Die Berliner Wohnungsbaugenossenschaften bieten in Zeiten steigender Wohnungsnachfrage und steigender Mieten einen Ausweg aus Verdrängungsgefahr und Vermieterwillkür, einen dritten Weg zwischen individuellem Eigentum und Wohnen zur Miete. Dass gerade auch kleinere Wohnungsbaugenossenschaften äußerst innovativ sind, belegen zahlreiche aktuelle oder unlängst abgeschlossene Bauvorhaben.
In Berlin gibt es über 80 Wohnungsbaugenossenschaften mit insgesamt mehr als 185.000 Wohnungen. Das sind über zehn Prozent des Wohnungsbestandes der Stadt. Viele Genossenschaften bauen neu. Entsprechend ihrem „Förderzweck“ und weil sie keinen Gewinn erwirtschaften müssen, können sie Wohnungen zu günstigen Mieten anbieten: Eine genossenschaftliche 60-Quadratmeter-Wohnung ist über 70 Euro günstiger als eine vergleichbare Wohnung bei den Wohnungsbaugesellschaften. Ein Genossenschaftsmitglied muss allerdings Anteile zeichnen, für eine 60-Quadratmeter-Wohnung zum Beispiel im Wert von 1500 bis 1900 Euro. Gleichwohl sind Genossenschaftswohnungen gefragt, der Leerstand tendiert gegen Null.
Im Gemeinschaftsraum der Genossenschaft „Leuchtturm“ in der Pappelallee 43 hängt ein Plakat „Scheiß Kapitalisten“. Hier haben sich 27 Erwachsene im Alter von 37 bis 68 Jahren mit ihren 15 Kindern den Traum vom selbstverwalteten, nicht profitorientierten, generationenübergreifenden Wohnen erfüllt. Es war ein langer Weg von der ersten Idee im Jahre 2005 über die Gründung der Genossenschaft im Jahr 2007 bis zum Einzug im Oktober 2009. Das Treppenhaus ist noch nicht fertig, ein Dachgarten ist in Planung. Der Bau erfolgte nach ökologischen Prinzipien, nachhaltig, als Niedrigenergiehaus, mit Geothermie-Nutzung, Wärmerückgewinnung, Fotovoltaik auf dem Dach und Ventilationsfenstern als selbst regulierender Dauerlüftung.
3,5 Millionen Euro kostete das Gebäude, das auch architektonisch ein Schmuckstück ist. Das Grundstück erhielt die Genossenschaft über die gemeinnützige Stiftung „trias“ in Erbpacht für 99 Jahre. Etwa eine halbe Million Euro mussten die Bewohner selbst aufbringen, mindestens 5000 Euro je Person. Dazu kamen Eigenleistungen im Wert von etwa 6000 Euro. Die Miete („Nutzungsentgelt“) beträgt 11 Euro je Quadratmeter warm, das sind 9,50 Euro für die Begleichung der finanziellen Verpflichtungen der Genossenschaft plus 1,50 Euro Betriebs- und Nebenkosten.
Eigentümer nach zehn Jahren
Die „Wohnungsbaugenossenschaft in Berlin“ (WiBeG) ist die einzige Genossenschaft in der Stadt, die ihren Mitgliedern auch einzelne Wohnungen in sogenannten Mischprojekten zur Verfügung stellt. In der Sebastianstraße 18-20 in Mitte, am ehemaligen Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße, bietet sie zum Beispiel acht der 20 Wohnungen zur Miete an, die anderen sind Einzeleigentum. Im nächsten Jahr kommen zwei weitere solche Häuser hinzu. 20 Prozent vom Wert der Wohnung müssen die künftigen Eigentümer als Eigenkapital einzahlen, wer mehr aufbringen kann, zahlt weniger „Nutzungsentgelt“. Die Zahlung wird den Mitgliedern jährlich als weiterer Anteilserwerb gutgeschrieben, nach rund zehn Jahren sind sie Eigentümer der Wohnung.
Das Haus ist ein Mehrgenerationenhaus. Projektsteuerer Michael Stein, Sekretär des Vorstands der WiBeG: „Wir wollen auch für Leute bauen, die weniger Geld haben, die älter oder selbstständig sind.“ 8,50 bis 8,70 Euro je Quadratmeter plus 2,60 Euro Betriebskosten beträgt die monatliche Belastung. Die Wohnungen sind 32 bis 160 Quadratmeter groß. Als „Zugabe“ stellt die Genossenschaft eine Gästewohnung, einen gemeinsamen Musikübungsraum, einen Fahrradkeller, eine Waschküche und einen 3000 Quadratmeter großen Garten ohne Zäune zur Verfügung. Im Keller gibt es zwei Ateliers. Die neun Mietwohnungen waren schnell vergeben.
Die Mietergenossenschaft „SelbstBau e.G.“, 1990 gegründet, gehört mit 380 Wohnungen, einer Haus-Wohngemeinschaft und 38 Gewerbeeinheiten schon zu den größeren Berliner Wohnungsbaugenossenschaften. Sie versteht sich als Dach beziehungsweise Büro für die Verwaltung einzelner Projekte und koordiniert deren Kontakte zu Banken, Architekten, Energieplanern und so weiter. Die Projekte zahlen dafür eine Verwaltungspauschale.
