind mehr Personen (9.231) im Jahr 2006 in den EVR gezogen als aus ihm nach Berlin kamen. Diese Feststellung gilt für alle Altersgruppen mit Ausnahme der jungen Erwachsenen zwischen 18 bis 30 Jahre. In dieser Altersgruppe gibt es ein Plus von 1.355 für Berlin. Teilgebiete der Innenstadt sind die hauptsächlichen Profiteuere dieses Wanderungsgewinns. Es ist richtig, dass die Altersgruppe der schon immer stadtorientierten Jüngeren den Aufschwung von innerstädtischen Gebieten in Prenzlauer Berg und Friedrichshain trägt, aber sie bewirkt keine Trendumkehr.
Berlin und andere Städte profitieren derzeit davon, dass es in der DDR zwischen Mitte der 1970er und Ende der 1980er Jahre stark besetzte Geburtenjahrgänge gab, die nun als junge Erwachsene in Städte ziehen. So gab es alleine zwischen 1976 und 1986 in Ostberlin knapp 165.000 Geburten. Im Jahr 1983 lag die Zahl der Geburten in Ostberlin bei 17.743, in Westberlin bei 17.819 und damit annähernd gleichauf, obwohl die Gebietsbevölkerung Westberlins um ca. 60 % über den Ostberliner Zahlen lag. Zugespitzt kann man formulieren, dass die Belebung der innerstädtischen Gebiete Berlins ein spätes Erbe der DDR-Zeit sind. Bei dieser zahlenmäßig starken Gruppe junger Erwachsener heute handelt es sich aber um die Suburbaniten von morgen.
Der Bevölkerungsaustausch mit dem Engeren Verflechtungsraum (EVR) zwischen 1995 und 2007
Nach Altersgruppen betrachtet, ist die Bilanz der Wanderungen zwischen Berlin und dem EVR im gesamten Zeitraum zwischen 1995 und 2007 ähnlich. Allein die jungen Erwachsenen (18 – 30) liegen im gesamten Zeitraum im Bereich des positiven Wanderungssaldos zwischen EVR und Berlin oberhalb der Nullachse. Alle anderen Altersgruppen, besonders die 30 bis 45-Jährigen haben Berlin Wanderungsverluste beschert. Die Suburbanisierung geht zurück, aber es war zu erwarten, dass die Nachholbewegung zu irgendeinem Zeitpunkt abebbt und sich auf einem niedrigeren Niveau verstetigt. Eine Trendumkehr ist daraus nicht abzuleiten.
Stärkung der Innenstadtgebiete?
„Die Einwohnerzahl in der Berliner Innenstadt (innerhalb des S-Bahnrings) ist seit dem Jahr 2000 um fast 39.000 gestiegen. Die Einwohnerzuwächse konzentrieren sich auf die östliche Innenstadt – Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Mitte-Zentrum.“ Diese Feststellung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ist zutreffend; eine Renaissance der Innenstadt lässt sich daraus allerdings nicht ableiten. Besonders Pankow, aber auch Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte erzielen im betrachteten Zeitraum ein Bevölkerungsplus. Allerdings wachsen nicht alle Innenstadtgebiete und es wachsen auch nicht nur die Innenstadtgebiete. In Wilmersdorf-Charlottenburg sinkt die Bevölkerungszahl bzw. stagniert; ebenso in Tempelhof-Schöneberg, während sie in einem Randbezirk wie Treptow-Köpenick deutlich ansteigt. Die Zuwächse in Mitte, und Friedrichshain verdanken sich Zuzügen von außen, dem Zuzug junger Erwachsener aus dem Ausland, den alten Bundesländern und dem Engerer Verflechtungsraum.
Bei der Analyse der innerstädtischen Umzüge zeigt sich ein anderes Bild. Untersucht man, welche Bezirke bei innerstädtischen Umzügen verloren oder gewonnen haben, dann zeigt sich, dass Innenstadtbezirke wie Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg, Tempelhof-Schöneberg, Neukölln in den meisten Jahren auf der Verliererseite der Binnenwanderung stehen, während die Außenbezirke Treptow-Köpenick, Spandau, (der neue Großbezirk), Reinickendorf, Pankow und (der neue Bezirk) Steglitz-Zehlendorf auf der Gewinnerseite stehen. Bewertet man das Gesamtbild, so weicht die in den Medien kolportierte „Renaissance der Innenstadt“ einer kontinuierlichen innerstädtischen Randwanderung.
Vorreiter Szeneviertel? – Das Beispiel der Friedrichshainer Sanierungsgebiete
Die These einer Renaissance der Städte stützt sich unter anderem auf die Bebobachtung der Berliner „Szeneviertel“, die sowohl Bevölkerungszuwächse wie hohe Geburtenraten aufweisen und durch ihre Lebendigkeit und Nutzungsmischung bestechen. Sie gelten als neuentdeckte Standorte für Familien, die in der Vergangenheit noch die klassischen Suburbaniten waren. Die empirische Überprüfung widerlegt die öffentliche Wahrnehmung. Anhand der statistischen Gebiete 114 und 115 in Friedrichshain wurden die Indikatoren für eine Renaissance untersucht. In diesen Gebieten liegen das Samariterviertel und der Boxhagener Platz. Die Gebiete verzeichnen wie Berlin insgesamt zwar einen starken Zuzug junger Erwachsener und überdurchschnittliche Geburtenraten. Dennoch übersteigt der Wegzug junger Familien in das Brandenburger Umland (EVR) mit Kindern unter 6 Jahren sehr deutlich den Zuzug aus derselben Altersgruppe. Trotz Erhöhung des Angebots an familiengerechten Wohnungen im Zuge der Sanierung können Familien mit Kindern dort langfristig nicht gebunden werden und ziehen weg. Außerdem ist festzuhalten, dass die symbolische Bedeutung dieser Stadtgebiete weit über ihr quantitatives Gewicht hinausgeht.
