Pressemitteilung Nr. 04/08
Der Prozess der Suburbanisierung hält an. Die These von der Renaissance der Innenstädte wird von den objektiven Zahlen nicht bestätigt. Die Politik darf sich deshalb nicht passiv verhalten. Der Senat von Berlin verharrt in Attentismus, statt das Heft selber in der Hand zu behalten und aktive Stadtentwicklungspolitik zu betreiben. Großinvestoren, die Projekte für Spitzenverdiener realisieren, bestimmen zunehmend die Wohnungspolitik. Ziel muss es sein, für alle Bevölkerungsschichten sicheres, bezahlbares und gutes Wohnen in attraktiven Stadtgebieten zu gewährleisten. Dazu bedarf es eines Ausbaus und einer besseren Verzahnung der bisher genutzten Programme Soziale Stadt, Stadtumbau und Städtebauförderung, aber auch einer entsprechenden Schul- und Verkehrspolitik im Interesse der in der Stadt lebenden Menschen. Die Bürgerinnen und Bürger sind bei der Gestaltung der Quartiere aktiv einzubeziehen. Diese politischen Schlussfolgerungen und Forderungen hat der Berliner Mieterverein e.V. aus einer Studie gezogen, die die Interessenvertretung der Berliner Mieter veröffentlicht.
Auf Kongressen und Fachtagungen, in wissenschaftlichen Publikationen und in der Medienlandschaft wird derzeit immer wieder die Botschaft von der Renaissance der Innenstädte verkündet. Der Berliner Mieterverein e.V. (BMV) hat dies zum Anlass genommen, der „gefühlten“ These eine exakte, auf objektiven Zahlen beruhende Untersuchung entgegenzustellen. Das Ergebnis: Den angeblichen Megatrend des „Zurück in die Innenstadt“ gibt es in Wirklichkeit nicht.
Der Vorsitzende des Berliner Mietervereins e.V., Dr. Franz-Georg Rips, warnt vor einer Trendbeschwörung als Politikersatz. Das vom Berliner Mieterverein beauftragte Potsdamer Institut für Soziale Stadtentwicklung (IFSS) habe belastbar nachgewiesen, dass es jedenfalls derzeit noch keine klare Bewegung „Zurück in die Innenstadt“ gibt.
Renaissance ist ein Ziel, aber kein Ist-Zustand
„Wir verstehen das Schlagwort der Renaissance als erstrebenswertes Ziel, nicht aber als Diagnose des Ist-Zustandes“, sagte Rips. Es gehe darum, sicheres, bezahlbares und gutes Wohnen in attraktiven Stadtgebieten für alle Bevölkerungsschichten zu ermöglichen.
Dafür gebe es gute Gründe:
- Aus Gründen des Umweltschutzes und der Entlastung privater Haushalte müssten die Energie- und Mobilitätskosten gesenkt werden, gerade in einer Zeit ständig explodierender Energiepreise. Das Wohnen in der Stadt könne hierzu einen wirksamen Beitrag leisten.
- Im Rahmen der demographischen Veränderung nehme der Anteil der immobilen älteren Bevölkerung ständig zu. Diese Bevölkerungsgruppe sei in besonderer Weise von einer leistungsfähigen Nahversorgung abhängig, die in der Stadt optimal dargestellt werden könne. Es gehe um den fußläufigen und barrierearmen Zugang zu den Geschäften der Grundversorgung, zu Ärzten, Apotheken und Krankenhäusern. Dafür biete die Stadt beste Voraussetzungen.
- Die Zukunft der Arbeitswelt sei weitgehend auf Faktoren wie Wissen und Bildung aufgebaut. Die Stadt könne hierzu den notwendigen Input geben.
- Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sei eine wichtige Voraussetzung für die Zukunft der Gesellschaft insgesamt. Vor allem die Städte seien in der Lage, geeignete Betreuungsangebote vorzuhalten, um auf diese Weise konkret den Familien zu helfen.
- In einer massiv schrumpfenden deutschen Bevölkerung sei ein multikultureller Zuwanderungsstrom unverzichtbar. Die Städte seien von je her die Institutionen, die sich für die notwendige Integration am besten eigneten („Integrationsmaschine“).
Im Ergebnis gilt, so der Vereinsvorsitzende: „Die Stadt und das städtische Wohnen sind die nachhaltigste Antwort auf die heutigen Herausforderungen.“
Deshalb sei es von überragender Wichtigkeit, dass die Städte ihre Verantwortung wahrnehmen und ausüben. „Der Genosse Trend richtet es nicht“, sagte Rips. „Unsere Städte, das gilt für Berlin ebenso wie für andere Städte, sind keine Selbstläufer. Wir brauchen eine aktive und starke Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik. Wir fordern deshalb den Senat von Berlin ausdrücklich auf, Defizite abzubauen, vorhandene Aktivitäten im Bereich von Quartiersmanagement und Stadtteilentwicklung zu verstetigen sowie zu verstärken und insgesamt noch deutlich aktiver als bisher zu sein.“
Familien wandern ab
Der Hauptgeschäftsführer des Berliner Mietervereins e. V., Hartmann Vetter, hält die bisherigen Instrumente der Programme Soziale Stadt, des Stadtumbaus und der Städtebauförderung für wichtiger denn je. Denn unser bisheriges Wohn- und Lebensmodell funktioniere nicht mehr: Draußen, im Grünen auf großer Fläche, attraktiv, ruhig und in selbst gewählten Nachbarschaften zu wohnen und die nahe liegende Stadt bei Bedarf zum Arbeiten, Lernen und für Kultur und Unterhaltung nutzen, das ging nur über billiges Benzin, lange Wege (Pendlerpauschale) und hohe Folgekosten für die Umwelt. Das städtische Wohnen hat heute die Chance, im Wettbewerb mit dem Umland zu punkten. Aber nur dann, wenn die Stadtentwicklungspolitik die richtigen Lösungen findet.
