Leitsätze:
1. Zu den Voraussetzungen einer nicht zu rechtfertigenden Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB bei der ernsthaften Gefahr eines Suizids des Mieters im Falle einer Verurteilung zur Räumung.
2. Sowohl bei der Feststellung des Vorliegens einer Härte im Sinne von § 574 Abs. 1 BGB als auch bei deren Gewichtung im Rahmen der Interessenabwägung zwischen den berechtigten Belangen des Mieters und denen des Vermieters ist im Einzelfall zu berücksichtigen, ob und inwieweit sich die mit einem Umzug einhergehenden Folgen durch die Unterstützung des Umfelds des Mieters beziehungsweise durch begleitende ärztliche und/oder therapeutische Behandlungen mindern lassen.
3. Die Ablehnung einer möglichen Therapie durch den suizidgefährdeten Mieter führt nicht grundsätzlich dazu, dass das Vorliegen einer Härte abzulehnen oder bei der Interessenabwägung den Interessen des Vermieters der Vorrang einzuräumen wäre. Vielmehr ist dieser Umstand im Rahmen der umfassenden Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, bei der auch die Gründe für die Ablehnung, etwa eine krankheitsbedingt fehlende Einsichtsfähigkeit in eine Therapiebedürftigkeit sowie die Erfolgsaussichten einer Therapie zu bewerten sind.
4. Das Angebot einer Ersatzwohnung durch den Vermieter und dessen Ablehnung durch den Mieter sowie die Gründe hierfür sind ebenfalls einzelfallbezogen sowohl bei der Beurteilung, ob eine Härte vorliegt, als auch bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen.
5. Zur Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit nach § 574 a Abs. 2 Satz 2 BGB bei unabsehbar fortbestehender Suizidgefahr.
BGH vom 26.10.2022 – VIII ZR 390/21 –
Langfassung: www.bundesgerichtshof.de [PDF, 27 Seiten]
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Die Mieterin widersprach der Eigenbedarfskündigung und machte Härtegründe geltend. Sie leide unter anderem an schwerer rezidivierender Depression bis hin zu Suizidideen.
Das Amtsgericht hat die behandelnde Ärztin der Mieterin als Zeugen vernommen. Weiter hat es zum Gesundheitszustand der Mieterin, insbesondere zur Frage einer Suizidgefahr, ein Sachverständigengutachten und ein Ergänzungsgutachten hierzu eingeholt sowie den Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung ergänzend angehört. Es hat sodann die Klage abgewiesen und die Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit zu den im Mietvertrag vorgesehenen Bedingungen, allerdings unter Erhöhung der Nettokaltmiete auf monatlich 367,49 Euro zuzüglich einer Betriebskostenvorauszahlung von 69,02 Euro ausgesprochen.
Auf die Berufung des Vermieters hat das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil insoweit abgeändert, als es die in dem auf unbestimmte Zeit fortgesetzten Mietverhältnis zu zahlende monatliche Nettokaltmiete auf 518 Euro festgesetzt hat. Im Übrigen hat das Berufungsgericht die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Der BGH erachtete die Revision des Vermieters für unbegründet. Ohne Rechtsfehler habe das Berufungsgericht entschieden, dass die Mieterin nach §§ 574, 574 a BGB die Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit verlangen kann. Sowohl die Annahme einer Härte im Sinne von § 574 Abs. 1 BGB als auch die Interessenabwägung nach § 574 BGB und die Bestimmung der Modalitäten der Fortsetzung nach § 574 a BGB, insbesondere die Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit (§ 574 a Abs. 2 Satz 2 BGB), hielten revisionsrechtlicher Überprüfung stand.
