Die Rufe nach einer gemeinwohlorientierten Wohnungsbewirtschaftung werden lauter
Folgende Themen behandelt dieser Artikel:
- Wie alles anfing: Von der Fuggerei zur Neuen Heimat
- Gemeinnützigkeit: Neuauflage eines bewährten Instruments?
- Genossenschaften: Solidarisch und sicher, aber mit Demokratie-Defiziten
- Wohnungsbaugesellschaften: So sozial, wie der Senat es vorgibt
- Selbsthelfer & Co: Wohnen in Eigenregie
- Anstalt öffentlichen Rechts: Wohnungsbewirtschaftung in kommunalem Betrieb
- Community Land Trust: Der Boden ist Gemeingut
- Kirchen und Stiftungen: Wohnraum schaffen aus sozialer Verantwortung
- Wiener Modell: Wohnungspolitik mit langem Atem
Wohnen ist ein Menschenrecht und darf keine Ware sein. Dennoch ist in Deutschland die Wohnungsversorgung überwiegend dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen. Doch der Markt versagt. Das Angebot kann die wachsende Nachfrage nach Wohnraum nicht befriedigen. Wer als Vermieter an einer maximalen Rendite orientiert ist, hat kein Interesse an Veränderungen – sichert der Wohnungsmangel doch anhaltend hohe Mieteinnahmen. Die Leidtragenden sind die Mieter: Sie finden keine neue Wohnung, und wer nicht zahlen kann, fliegt raus.
- Deshalb nehmen die Forderungen von Politikern und Bevölkerung zu, Wohnungen nicht mehr als x-beliebige Handelsware zu behandeln, sondern die Wohnungsversorgung so zu organisieren, dass sie dem Gemeinwohl dient.
- Mieter versuchen, in Selbsthilfe ihr Haus zu übernehmen, bilden Vereine oder Genossenschaften.
- Der Senat kauft Häuser an und übergibt sie an städtische Wohnungsbaugesellschaften.
- Ein Volksbegehren fordert die Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen.
- Und die Politik diskutiert über die Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit.
Dieses MieterMagazin-Spezial dokumentiert verschiedene Formen und Modelle einer gemeinwohlorientierten Wohnungsbewirtschaftung. Sie ist möglich – und notwendig.
Wie alles anfing: Von der Fuggerei zur Neuen Heimat
Das älteste Beispiel einer gemeinwohlorientierten Wohnsiedlung ist die Fuggerei in Augsburg. Sie wurde im Jahr 1521 vom Kaufmann Jakob Fugger gestiftet. Zunächst entstanden in sechs Gassen 52 Wohnungen in zweigeschossigen Reihenhäusern. Gedacht waren sie für von Armut bedrohte Handwerker und Tagelöhner, die aus eigener Kraft, zum Beispiel wegen einer Krankheit, keinen eigenen Haushalt führen konnten. Wenn sich ihre Lage besserte, sollten sie wieder ausziehen. Die Bewohner mussten „würdige Arme“ sein, das heißt Bettler wurden nicht aufgenommen. Einziehen durften außerdem nur Augsburger Bürger, die katholisch und gut beleumundet waren. Es wurde von ihnen erwartet, dass sie täglich ein Vaterunser, ein Glaubensbekenntnis und ein Ave Maria für den Stifter und die Familie Fugger sprechen. Die Jahresmiete belief sich für jede der rund 60 Quadratmeter großen Wohnungen auf einen Rheinischen Gulden. Damit konnte man damals etwa 11 Pfund Butter oder zwei Paar Stiefel kaufen.
Die Fuggerei besteht noch heute und umfasst 140 Wohnungen in 67 Reihenhäusern, in denen 150 Menschen leben. Sie wird immer noch aus dem Stiftungsvermögen Jakob Fuggers unterhalten. Für die Bewohner gelten auch heute noch die gleichen Aufnahmebedingungen wie früher. Und auch die Jahresnettokaltmiete blieb ohne jeglichen Inflationsausgleich über die Jahrhunderte unverändert. Sie wurde lediglich umgerechnet und beträgt heute 0,88 Euro – für die ganze Wohnung.
Solche mildtätigen Stiftungen waren früher lange Zeit die einzige Möglichkeit, in Notlagen eine Wohnung zu bekommen. Wer in den Augen der Stifter nicht „würdig“ erschien oder nicht in die gesellschaftliche Norm passte, hatte aber auch hier keine Chance.