In der Landsberger Allee 55 hat SelbstBau ein Wohnprojekt für aus der Psychiatrie Entlassene mit auf den Weg gebracht. Die „Alte Schule Karlshorst“ wurde zum Mehrgenerationenhaus, in der denkmalgeschützten Turnhalle des Schulhauses entstehen demnächst sechs weitere Wohnungen. 20 Einzelprojekte hat diese Genossenschaft bisher betreut. Jeannette Albrecht, seit 1994 im Vorstand: „Für uns gilt: Die Häuser sollen denen gehören, die darin wohnen.“
Das achtzehnte Projekt ist der bewohnerorientierte und ökologische Umbau des Gutshauses und des Kurhauses auf dem Gelände des Stadtguts Blankenfelde. In den 27 Wohnungen leben heute 49 Erwachsene und 22 Kinder – die Altersspanne reicht von 0 bis 93 Jahre. Zu jeder Wohnung gehört ein Garten.
Die Häuser denen, die drin wohnen
Die „Bewohnergenossenschaft FriedrichsHeim eG“ wurde 1996 gegründet. In den folgenden Jahren übernahm sie 13 unsanierte Häuser in Friedrichshain. Bis 2012 wurden über 15 Millionen Euro in Instandsetzung und Modernisierung investiert. Stefanie Knörk, in der Genossenschaft für das Rechnungswesen zuständig: „Die Wohnungen werden uns förmlich aus der Hand gerissen. Die Leerstandsquote liegt bei Null.“ Sie wohnt selbst in einem der von der Genossenschaft sanierten Fünfgeschosser im Quartier Pintschstraße 21-23/Straßmannstraße 15. Die 40 Wohnungen haben drei bis vier Zimmer und sind 50 bis 75 Quadratmeter groß. 2010 wurden die Fassaden gedämmt und Balkone angebracht. Auf Aufzüge wurde aus Kostengründen verzichtet. Alle Wohnungen sind saniert, die Heizung erfolgt über ein Blockheizkraftwerk. Die Heizkosten liegen deshalb 10 Prozent unter denen des Berliner Versorgers GASAG.
Die Nutzungsentgelte sind am Mietspiegel orientiert, bei Neuvermietung werden etwa 6 Euro je Quadratmeter netto kalt fällig. Gern genutzt wird der begrünte Innenhof mit der gemütlichen Sitzecke.
Die Genossenschaft unterstützt interne Umzüge unter sozialen Aspekten, bei der Vergabe frei gewordener Wohnungen werden Alleinerziehende und Ältere bevorzugt berücksichtigt. Neue Mieter sollen sich bei den anderen im Haus vorstellen. Die Genossenschaft teilt per Aushang Namen und Kontaktdaten der neuen Bewerber mit, bei Interesse können die vorhandenen Bewohner Kontakt mit den Bewerbern aufnehmen. Das Ja oder Nein fällt durch Mehrheitsentscheid. Übrigens: Die Genossenschaft zahlt sogar eine „Dividende“. Für Verbesserungen in den Häusern und im Wohnumfeld hat der Vorstand ein Sonderbudget eingerichtet, 2012 standen 13.000 Euro zur Verfügung. Gerade plant die Genossenschaft ihren ersten Neubau.
Rainer Bratfisch
Gewohnte Demokratie
Die Idee der Genossenschaften kommt aus Deutschland, Gründerväter sind Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch. In der beginnenden Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, durch Kriege oder durch soziales Leid in Bedrängnis geraten, bündelten die Pioniere der Genossenschaftsbewegung ihre Kräfte durch freiwillige Kooperationen: „Hilfe durch Selbsthilfe“ war und ist das zentrale Motto der Genossenschaften. Das Identitätsprinzip – die Identität von Kunden und Eigentümern – und die demokratische Rechtsform nach dem Prinzip „Ein Mitglied – eine Stimme“ unterscheiden eine Genossenschaft von anderen Formen der kooperativen Zusammenarbeit. Grundprinzipien sind Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Allein Deutschland zählt rund 8000 Genossenschaften aller Sparten mit insgesamt 20 Millionen Mitgliedern.
rb
MieterMagazin 1+2/13
Fotos: Christian Muhrbeck
Der „Leuchtturm“ in der Pappelallee ist ein Musterprojekt in Selbstverwaltung und ökologischer Bauweise
Genossenschaftliches Wohnen hat eine große Bandbreite hinsichtlich Gebäudetyp, Lage und Ansprüche: Sebastianstraße 18-20 in Mitte (oben), Stadtgut Blankenfelde (Mitte), Pintschstraße/Straßmannstraße in Friedrichshain (unten)
Zum Weiterlesen: Bärbel Wegner, Anke Pieper, Holmer Stahncke: Wohnen bei Genossenschaften. Basics – Geschichte – Projekte. Hamburg 2012, 208 Seiten, 19,95 Euro
10.07.2019