Leitsätze:
1. Ein offensichtlicher Fehler i.S.d. § 30 AVBEltV liegt nicht vor, wenn die ordnungsgemäße Funktionsweise des Stromzählers erst durch einen Sachverständigen geprüft werden müsste.
2. Die ordnungsgemäß an der Übergabestelle gemessene Energie muss von dem Kunden vollständig bezahlt werden, auch wenn sie von Dritten im Bereich der Kundenanlage bezogen worden sein sollte.
3. Auf Nachforderungen, die sich daraus ergeben, dass sich eine gemäß §20 Abs. 2 AVBEltV vorgenommene Schätzung bei späterer Ablesung als zu niedrig herausstellt, findet die Zweijahresfrist des § 21 Abs. 2 AVBEltV keine Anwendung.
4. Auch Nachforderungen eines Versorgungsunternehmens werden gemäß § 27 Abs. 1 AVBEltV erst mit Zugang der die Nachforderung enthaltenen Rechnung bei dem Kunden fällig.
LG Berlin, Urteil vom 13.3.03 – 5 O 352/02 –
Mitgeteilt von RiLG Pechan
Urteilstext
Aus dem Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Bezahlung von Stromlieferungen in der Zeit vom 25.2.1997 bis 31.8.2000.
Die Beklagte bewohnte seit 1980 eine 53,89 Quadratmeter große Wohnung in der K…- straße in Berlin, und wurde von der Klägerin über den Zähler mit der Nummer … mit Strom beliefert. Nachdem die Klägerin am 25.2. 1997 im Rahmen einer „Turnusablesung“ einen Zählerstand von 60072,0 kWh festgestellt hatte, erstellte sie in der Folgezeit unter dem 14.4.1998, dem 13.4.1999 und dem 13.4.2000 Jahresabrechnungen …, die auf Schätzungen beruhten; denn die Beklagte teilte der Klägerin trotz Aufforderung keine Zählerstände des Stromzählers mit und ermöglichte der Klägerin auch nicht den Zugang zu dem Stromzähler. Bei den vorgenannten Jahresabrechnungen legte die Klägerin jeweils einen geschätzten Jahresstromverbrauch von 1314 beziehungsweise 1318 kWh zu Grunde. Anlässlich des Auszugs der Beklagten aus der oben genannten Wohnung las der Vermieter der Beklagten am 31.8. 2000 einen Zählerstand des Stromzählers von 121899,0 kWh ab und teilte diesen der Klägerin mit. Auf der Grundlage dieser Ablesung erstellte die Klägerin unter dem 13.9. 2000 eine Endabrechnung über eine Restforderung von 17385,35 DM. … Nachdem die jetzige Prozessbevollmächtigte der Beklagten hiergegen Einwendungen erhoben hatte, machte die Klägerin mit der berichtigten Rechnung vom 17.10.2001 … eine restliche Forderung von 9254,21 Euro für die Zeit vom 25.2.1997 – dem Zeitpunkt der vorletzten Ablesung – bis zum 31.8.2000 – dem Zeitpunkt der letzten Ablesung bei Auszug durch den Vermieter der Beklagten – geltend, die sie mit der Klage weiter verfolgt. Die Beklagte erhebt die Einrede der Verjährung.
Die Klägerin behauptet, die Beklagte habe in der Zeit vom 25.2.1997 bis zum 31.8.2000 – entsprechend der Ergebnisse der Ablesungen des Stromzählers – eine Strommenge von 61827 kWh verbraucht. Die Wohnung der Beklagten sei elektrisch beheizt worden.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 9254,21 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 6.11.2001 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Sie bestreitet, Strom in der berechneten Menge verbraucht zu haben und behauptet, ein Stromverbrauch von 61827 kWh in etwa dreieinhalb Jahren sei bei einem Einpersonenhaushalt schlicht nicht vorstellbar und könne nur auf einem technischen Fehler des Stromzählers oder auf der Manipulation durch Dritte beruhen. In dem von ihr bewohnten Haus hätten erhebliche Baumaßnahmen stattgefunden. Ihre Wohnung sei durch zwei Kachelöfen beheizt worden. Nur in der Küche sei in den kälteren Monaten ein elektrischer Radiator betrieben worden.