Das Berufungsgericht habe in Übereinstimmung mit dem Amtsgericht auf Grundlage des eingeholten Sachverständigengutachtens sowie der Vernehmung der Zeugin Dr. V. festgestellt, dass bei der Mieterin für den Fall der Räumung die Gefahr eines Suizids bestehe. Die Gefahr sei sehr hoch. Das Berufungsgericht habe bei dieser Einschätzung berücksichtigt, dass die Mieterin bereits eine Suizidmethode – Sprung vom Balkon ihrer Wohnung – unter Verwerfung der ebenfalls angedachten Möglichkeit eines Suizids durch Tabletteneinnahme in Aussicht genommen habe. Das Berufungsgericht habe weiter festgestellt, dass die Mieterin aufgrund ihrer völligen Fixierung auf ihre Wohnung krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen sei, die ihr angebotene Ersatzwohnung anzunehmen. Sie könne sich aufgrund ihrer psychischen Erkrankung ein Leben in dieser Alternativwohnung nicht als mögliche Lösung für ihre als ausweglos empfundene Situation vorstellen. Die Mieterin sei so fixiert auf ihre Wohnung, dass sie schon deshalb und damit krankheitsbedingt eine stationäre therapeutische Intervention ablehne und demnach bereits aufgrund der Erkrankung die Möglichkeiten therapeutischer Intervention eingeschränkt seien. Zudem sei die Aussicht auf eine erfolgreiche therapeutische – ambulante oder stationäre – Behandlung gering. Therapiemöglichkeiten seien zweifelhaft und wenig erfolgversprechend, weil die Mieterin gedanklich extrem fixiert sei und zudem auch paranoide Vorstellungen im Hinblick auf die Vermieterseite entwickelt habe. Vor dem Hintergrund dieser auf einer umfangreichen Beweisaufnahme beruhenden Feststellungen sei die Annahme einer Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 BGB nicht zu beanstanden.
Zutreffend seien die Vorinstanzen bei der Gewichtung der für die Mieterin bestehenden Härte davon ausgegangen, dass das Angebot und die Ablehnung der Ersatzwohnung die Bedeutung des Härtegrunds Suizidgefahr nicht entscheidend mindern. Denn die Mieterin sei nach den Feststellungen der Vorinstanzen aufgrund ihrer krankhaften Fixierung auf die streitgegenständliche Wohnung nicht in der Lage, die angebotene Ersatzwohnung auch nur als mögliche Alternative zu ihrer derzeitigen Wohnung zu sehen und darin einen Weg aus der von ihr als ausweglos empfundenen Situation zu erkennen, so dass krankheitsbedingt das Angebot einer Ersatzwohnung an dem Grad der Lebensgefahr und damit der Schwere der Härte nichts ändere.
Entsprechendes gilt für die Ablehnung einer stationären Therapie. Die Mieterin, die bereits seit Jahren unter einer rezidivierenden Depression leide und der hiergegen von der Zeugin Dr. V. auch ein Medikament verschrieben wurde, sei wegen ihrer krankhaften Fixierung auf die Wohnung nicht in der Lage, diese zum Zwecke einer stationären Therapie zu verlassen. Vor diesem Hintergrund sei eine stationäre Behandlung schon keine Möglichkeit, die die Suizidgefahr im Falle einer Verurteilung zur Räumung mindern könnte. Die krankheitsbedingte und damit der Mieterin nicht vorwerfbare Ablehnung einer stationären Therapie führe deshalb hier nicht dazu, dass die bestehende Härte im Rahmen der Interessenabwägung geringer zu gewichten wäre.
Sofern sich die im Rahmen dieser Ermessensentscheidung berücksichtigten Umstände, etwa wegen einer unvorhergesehenen Besserung der Situation der Mieterin oder wegen einer Veränderung im Nutzungsbedarf des Vermieters beziehungsweise der Dringlichkeit dieses Bedarfs, nachträglich wesentlich ändern sollten, käme eine erneute Kündigung in Betracht, bei der gemäß § 574 c Abs. 2 Satz 2 BGB eine Fortsetzung des Mietverhältnisses nur nach § 574 BGB unter Berücksichtigung und Würdigung der dann bestehenden, wesentlich veränderten Umstände zu berücksichtigen wären. Der Umstand, dass der Vermieter bei einer Verlängerung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit auf dieses Vorgehen angewiesen sei, während bei einer Fortsetzung auf eine bestimmte Zeit das Mietverhältnis mit Ablauf dieser Zeit automatisch enden würde, sei die gesetzliche Folge der Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit und nicht ein im Rahmen der Abwägungsentscheidung zugunsten des Vermieters zu berücksichtigender Belang.
22.02.2023