Wer länger nicht mehr umgezogen ist, hat es vielleicht noch gar nicht gemerkt: Noch nie war es so einfach, sich polizeilich anzumelden. Die Unterschrift des Vermieters ist nicht mehr erforderlich, auch der Mietvertrag muss nicht vorgelegt werden. Was die Bürger zweifellos freut, lädt Straftäter zum Missbrauch ein.
Das neue Berliner Meldegesetz, mit dem Vorgaben der Bundesregierung umgesetzt wurden, ist im September 2006 in Kraft getreten. Bereits seit Mitte 2004 werden die Regelungen von den Meldestellen weitgehend angewandt. Ziel der Novellierung ist es, den Meldevorgang zu entbürokratisieren. Die wichtigste Änderung: Die Mitwirkungspflicht des Vermieters wurde gestrichen. Das heißt: Die schriftliche Bestätigung auf dem Anmeldeformular, dass die Wohnung tatsächlich bezogen wurde, ist entfallen. Außerdem muss man sich nur noch dann abmelden, wenn man ins Ausland zieht.
Gegen mehr Bürgerfreundlichkeit und weniger Bürokratie hat sicher niemand etwas einzuwenden. Für Mieter bedeuten die erleichterten Anmeldeformalitäten weniger Lauferei und für die ohnehin überlasteten Meldestellen weniger Arbeit. Doch drei Jahre nach Einführung des Gesetzes zeigt sich: Der Missbrauch hat drastisch zugenommen. Seit man sich praktisch an jeder x-beliebigen Adresse anmelden kann, gibt es immer mehr Scheinanmeldungen. Manch einer braucht beispielsweise eine Berliner Adresse, um sein Auto in der Stadt zuzulassen. Auch Schummeleien von Eltern betreffs der Einschulung von Kindern sind gang und gebe.
Häufig steckt aber auch erhebliche kriminelle Energie dahinter. „Die Missbrauchsmöglichkeiten haben sich herumgesprochen“, sagt Michael Böhl, stellvertretender Landesvorsitzender beim Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Der BDK sieht vor allem drei Missbrauchsfelder. Zum einen werde die Meldebescheinigung benutzt, um ein Girokonto zu eröffnen und dann im großen Stil Waren einzukaufen. Bis die Sache auffliegt, sind die Täter längst über alle Berge. Zum anderen, so Böhl, werden polnische Staatsbürger an der Grenze zu Hunderten von Schleppern abgeholt, die dann mit einer Vollmacht und einem Stapel Pässen in der Hand bei den Meldebehörden auftauchen und die Neuankömmlinge an irgendeiner Adresse anmelden. Mit Hilfe der Meldebescheinigung können sie ein Gewerbe anmelden und damit einer – häufig nicht legalen – Arbeit nachgehen. Das dritte Problem: Immer häufiger tauchen Unterhaltspflichtige unter. Da Mahnungen, Vorladungen vor Gericht oder Strafbefehle automatisch an die Meldeadresse geschickt werden, laufen die Ermittlungen stets ins Leere. Auch die Fahndungsarbeit der Polizei wird erheblich erschwert, wenn sie keine ladungsfähige Anschrift – so das Amtsdeutsch – von Tatverdächtigen hat.
In betrügerischer Absicht
Zu einem peinlichen Einsatz kam es unlängst in Kreuzberg. Im Vorfeld des G8-Gipfels von Heiligendamm rückte das Bundeskriminalamt zu einer Razzia in der Oranienstraße 1 an. Ein Terrorverdächtiger aus der linken Szene war hier gemeldet. Erst vor Ort stellten die Beamten fest, dass es sich um ein seit langem unbebautes Brachengrundstück handelt.
Bei der Senatsverwaltung für Inneres räumt man ein, dass seit 2004/2005 ein Anstieg von Scheinanmeldungen zu verzeichnen ist – vornehmlich zu betrügerischen Zwecken. „Unbewiesen ist, dass der Anstieg allein auf den Wegfall der Vermietermeldepflicht zurückzuführen ist“, meint die Sprecherin Tatjana Pohl. Auch die zeitgleich abgelaufene EU-Osterweiterung mit den damit verbundenen erleichterten Einreisemöglichkeiten könnte dazu beigetragen haben. Konkrete Zahlen hat die Innenverwaltung nicht.
„Die Meldebestätigung ist nicht mehr das Papier wert, auf dem es steht“, sagt Michael Böhl vom BDK (hierzu auch das Interview im Kasten rechts). Bei einer Stichprobe im vergangenen Jahr seien in einem Bezirk 367 Anschriften überprüft worden, davon erwiesen sich 50 Prozent als falsch. Sinn und Zweck des Meldewesens ist es auch, brauchbare Zahlen parat zu haben, beispielsweise über den Bedarf an Schul- und Kitaplätzen. „Wenn der Datenbestand im Melderegister so unzuverlässig ist und sich jeder Straftäter unter einer fiktiven Adresse anmelden kann, fragt man sich, wozu wir überhaupt noch ein Meldegesetz brauchen“, kritisiert Michael Böhl. Das Problem werde noch zunehmen, wenn die Anmeldung über das Internet erfolgen kann – was derzeit in der Hauptstadt aus technischen Gründen immer noch nicht möglich ist.