Theoretische Befunde und politische Hoffnungen
Die Städte sind – soviel steht fest – auch in Zukunft „keine Selbstläufer“ (Christian Ude). Sie brauchen eine aktive und wirksame Steuerung durch eine aktive Stadtentwicklungspolitik. Insbesondere das innerstädtische Wohnen muss attraktiver und familiengerechter gemacht werden. Einen Trend, der diese Attraktivitätssteigerung – quasi automatisch – trägt, gibt es nicht. Die IFSS-Studie findet in der untersuchten Zeitperiode weder empirische Belege für einen Niedergang, noch für die Wiedergeburt der Hauptstadt. Allerdings sind die kurze Zeitperiode und der Fokus auf Berlin als Wohnstadt auch nicht ausreichend, um die Frage nach einer möglichen Renaissance abschließend zu beantworten. Richtig ist, dass Trends zur Dekonzentration neben Entwicklungen zur Rekonzentration stehen. Der Ausgang ist noch ungewiss.
Die theoretische Annahme, dass die Städte in der postindustriellen Wissensgesellschaft ein „privilegiertes Innovationsfeld der Wissens- und Kulturproduktion“ (Dieter Läpple) sein werden, Orte, an denen neue Arbeits- und Lebensformen angestoßen und ausprobiert werden, mag schlüssig sein. Ebenso die These, dass neue Arbeitsformen, in denen sich die traditionelle Trennung von Arbeiten, Wohnen und Freizeit verwischen und eine enge Verflechtung von persönlichem und beruflichem Leben stattfindet, die Stadt zu einem privilegierten Umfeld macht. Aber die empirische Überprüfung dieser These – u.a. durch eine Abfrage der Wohn- und Standortwünsche von Beschäftigten der Informationstechnologie – stützt diese These bislang nicht.
Das Gesamtbild, das die Analyse der Daten zeichnet, ist widersprüchlich und enthält – wenn man die Terminologie einmal hilfsweise übernimmt – gleichermaßen pro- wie antiurbane Indikatoren. Neben dem Trend zu einer abgeschwächten Randwanderung in den Engeren Verflechtungsraum gibt es einen Zuwachs an Leerständen in gründerzeitlichen Innenstadtgebieten. Viele junge Erwachsene beleben Teilgebiete der Innenstadt und bescheren diesen Gebieten ein Zuwanderungsplus und hohe Geburtenraten. Ebenfalls stützend wirkt die Aufwertung von Teilgebieten der Innenstadt wie in den Friedrichshainer Sanierungsgebieten oder Prenzlauer Berg. Aber auch bei diesen von Familien angeblich wiederentdeckten Gebieten ist der Wegzug von Familien mit Kindern im Saldo höher als der Zuzug aus dem Engeren Verflechtungsraum.
Ein ähnliches Nebeneinander von „pro- und antistädtischen Trends“ gibt es in Bezug auf die demographischen Strukturveränderungen. Die Alterung der Gesellschaft wird keinen Exodus der 60+Generation aus dem Umland in die Innenstadtgebiete auslösen, da die Ortsbindung und Immobiliät mit steigendem Alter zunimmt. Allenfalls der Abbau der sozialen und medizinischen Infrastruktur in den dörflichen Bereichen des Brandenburger Umlandes kann den Zwang zum „Rücksiedeln in die Stadt“ verstärken.
Es ist wenig hilfreich, die unterschiedlich gerichteten Trends der Stadtentwicklung mit Begriffen wie „Tod“ und „Wiedergeburt“ zu beschreiben. Es geht um Veränderungen, die gleichfalls Chancen wie Gefahren bergen. Hinter der früheren „Krise der Stadt“ ebenso wie hinter der neuerlichen „Renaissance der Stadt“ steht eine Krise der Begrifflichkeiten und Konzepte, mit denen wir diesen Wandel zu beschreiben versuchen. Der größte Teil der Abgesänge auf die Stadt verdankt sich der Fixierung auf das überkommene Leitbild der kompakten europäischen Stadt, mit der sich bereits Tom Sieverts und Erika Spiegel auseinandersgesetzt haben. Wer die keineswegs ungebrochen positive Tradition der Stadt des 19. Jahrhunderts als Leitbild der Zukunft hochhält, der muss die durch Suburbanisierung veränderte Stadtrealität selbstverständlich als Tod beschreiben. Suburbanisierung hat es jedoch schon im 19. Jahrhundert und während der gesamten Industrialisierung gegeben und sie hat zu einer Ausdifferenzierung des Wohnungsangebots und der Stadtgebiete geführt, die insgesamt positive Effekte hatte. Wir sollten von der Randwanderung lernen und sie als Lehrfall für den notwendigen Umbau der Städte und die Qualitätsanpassung städtischer Wohnungen lernen statt sie als „Stadttod auf Raten“ zu werten.
Grafiken zum IFSS-Gutachten [PDF, 17 Seiten]
zur Presseerklärung
02.01.2014