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Klage ist begründet.
Bei der Entscheidung des Rechtsstreits findet das BGB in der bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung Anwendung, Artikel 229 § 5 Satz 1 und § 6 EGBGB.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von 9254,21 Euro aus § 433 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 27 Abs. 1 der Allgemeinen Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden in der Fassung vom 21.6.1979 (BGBl. I, Seite 684; im Folgenden: AVBEltV).
Bei der Abrechnung der von der Klägerin in der Zeit vom 25.2.1997 bis zum 31.8.2000 gelieferten Strommenge ist ein Stromverbrauch der Beklagten von 61827 kWh zu Grunde zu legen; denn mit ihren Einwänden zur Menge ihres Stromverbrauchs ist die Beklagte gemäß § 30 Nr. 1 AVBEltV ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift berechtigen Einwände gegen Rechnungen zum Zahlungsaufschub oder zur Zahlungsverweigerung nur, soweit sich aus den Umständen ergibt, dass offensichtliche Fehler vorliegen. Dies sind zum Beispiel Fehler bei der Abgrenzung und Erfassung der Kosten, bei der Anwendung von Pauschalsätzen oder bei Rechenfehlern (OLG Düsseldorf RdE 1987, 245; Hermann/Recknagel/ Schmidt-Salzer, Allgemeine Versorgungsbedingungen, Band II, § 30 AVBEltV Rdnr. 17), die objektiv leicht erkennbar sind. Ein offensichtlicher Fehler liegt hingegen nicht vor, wenn vertiefte rechtliche Erwägungen über die Berechtigung der Forderung angestellt oder Beweise erhoben werden müssen (LG Düsseldorf RdE 1992, 193). Es ist daher in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein offensichtlicher Fehler auch dann nicht vorliegt, wenn die ordnungsgemäße Funktionsweise des Stromzählers erst durch einen Sachverständigen geprüft werden müsste (LG Düsseldorf RdE 1989, 266; AG Bremerhaven RdE 1998, 208).
Soweit die Beklagte vorträgt, auf Grund der Menge des Verbrauchs und des nur zeitweisen Betriebes einer elektrischen Heizung sei der Stromverbrauch von 61827 kWh in etwa dreieinhalb Jahren unvorstellbar, fehlt es an dem konkreten Vortrag der in der Wohnung mit Strom betriebenen Geräte, so dass jede konkrete Überprüfung der Unmöglichkeit des Stromverbrauchs in dieser Menge ohnehin ausgeschlossen ist. Eine mögliche Fehlerhaftigkeit des Stromzählers kann daher nur durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens nachgewiesen werden und ist somit gemäß § 30 Nr. 1 AVBEltV in diesem Rechtsstreit nicht zu berücksichtigen. Von der Möglichkeit des Beantragens einer Nachprüfung der Messeinrichtung durch eine Eichbehörde oder eine staatlich anerkannte Prüfstelle bei der Klägerin gemäß § 19 AVBEltV hat die Beklagte keinen Gebrauch gemacht.
Soweit die Beklagte auf mögliche Manipulationen durch Dritte und die Durchführung von Baumaßnahmen in dem von ihr bewohnten Haus verweist, ist sie mit diesen Einwänden ebenfalls gemäß § 30 Nr. 1 AVBEltV ausgeschlossen. Denn ein Energieversorgungsunternehmen erfüllt seine vertraglichen Pflichten, wenn es die – von der Beklagten aber nicht beantragte – ordnungsgemäße Funktion des Zählers überprüft. Für die Kundenanlage ist hingegen allein der Kunde verantwortlich. Kommt dort Energie abhanden, so hat der Kunde diese zu bezahlen. Die ordnungsgemäß an der Übergabestelle gemessene Energie muss also von dem Kunden vollständig bezahlt werden, auch wenn sie von Dritten im Bereich der Kundenanlage bezogen worden sein sollte (LG München RdE 1985, 238; AG München RdE 1985, 239).