Mit der Industrialisierung strömten im 19. Jahrhundert so viele mittellose Arbeitssuchende in die Städte, dass die Wohnungsnot nicht mehr ansatzweise mit milden Gaben einiger wohlhabender Bürger bewältigt werden konnte. „Man hat sich überzeugt, dass der Mangel an gesunden, bequemen und billigen Wohnungen für Personen, welche vor dem Proletariat bewahrt werden können und müssen, nie beseitigt werden wird, wenn man die Erbauung neuer, in räumlicher Beziehung genügender Häuser nur der Privatspekulation überlässt“, erkannte der königlich-preußische Landbaumeister Carl Wilhelm Hoffmann im Jahr 1847. Er sah das seinerzeitige Baugeschehen in den Händen von „hartherzigen, geldgierigen, meistenteils mittellosen, mit erborgtem Gelde sich durchschwindelnden Baupfuschern“, die „ungesunde Schlupfwinkel, höhlenartige Keller, kalte Dachkammern und feuchte Ställe zu Wohnungen eingerichtet, bei Abmessung der Räume mit jedem Zoll gegeizt“ haben. Um Abhilfe zu schaffen, gründete Hoffmann zusammen mit dem christlichen Sozialreformer Victor Aimé Huber im Jahr 1847 die „Berliner gemeinnützige Baugesellschaft“.
Ihr erster Neubau in der Ritterstraße konnte 1849 bezogen werden. Das älteste noch erhaltene Gebäude der Gesellschaft steht in der Torstraße 85/87. Bis zum Sommer 1850 baute die „Berliner gemeinnützige Baugesellschaft“ neun Häuser mit insgesamt 92 Wohnungen und neun Werkstätten. Nachahmer hat sie kaum gefunden. Nach der Reichsgründung 1871 blühte die private Bauspekulation wie noch nie. Um 1900 waren nur 0,25 Prozent des Berliner Wohnungsbestandes im Besitz der Gemeinnützigen.
Erfolgreicher waren seinerzeit die Genossenschaften. Allerdings dauerte es fast 40 Jahre, bis nach der Gründung der ersten Einkaufsgenossenschaften und Raiffeisen-Banken das solidarische Modell im Berliner Bauwesen zum Zug kam: Die erste Wohnungsbaugenossenschaft, die heute noch existierende Berliner Baugenossenschaft (bbg), wurde 1886 gegründet. Der Durchbruch für die Wohnungsbaugenossenschaften kam mit einem neuen Genossenschaftsgesetz im Jahr 1889, das die beschränkte Haftung der Genossenschaft eingeführt hat. Jetzt konnten auch wohlhabende Förderer gewonnen werden, die bislang von einem Engagement zurückgeschreckt waren, weil sie im Falle einer Pleite mit ihrem gesamten Vermögen hätten haften müssen. Die Zahl der Wohnungsbaugenossenschaften in Deutschland stieg daraufhin von 38 im Jahr 1889 auf 1402 im Jahr 1914.
Zu den Förderern gehörten sozial engagierte Kaufleute und Wissenschaftler. Renommierte Architekten wie Paul Mebes und Alfred Messel lieferten Baupläne. Die Wohnanlagen boten den Genossen einige Annehmlichkeiten: So gab es Waschhäuser, Siedlungsbüchereien, Konsumläden, Vereinslokale und manchmal sogar Kindergärten. Über die von Messel entworfenen Wohnanlagen war 1902 im „Handbuch der Sozialen Wohlfahrtspflege in Deutschland“ zu lesen: „Die Wohnhausanlagen des Berliner Spar- und Bauvereins, die für den Berliner Mietwohnungsbau ganz neue Typen geschaffen haben, stellen in konstruktiver und architektonischer Beziehung wohl das mustergültigste dar, was zur Zeit auf dem Gebiete des gemeinnützigen Miethausbaus geleistet ist.“
Zahlenmäßig erlangte die gemeinnützige Wohnungswirtschaft aber erst nach dem Ersten Weltkrieg größere Bedeutung. Zwischen 1919 und 1924 gründeten viele Städte eigene Wohnungsbauunternehmen, um die Wohnungsnot in eigener Regie zu bekämpfen. Auch die Gewerkschaften hoben Baugesellschaften aus der Taufe. In einem umfangreichen Wohnungsbauprogramm wurden in Berlin von 1924 bis 1931 rund 170.000 Wohnungen gebaut – mehr als die Hälfte davon durch die gemeinnützigen Unternehmen und die Genossenschaften.
Nach Krieg und Teilung der Stadt wurde in Ost-Berlin der Wohnungsbau staatlich organisiert. Daneben hatten auch neugegründete Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften eine große Bedeutung. Die Mieten waren vom Staat auf einem so niedrigen Niveau festgeschrieben, dass sie allein nicht zur Instandhaltung der Gebäude ausreichten.