Eine Schulpolitik, die auch den öffentlichen Schulen eine Perspektive ermöglicht und die Flucht der Familien mit schulpflichtigen Kindern aus den Quartieren etwas entgegensetzt, sowie eine Verkehrspolitik, die die Beeinträchtigungen durch Lärm und Abgase bekämpft, sind ergänzende und notwendige Elemente einer nachhaltigen Stadtentwicklung.
Dafür müssen die vorhandenen Programme ausgebaut und besser miteinander verzahnt werden. Nur dann gibt es eine soziale und ökologische Stadt. Nur dann kann man gegensteuern gegen Lärm, soziale Polarisierung, Privatisierungsfolgen und die Folgen des Rückzugs aus der sozialen Wohnraumförderung. „Spektakuläre Neubauten, Town-Houses und Baugruppenförderung sind begrüßenswert, sie treffen aber nicht den Kern unseres stadtentwicklungspolitischen Handlungsbedarfs“, so Vetter.
Selbst aus den „trendigen“ Friedrichshainer Sanierungsgebieten, in denen es mittels öffentlicher Mittel eine Erhöhung des Anteils familiengerechter Wohnungen gegeben hat, ziehen nach wie vor mehr Familien ins Umland als von dort in diese innerstädtischen Wohngebiete.
„Wir brauchen eine Stadtentwicklungspolitik, die mehr auf den Wohnalltag breiter Schichten statt auf spektakuläre Einzelprojekte schaut“, sagte Hartmann Vetter.
Der Vorsitzende und die Geschäftsführung des Berliner Mietervereins bieten dem Senat ausdrücklich die Mitwirkung bei der Lösung der Probleme an. Stichworte sind aus der Sicht des Berliner Mietervereins: Erhaltung und Sicherung preiswerten Wohnraums, Attraktivitätssteigerung des städtischen Wohnens durch Freiraumbezüge, gezielte Förderung der Anpassung der Wohnungen an die besonderen Bedürfnisse alter und behinderter Menschen, ausreichende familiengerechte Angebote, energetische Verbesserung der Bestände, Aktivierung der Zivilgesellschaft bei der Neu- und Umgestaltung von Quartieren, Herbeiführen einer neuen Partizipationskultur.
IFFS-Studie warnt vor Überschätzung kurzfristiger Trends
Die vom Berliner Mieterverein vorgelegte IFSS-Studie sieht in der These von der Renaissance der Innenstädte die Folgen einer Mischung von selektiver Wahrnehmung, politischer und wirtschaftlicher Vermarktung und schlichter Hoffnung. Der Direktor des Instituts, Armin Hentschel: „Prostädtische und antistädtische Trends stehen auch momentan direkt nebeneinander. Wenn die Politik sich nicht aktiv kümmert, bleibt ungewiss, welcher Trend sich durchsetzt. Die Suburbanisierung ist zwar abgeschwächt, aber längst nicht gestoppt. Wir profitieren im Moment davon, dass die Alterswelle der geburtenstarken Jahrgänge aus der DDR uns erreicht und starke Zuzüge aus dem Ausland stattfinden. Die Familien laufen uns aber nach wie vor weg, und bei innerstädtischen Umzügen gibt es seit Jahren eine ungebrochen starke Randwanderung.“
Unstreitig hat die Berliner Bevölkerung zugenommen durch Zuwanderung aus dem Ausland und aus den westlichen Bundesländern. Aber Ende 2007 war noch nicht einmal der Bevölkerungsstand von 1995 erreicht. Die Abwanderung von Familien ist abgeschwächt, aber hält weiter an. Und es gibt eine anhaltende Wanderung an die Randbezirke und das Berliner Umland.
Die einzige Altersgruppe, die verstärkt in die Innenstadtbezirke zieht, ist diejenige, die es immer schon dort hingezogen hat. Die Altersgruppe der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 30 aus den alten Bundesländern, dem Umland und vor allem dem Ausland beschert Berlin Wanderungsgewinne. Nur in dieser Altersgruppe gibt es einen Wanderungsgewinn mit dem Speckgürtel.
Weder Familien mit Kindern noch alte Menschen ziehen verstärkt in die Innenstadt. Berlin und andere Städte profitieren derzeit noch davon, dass es in der DDR nach 1977 stark besetzte Geburtenjahrgänge gab, die nun als junge Erwachsene in Städte ziehen. Bei dieser zahlenmäßig starken Gruppe von heute handelt es sich aber um die Suburbaniten von morgen.
Lesen Sie auch zu diesem Thema:
IFSS-Gutachten: „Zurück in die Innenstadt? [PDF, 47 Seiten]
Kurzfassung des IFSS-Gutachtens
Grafiken zum IFSS-Gutachten [PDF, 17 Seiten]
02.01.2014