Nun wird niemand bestreiten, dass auch unter dem alten Gesetz Missbrauch betrieben wurde. Eine Unterschrift ist schließlich schnell gefälscht. Auch gab es Fälle, wo Vermieter Abbruchhäuser zur Verfügung stellten, um dutzenden Leuten die Anmeldung zu ermöglichen. Doch in dieser Form habe es die Probleme früher nicht gegeben, meint der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Hartmann Vetter. Auch der BMV hat zunehmend damit zu kämpfen, dass Mitglieder mit hohen Beitragsrückständen verschwinden. Vetter sieht das neue Gesetz sehr kritisch: „Unter dem Missbrauch haben gesetzestreue Bürger zu leiden, die ohne ihr Wissen für kriminelle Geschäfte als Scheinadresse benutzt werden.“ Im Prinzip kann sich nämlich jeder als Untermieter bei einem Mieter anmelden, ohne dass dieser davon weiß. Zwar muss bei der Anmeldung Name und Anschrift des Wohnungsgebers genannt werden, aber ob diese Person existiert und ob sie etwas von dem Untermieter weiß, wird in der Regel nicht kontrolliert. Zwar sind die Meldestellen angehalten, in Verdachtsfällen Nachforschungen anzustellen und sich gegebenenfalls auch Mietverträge vorlegen zu lassen. Doch aus Zeitgründen wird das nur in Ausnahmefällen gemacht.
„So kann es nicht weitergehen – wir fordern die Rücknahme der erleichterten Anmelderegelungen“, sagt Michael Böhl vom BDK. Zumindest sollte im Meldeformular ein Passus stehen mit dem Wortlaut: „Der Unterzeichnende erklärt an Eides statt, richtige Angaben gemacht zu haben.“ Das würde wenigstens dazu führen, dass bei Missbrauch der Straftatbestand der Urkundenfälschung gegeben ist. Eine weitere Möglichkeit – so der Vorschlag des BDK – sei, dass große Wohnungsbaugesellschaften Nummern vergeben, die der Meldebehörde bekannt sind. Wer einen Mietvertrag abschließt, bekommt eine Nummer zugeteilt, mit der er sich bei der Meldebehörde anmelden kann. Somit wäre gesichert, dass der Betreffende wirklich dort wohnt, ohne dass die Unterschrift eigens vom Vermieter eingeholt werden muss.
Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) lehnt diese Vorschläge ab. Im Rahmen der Föderalismusreform sei im Übrigen das Melderecht in die Zuständigkeit des Bundes übergegangen. Derzeit ist der Bund dabei, ein neues Bundesmeldegesetz zu konzipieren, wobei die Modalitäten des Anmelderechts erneut auf dem Prüfstand stehen, so Körtings Sprecherin Tatjana Pohl.
Birgit Leiß
MieterMagazin: Was ist Ihre Hauptkritik am neuen Meldegesetz?
Michael Böhl: Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, wie leicht man zu einer Meldeadresse kommt. Dieser Missbrauch geht zu Lasten des unbescholtenen Bürgers.
MieterMagazin: Wo liegen die Gefahren für Mieter?
Michael Böhl: Zum Beispiel darin, dass plötzlich Mitarbeiter eines Inkassounternehmens vor der Tür stehen – und die treten mitunter recht rabiat auf. Oder dass die Polizei mit einem Durchsuchungsbeschluss anrückt, weil ein Tatverdächtiger bei dieser Adresse gemeldet ist. Da hilft es den Mietern auch nicht, zu beteuern, dass sie den Betreffenden gar nicht kennen. Die ganze Wohnung wird durchsucht, das ist ein erheblicher Eingriff in die Privatsphäre. Mithilfe einer fiktiven Anmeldung kann sich auch jeder vom Schlüsseldienst die betreffende Wohnung öffnen lassen. Im Extremfall kann es sogar passieren, dass ein Sondereinsatzkommando die Wohnung stürmt – während die ahnungslosen Mieter beim Kaffee sitzen.
MieterMagazin: Wie können sich Mieter schützen?
Michael Böhl: Gegen Gebühr kann jeder beim Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO) Auskunft darüber einholen, wer an seiner Adresse gemeldet ist. Eine zwangsweise Abmeldung kann der Mieter jedoch nicht veranlassen.
Das Interview führte MieterMagazin-Autorin Birgit Leiß.
MieterMagazin 11/07
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Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO),
Friedrichstraße 219, 10958 Berlin,
Tel. 902 69-0
LABO im Internet:
www.berlin.de/labo
Rat und Tat
Widerspruchsrecht gegen Datenweitergabe
Nach dem Meldegesetz darf die Meldebehörde Auskunft über die folgenden Daten einzelner Personen erteilen (einfache Melderegisterauskunft): Name, Doktortitel, Anschrift und eventuell unzwischen eingetretener Tod. Diese Auskünfte dürfen seit einiger Zeit auch übers Internet erteilt werden – es sei denn, man hat dieser Form der Auskunftserteilung widersprochen. Dieser Widerspruch ist schriftlich einzulegen, entweder an das Bezirksamt (Bürgeramt / Meldestelle) oder an das
Landesamt für Bürger- und
Ordnungsangelegenheiten – II A 11 –
Friedrichstraße 219, 10958 Berlin,
Tel. 902 69 20 00.
Infos unter https://www.berlin.de/labo/
dienstleistungs
uebersicht/
service.29785.php/
dienstleistung/120678/
Der Widerspruch erstreckt sich nicht auf persönliche oder schriftliche Auskunftsersuchen.
bl
Michael Böhl ist stellvertretender Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Landesverband Berlin
Foto: Kerstin Zillmer
24.01.2023