West-Berlin nahm hingegen den Faden aus der Weimarer Republik wieder auf. Die großen Wohnungsbaugesellschaften wie Gehag, Degewo, Gewobag oder GSW wurden nun als landeseigene Unternehmen zu den wesentlichen Trägern des Wiederaufbaus, der Stadtsanierung und des Sozialen Wohnungsbaus. Sie profitierten von den vielfältigsten Subventionen und Zuschüssen, und es begannen sich enge Verflechtungen mit der Politik herauszubilden. Zum Ende der SPD-Regierung 1981 gehörte beinahe jede vierte Berliner Mietwohnung den Gemeinnützigen. 1982 flog bei der größten gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft, der gewerkschaftlich getragenen Neuen Heimat, ein Betrugs- und Missmanagement-Skandal auf, der 1986 mit der Auflösung der Neuen Heimat endete. Das ließ die Stimmung gegen die gemeinnützige Wohnungswirtschaft kippen. Die Bundesregierung unter Kanzler Kohl schaffte die Gemeinnützigkeit Ende 1989 ersatzlos ab. Das Bereitstellen bezahlbarer Wohnungen ist seither kein Anliegen mehr, das steuerlich gefördert wird.
Jens Sethmann
Gemeinnützigkeit: Neuauflage eines bewährten Instruments?
Bis vor 30 Jahren waren in der Bundesrepublik viele Wohnungsunternehmen gemeinnützig. Weil der Wohnungsmarkt heute immer mehr aus den Fugen gerät, wird seit ein paar Jahren die Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit gefordert.
Im Namen vieler Wohnungsbaugesellschaften steht zwar noch ein G für „gemeinnützig“, rechtlich sind sie es aber seit 1990 nicht mehr. Gemeinnützig bedeutete: Ein Wohnungsunternehmen verpflichtetet sich, seine Wohnungen auf Dauer zu beschränkten Preisen zu vermieten, die auszuschüttende Rendite auf vier Prozent zu begrenzen und das Firmenvermögen nur für den Wohnungsbau einzusetzen. Dafür wird es von der Körperschafts-, Gewerbe- und Vermögenssteuer, in einigen Bundesländern auch von der Grunderwerbsteuer befreit.
Jedes Wohnungsunternehmen konnte die Anerkennung als gemeinnützig beantragen. Die kommunalen und staatlichen Wohnungsbaugesellschaften waren ebenso gemeinnützig wie die gewerkschaftlichen Unternehmen und die meisten Wohnungsgenossenschaften. Von 1949 bis 1989 schufen die rund 1800 gemeinnützigen Wohnungsunternehmen in der Bundesrepublik rund ein Viertel der gesamten Neubauten, insgesamt 4,8 Millionen Wohnungen.
Im Jahr 1988 schaffte die CDU/CSU-FDP-Bundesregierung das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz mit Wirkung ab 1990 ersatzlos ab. Man hielt die Wohnungsnot der Nachkriegszeit für beendet und betrachtete den Wohnungsmarkt als entspannt. Der bis dahin praktizierte Steuerverzicht galt den Befürwortern eines ungeregelten Marktes als verdeckte Subvention, die zu beenden sei. Eingespart hat der Staat aber nichts: Er gab stattdessen viel Geld für die Eigentumsförderung, für Wohngeldzahlungen und seit den Hartz-Gesetzen für die „Kosten der Unterkunft“ aus.
Mit zwei Gutachten haben die Bundestagsfraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen im Jahr 2015 die Debatte um eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit wieder belebt. Anträge der beiden Fraktionen zur Wiedereinführung sind trotz der überwiegend positiven Stellungnahmen von Experten im Juni 2017 von der Bundestagsmehrheit aber abgelehnt worden.
Der Deutsche Mieterbund (DMB) fordert weiterhin die Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit. Sie hat – so DMB-Direktor Lukas Siebenkotten – schließlich gut funktioniert.
Jens Sethmann
Andrej Holm/Sabine Horlitz/Inga Jensen: Neue Wohnungsgemeinnützigkeit
www.rosalux.de/publikation/id/37380/neue-wohnungsgemeinnuetzigkeit/
Genossenschaften: Solidarisch und sicher, aber mit Demokratie-Defiziten
Das traditionsreichste Gemeinwirtschaftsmodell ist die Genossenschaft. Ins Leben gerufen wurden Genossenschaften ursprünglich als eine gemeinsame Einkaufsorganisation landwirtschaftlicher Produkte und als solidarisches Kreditinstitut.
Eine Wohnungsbaugenossenschaft ist eine Selbsthilfeorganisation, die ihren Mitgliedern sichere und günstige Wohnungen bieten will. Wer eine Wohnung bei einer Genossenschaft möchte, muss Mitglied werden. Dazu sind je nach Größe der Wohnung Geschäftsanteile in bestimmter Höhe zu erwerben. So wird man Genosse und Miteigentümer des Unternehmens. Der Unterschied zum Mieter wird auch sprachlich deutlich: Man unterschreibt keinen Mietvertrag, sondern einen Nutzungsvertrag. Genossen genießen ein Dauerwohnrecht, sind also unkündbar.