Schließlich ist die Nachforderung der Klägerin auch nicht gemäß § 21 Abs. 2 zweiter Halbsatz AVBEltV auf die Zeit von zwei Jahren beschränkt, denn auf Nachforderungen, die sich daraus ergeben, dass sich eine gemäß § 20 Abs. 2 AVBEltV vorgenommene Schätzung bei späterer Ablesung als zu niedrig herausstellt, findet die Zweijahresfrist des § 21 Abs. 2 AVBEltV keine Anwendung (LG Köln RdE 1985, 107 f.; LG München RdE 1998, 124 f.; Hermann/Recknagel/Schmidt-Salzer, a.a.O., § 20 AVBEltV Rdnr. 12 Fn 9 a). § 21 Abs. 2 Satz 1 AVBEltV erfasst nur solche Fehler, die im Macht- und Rechtsbereich des Versorgungsunternehmens entstanden sind, d.h. Vorgänge, zu denen der Kunde nichts beiträgt, sondern die allein in dem Verantwortungsbereich des Versorgungsunternehmens liegen (KG NJW-RR 1988, 1524). Vorliegend sind Fehler im Verantwortungsbereich der Klägerin jedoch nicht ersichtlich; denn die Klägerin hat – auf Grund der nicht erfolgten Mitteilungen der Beklagten von dem tatsächlichen Zählerstand und der fehlenden Möglichkeit zur Selbstablesung – den Verbrauch der Beklagten zunächst berechtigterweise geschätzt, § 20 Abs. 2 AVBEltV. Die Beklagte hat diese Schätzungen durch ihr eigenes Verhalten veranlasst. Schätzungen der Klägerin hätte sie durch Mitteilung des tatsächlichen Zählerstandes oder durch Veranlassung einer Ablesung durch die Klägerin verhindern können.
Der gemäß § 196 Abs. 1 Nr. 1 BGB in zwei Jahren verjährende Anspruch der Klägerin ist nicht verjährt. Gemäß §§ 201 Satz 1, 198 Satz 1 BGB begann die Verjährung mit dem Schluss des Jahres 2001 zu laufen, denn der Anspruch wurde gemäß § 27 Abs. 1 AVBEltV frühestens zwei Wochen nach Zugang der Rechnung vom 17.10.2001 bei der Beklagten fällig. Auch Nachforderungen eines Versorgungsunternehmens werden gemäß § 27 Abs. 1 AVBEltV erst mit Zugang der die Nachforderung enthaltenden Rechnung bei dem Kunden fällig (BGH NJW 1982, 930, 931 f. noch zu Abschnitt VIII Nr. der Allgemeinen Bedingungen für die Versorgung mit elektrischer Arbeit aus dem Niederspannungsnetz der Elektrizitätsversorgungsunternehmen vom 27.1.1942). Durch die Zustellung des Mahnbescheides am 28.3.2002 wurde die Verjährungsfrist rechtzeitig unterbrochen, § 209 Abs. 1 und 2 Nr. 1 BGB.
Der Anspruch der Klägerin ist auch nicht verwirkt. Die Klägerin hat gemäß § 20 Abs. 2 AVBEltV berechtigterweise den Verbrauch der Beklagten auf der Grundlage der letzten Ablesung geschätzt und jährlich eine Rechnung übersandt. Die Beklagte konnte ohne Schwierigkeiten die geschätzte Verbrauchsmenge mit dem jeweiligen Zählerstand des Stromzählers vergleichen und gegebenenfalls Einwendungen erheben. In Anbetracht dieses Umstands sind schon Anhaltspunkte für ein Vertrauen der Beklagten auf die deutlich unter dem tatsächlichen Zählerstand liegenden Schätzungen der Verbrauchsmenge nicht ersichtlich. …
15.03.2013