Leitsatz:
Beruft sich der Mieter im Räumungsprozess darauf, die Beendigung des Mietverhältnisses stelle für ihn eine unzumutbare Härte dar (§ 574 Abs. 1 Satz 1 BGB) und trägt er zu seinen diesbezüglich geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen substanziiert sowie unter Vorlage aussagekräftiger fachärztlicher Atteste vor, verstößt die Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens zum Gesundheitszustand des Mieters sowie zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen seiner – behaupteten – Erkrankungen auf die Lebensführung im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung regelmäßig gegen das Gebot rechtlichen Gehörs.
BGH vom 26.5.2020 – VIII ZR 64/19 –
Langfassung: www.bundesgerichtshof.de [PDF, 14 Seiten]
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Einer offensichtlich begründeten Eigenbedarfskündigung widersprach das Mieterehepaar wegen Vorliegens schwerer gesundheitlicher Härtegründe in der Person des Ehemannes.
Diesbezüglich legten die Mieter zahlreiche Atteste über ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie amtliche Bescheinigungen über einen Behinderungsgrad des Ehemanns (GdB) von 70 und der Ehefrau von 40 vor. Ausweislich der Atteste leidet der 1944 geborene Ehemann unter diversen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, unter anderem an einer fortgeschrittenen COPD (Chronische obstruktive Lungenerkrankung) mit rezidivierenden Infektacerbationen und Lungenentzündungen, einer arteriellen Hypotonie, Diabetes sowie einem Zustand nach Aortenklappenprothese. Die Atteste eines Facharztes für innere Medizin führen aus, dass dem Mieter ein Umzug aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar und für diesen Fall eine weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu befürchten sei. Im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens legten die Mieter weiterhin ein Attest eines Facharztes für Neurologie vor. Darin ist ausgeführt, dass sich der Mieter seit dem Jahr 2014 in der ambulanten nervenärztlichen Behandlung befinde. Der Patient sei aufgrund seiner multiplen Erkrankungen in seiner Belastbarkeit erheblich eingeschränkt. Insbesondere aufgrund einer stark reduzierten kognitiven Anpassungsmöglichkeit könne er sich an Veränderungen in seinem unmittelbaren Lebensumfeld schwer gewöhnen. Eine Veränderung der Wohnsituation hätte eine Verschlimmerung der Anpassungsminderung zur Folge.
Das Amtsgericht hat ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens nach Vernehmung von Zeugen der Räumungsklage – ohne Gewährung einer Räumungsfrist – stattgegeben.
Im Berufungsverfahren haben die Mieter weitere (aktuelle) Atteste, unter anderem ein Attest des behandelnden Neurologen vorgelegt, worin dem Mieter (unter anderem) ein dementielles Syndrom mit organischer Hirnstörung und Verhaltensstörung bescheinigt wird, aufgrund dessen der Patient in seiner Anpassungsbreite massiv beeinträchtigt sei. Er könne Veränderungen seiner Umgebung nicht mehr adäquat verarbeiten und reagiere darauf mit vermehrter Ratlosigkeit. In fremder, neuer Umgebung infolge eines Wohnortwechsels würde sich die Symptomatik verschlechtern. Das Landgericht hat die Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO – ebenfalls ohne Gewährung einer Räumungsfrist – zurückgewiesen.
Im Revisionsverfahren entschied der BGH wie aus dem Leitsatz ersichtlich, hob das Urteil des Berufungsgerichts auf und verwies den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück.
Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichte das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Als Prozessgrundrecht solle es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebiete Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines solchen erheblichen Beweisangebots verstoße gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr finde.
So sei es vorliegend: Das Berufungsgericht hätte das Vorliegen einer Härte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 BGB) nicht verneinen dürfen, ohne den (angebotenen) Sachverständigenbeweis zu den behaupteten Erkrankungen sowie den gesundheitlichen Auswirkungen eines erzwungenen Umzugs für die Mieter zu erheben.
Mache ein Mieter – wie vorliegend – für den Fall eines erzwungenen Wohnungswechsels substanziiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, hätten sich die Tatsacheninstanzen daher – beim Fehlen eigener Sachkunde – regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden seien, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen würden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten könne. Diese Verpflichtung zu besonders sorgfältiger Nachprüfung des Parteivorbringens bei schwerwiegenden Eingriffen in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit folge nicht zuletzt aus der grundrechtlichen Verbürgung in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
Trage der Mieter unter Vorlage eines (aussagekräftigen) Attests des behandelnden Facharztes – vorliegend sogar mehrerer – vor, ihm sei ein Umzug wegen einer schweren Erkrankung nicht zuzumuten, sei im Falle des Bestreitens dieses Vortrags regelmäßig die – beim Fehlen eines entsprechenden Beweisantritts von Amts wegen vorzunehmende – Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen der beschriebenen Erkrankung auf die Lebensführung des betroffenen Mieters im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung erforderlich. Dabei seien nicht nur Feststellungen zu der Art und dem Ausmaß der Erkrankungen sowie den damit konkret einhergehenden gesundheitlichen Einschränkungen, sondern auch zu den konkret feststellbaren oder zumindest zu befürchtenden Auswirkungen eines erzwungenen Wohnungswechsels zu treffen, wobei im letzteren Fall auch die Schwere und der Grad der Wahrscheinlichkeit der zu befürchtenden gesundheitlichen Einschränkungen zu klären sei. Erst dies versetze den Tatrichter in einem solchen Fall in die Lage, die Konsequenzen, die für den Mieter mit dem Umzug verbunden seien, im Rahmen der nach § 574 Abs. 1 BGB notwendigen Abwägung sachgerecht zu gewichten.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts hätten die Mieter konkret zu ihren gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorgetragen und zahlreiche ausführliche fachärztliche Atteste sowie die jeweiligen Bescheide zur Feststellung eines Grades der Behinderung – beim Mieter bestehe ein GdB von 70, bei der Mieterin ein GdB von 40 – vorgelegt.
Damit hätten die Mieter entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht lediglich ein „schlichtes Unbehagen vor einem Umzug“, sondern hinreichend substanziiert physische sowie (bezüglich des Mieters) psychische Erkrankungen dargelegt, die allein oder in Verbindung mit weiteren Umständen einen Härtegrund im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB begründen können. Sofern das Berufungsgericht demgegenüber die Erkrankungen als lediglich „altersbedingte Beschwerden“ bagatellisiert sowie die gesundheitlichen Auswirkungen des erzwungenen Wohnungswechsels selbst beurteilt habe, habe es sich eine Sachkunde angemaßt, über die es – offensichtlich – nicht verfüge.
Diese dem Berufungsgericht unterlaufene Gehörsverletzung sei auch entscheidungserheblich. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht nach Einholung eines Sachverständigengutachtens vom Vorliegen eines Härtegrundes im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB ausgegangen wäre.
28.03.2022