Leitsätze:
a) Der Umstand, dass der Mieter – gemessen an seinen wirtschaftlichen Verhältnissen und seinen Bedürfnissen – eine deutlich zu große Wohnung nutzt, ist zwar in die nach § 559 Abs. 4 Satz 1 BGB vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Interessen zu Lasten des Mieters einzubeziehen. Hierfür darf als Maßstab jedoch nicht die nach den Ausführungsvorschriften zur Gewährung von staatlichen Transferleistungen oder den Vorschriften für die Bemessung von Zuschüssen für den öffentlich geförderten Wohnungsbau vorgesehene Wohnfläche zugrunde gelegt werden.
b) Zudem ist die einer Berufung auf einen Härtefall nach § 559 Abs. 4 Satz 1 BGB im Einzelfall entgegenstehende Unangemessenheit ohnehin nicht isoliert nach einer bestimmten Größe für die jeweilige Anzahl der Bewohner zu beurteilen. Vielmehr kommt es darauf an, ob die vom Mieter genutzte Wohnung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls für seine Bedürfnisse deutlich zu groß ist.
BGH vom 9.10.2019 – VIII ZR 21/19 –
Langfassung: www.bundesgerichtshof.de [PDF, 24 Seiten]
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Der Mietvertrag über die 86 Quadratmeter große Wohnung wurde im Jahr 1962 von den Eltern des Mieters abgeschlossen. Seit Längerem bewohnte der Mieter die Wohnung allein. Er bezog Arbeitslosengeld II und erhielt zur Deckung der Wohnungsmiete monatlich einen Betrag von circa 463,10 Euro. Seit Juni 2016 betrug die Kaltmiete für die Wohnung 574,34 Euro pro Monat zuzüglich eines Heizkostenvorschusses in Höhe von 90 Euro.
Ende März 2016 erhöhte die Vermieterin nach durchgeführten Modernisierungen die Kaltmiete ab dem 1. Januar 2017 um 240 Euro monatlich. Hiervon entfielen nach ihren Erläuterungen 70 Euro auf die Dämmungsarbeiten (davon 4,16 Euro auf die Dämmung der obersten Geschossdecke), 100 Euro auf den Anbau neuer Balkone und weitere 70 Euro auf die Wiederinbetriebnahme des Fahrstuhls.
Der Mieter erhob daraufhin Klage auf Feststellung, dass er nicht zur Zahlung der Mieterhöhung von 240 Euro monatlich verpflichtet sei, weil die Mieterhöhung für ihn eine finanzielle Härte bedeute. Amts- und Landgericht gaben dem Mieter weitgehend Recht.
Im Revisionsverfahren vor dem BGH trug der Vermieter vor, dass nach den für staatliche Transferleistungen geltenden Vorschriften für einen Einpersonenhaushalt lediglich eine Wohnfläche von 50 Quadratmeter als angemessen gelte. Die Wohnung des Arbeitslosengeld II beziehenden Mieters sei aber knapp 86 Quadratmeter groß und übersteige damit diese Grenze erheblich. Letztlich laufe die einen Härtefall bejahende Entscheidung des Landgerichts darauf hinaus, dass der Vermieter den „Luxus“ des Mieters zu finanzieren habe.
Der BGH trat dieser Auffassung entgegen. Nach § 559 Abs. 4 Satz 1 BGB sei eine Mieterhöhung ausgeschlossen, soweit sie auch unter Berücksichtigung der voraussichtlichen künftigen Betriebskosten für den Mieter eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Die Beurteilung, ob eine Modernisierungsmaßnahme für den Mieter eine nicht zu rechtfertigende Härte bedeuten würde, obliege dem Tatrichter, der aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalles die Interessen der Beteiligten gegeneinander abzuwägen habe.
§ 559 Abs. 4 Satz 1 BGB mache keine Vorgaben, unter welchen Umständen die Grenzen der finanziellen Fähigkeit des Mieters zur Erbringung der Mieterhöhung überschritten seien. Die Vorschrift bringe lediglich zum Ausdruck, dass es entscheidend darauf ankomme, inwieweit die Mieterhöhung dem Mieter in Anbetracht seiner wirtschaftlichen Verhältnisse (und etwa durch die Modernisierung eingetretener Vorteile) zuzumuten sei.
Zwar sei der Umstand, dass der Mieter, gemessen an seinen wirtschaftlichen Verhältnissen und seinen Bedürfnissen, eine viel zu große Wohnung nutze, zu seinen Lasten in die Abwägung der beiderseitigen Interessen einzubeziehen. Ein solcher Sachverhalt liege jedoch nicht bereits dann vor, wenn der Mieter – wie hier – eine Wohnung nutzt, die gemessen an den Ausführungsvorschriften zur Gewährung von staatlichen Transferleistungen (etwa zu § 22 SGB II, § 35 f. SGB XII) oder an den Vorschriften für die Bemessung von Zuschüssen für den öffentlich geförderten Wohnungsbau zu groß sei. Nach diesen Vorschriften bestimme sich zwar, welche staatlichen Unterstützungen ein Mieter in diesen Fällen zur Deckung seiner Wohnkosten erhalten könne. Daraus lasse sich aber noch nicht ableiten, dass ein – auch deutliches – Überschreiten der dort angesetzten Wohnungsgrößen zum Nachteil des Mieters im Rahmen der Abwägung nach § 559 Abs. 4 Satz 1 BGB gereiche.
Die genannten Vorschriften sollten sicherstellen, dass sich ein Mieter nicht auf Kosten der Allgemeinheit eine zu große Wohnung leiste. Im Rahmen des § 559 Abs. 4 Satz 1 BGB gelte es dagegen abzuwägen, ob der Mieter, der sich einer von ihm nicht beeinflussbaren Entscheidung des Vermieters ausgesetzt sehe, Modernisierungsmaßnahmen an der von ihm angemieteten Wohnung durchzuführen, trotz des Refinanzierungsinteresses des Vermieters seinen bisherigen Lebensmittelpunkt beibehalten dürfe. Schon vor dem Hintergrund ihres unterschiedlichen Regelungszwecks sei es nicht zulässig, die in den Vorschriften der § 22 SGB II, § 35 f. SGB XII, § 2 Abs. 2 des Wohnraumgesetzes des Landes Berlin oder ähnlicher Bestimmungen festgelegten Wohnungsgrößen als Maßstab für eine den Verhältnissen des Mieters angemessene Wohnung zu nehmen.
Abgesehen davon sei zu berücksichtigen, dass nicht nur das Eigentum des Vermieters, sondern auch die Besitzposition des Mieters den Schutz von Artikel 14 Abs. 1 GG genieße. Ein Mieter könne daher bei der Anwendung des § 559 Abs. 4 Satz 1 BGB und der Auslegung der dort enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe, namentlich des Begriffs „Härte“, verlangen, dass die Gerichte die Bedeutung und die Tragweite seines Bestandsinteresses hinreichend erfassen und berücksichtigen. Die einer Berufung auf einen Härtefall nach § 559 Abs. 4 Satz 1 BGB im Einzelfall entgegenstehende Unangemessenheit einer Wohnung könne daher nicht isoliert nach einer bestimmten Größe für die jeweilige Anzahl der Bewohner beurteilt werden.
Vielmehr kommt es darauf an, ob die vom Mieter genutzte Wohnung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls für seine Bedürfnisse deutlich zu groß sei. Dabei könnten – anders als bei der Bestimmung der Härte selbst, bei der es allein auf die wirtschaftliche Situation ankommt (vgl. § 555 d Abs. 1 Satz 2, § 559 Abs. 4 Satz 1 BGB) – auch die Verwurzelung des Mieters in der Wohnung und seine gesundheitliche Verfassung sowie weitere im Einzelfall gegebene Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Solche abwägungsrelevanten Umstände habe das Landgericht rechtsfehlerfrei in seine Bewertung einbezogen. Es habe aufseiten des Mieters als maßgeblichen Gesichtspunkt berücksichtigt, dass dieser schon seit seinem fünften Lebensjahr und damit seit 1962 in der Wohnung lebe. Dem Kläger sei mithin jedenfalls nicht vorzuwerfen, schon seit Beginn des Mietverhältnisses über seinen wirtschaftlichen Verhältnissen zu wohnen.
In Anbetracht dieser Umstände habe das Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht angenommen, dass der Geltendmachung einer finanziellen Härte nicht entgegenstehe, dass er als Einzelperson eine Dreizimmerwohnung mit einer Fläche von 86 Quadratmeter nutze. Dabei könne im Streitfall offenbleiben, ab welcher Wohnungsgröße ohne das Hinzutreten weiterer Umstände (hier jahrzehntelanger Lebensmittelpunkt des Mieters) eine Wohnung für einen Einpersonenhaushalt mit beengten wirtschaftlichen Verhältnissen deutlich zu groß wäre. Auch hierzu ließen sich starre Grenzen nicht festlegen. Einen ersten Anhaltspunkt können statistische Werte oder Erfahrungswerte bilden, die allerdings mit einem Zuschlag für eine erhebliche Überschreitung zu versehen seien.
Eine solche Sichtweise laufe nicht auf eine Missachtung des Eigentumsrechts des Vermieters aus Art. 14 Abs. 1 Grundgesetz hinaus. Denn zum einen unterliege dieses der Sozialbindung (Artikel 14 Abs. 2 Grundgesetz) und zum anderen hätten die Gerichte die Grundrechte beider Mietvertragsparteien aus Artikel 14 Abs. 1 Grundgesetz in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Der Vermieter werde vor einer unzumutbaren Beschneidung seiner Eigentumsbefugnisse dadurch geschützt, dass einerseits § 559 Abs. 4 Satz 2 BGB in bestimmten Fällen die Berufung des Mieters auf das Vorliegen einer wirtschaftlichen Härte von vornherein ausschließe, und andererseits das Festhalten an einer – gemessen an den finanziellen Verhältnissen des Mieters – deutlich zu großen Wohnung im Einzelfall dazu führen könne, dass der Härteeinwand nicht ins Gewicht falle oder gänzlich ausgeschlossen sei.
01.02.2020