In Berlin wohnt rund eine halbe Million Menschen bei einer der über 80 Wohnungsbaugenossenschaften. Die insgesamt 200.000 Genossenschaftswohnungen machen 12 Prozent aller Mietwohnungen in der Hauptstadt aus. Im Bundesdurchschnitt liegt der Anteil bei 9,2 Prozent. Genossenschaften blicken auf unterschiedliche Werdegänge zurück: Es gibt altehrwürdige Bauvereine aus der Kaiserzeit, ehemalige DDR-Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften mit bis zu 10.000 Plattenbauwohnungen und aus der Hausbesetzerszene hervorgegangene Selbsthelfer-Genossenschaften.
Als Genosse kann man über die Geschäfte des Unternehmens mitbestimmen. Bei mehr als 1500 Mitgliedern wählen die Genossen eine Vertreterversammlung. Dabei hat jedes Mitglied unabhängig von der Höhe seiner Geschäftsanteile eine Stimme. Die Vertreterversammlung tagt einmal jährlich und wählt den Aufsichtsrat. Der Aufsichtsrat bestellt und kontrolliert den geschäftsführenden Vorstand.
Besonders bei den größeren Genossenschaften hat das einfache Mitglied nur einen geringen Einfluss. Immer wieder fällen Vorstände Entscheidungen, die dem Solidaritätsprinzip widersprechen. So erhöhen einige Genossenschaften die Mieten bis zur Obergrenze des Mietspiegels, lehnen Arbeitslose als Wohnungsbewerber ab oder reißen sogar intakte Häuser ab, um an ihrer Stelle deutlich teurere Wohnungen neu zu bauen.
Die im Jahr 2008 gegründete Initiative „Genossenschaft von unten“ fordert deshalb mehr innere Demokratie. So sollen die Vorstände nicht mehr vom Aufsichtsrat ernannt, sondern von der Vertreter- beziehungsweise der Generalversammlung direkt gewählt werden.
Berlins Genossenschaftswohnungen sind sehr beliebt: Freiwerdende Wohnungen finden fast immer unter den Mitgliedern neue Mieter. Die Bewohnerschaft ist konstant, viele Genossen wohnen Jahrzehnte in ihrer Siedlung. Die Genossenschaften sind deshalb auch ein wichtiger Stabilitätsanker auf dem Berliner Wohnungsmarkt.
Beim Wohnungsneubau spielen die Genossenschaften jedoch keine große Rolle. Baugrundstücke zu kaufen ist für Genossenschaften in Berlin inzwischen fast aussichtslos. Weil sie mit den Geldern ihrer Mitglieder eher vorsichtig wirtschaften, haben sie gegen finanzkräftige Investoren keine Chance. Sie nutzen deshalb für Neubauten fast ausschließlich eigene Baulandreserven, etwa indem sie ihre bestehenden Siedlungen verdichten.
Jens Sethmann
- Genossenschaftsforum
www.berliner-genossenschaftsforum.de/ - Initiative Genossenschaft von unten
www.genossenschaft-von-unten.eu/ - BMV-Infoblatt 42: Was ist eine Wohnungsbaugenossenschaft?
www.berliner-mieterverein.de/recht/infoblaetter/info-42-was-ist-eine-wohnungsbaugenossenschaft.htm
Wohnungsbaugesellschaften: So sozial, wie der Senat es vorgibt
Das Land Berlin besitzt heute sechs eigene Wohnungsbaugesellschaften: Degewo, Gesobau, Gewobag, Howoge, Stadt und Land sowie WBM. Sie vermieten zusammen rund 310.000 Wohnungen. Sie sind rechtlich als GmbH oder Aktiengesellschaft organisiert. Die Geschäftsanteile liegen komplett beim Land Berlin, und in den Aufsichtsräten sitzen Senatoren und Staatssekretäre.
Die Landespolitik hat also einen unmittelbaren Einfluss auf die Geschäfte der städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Sie verhalten sich so, wie der Senat es ihnen vorschreibt. So war es in den 90er Jahren Vorgabe, die Unternehmensschulden abzubauen und die Senatsfinanzen zu sanieren. Deshalb haben die Wohnungsbaugesellschaften im großen Stil Wohnungen verkauft. Von 1995 bis 2002 gab es eine Welle von erzwungenen Fusionen. Bei diesen „In-sich-Verkäufen“ musste ein Unternehmen den Kaufpreis für das andere Unternehmen an die notorisch klamme Senatskasse überweisen. Bei der Vermietung haben sich die landeseigenen Gesellschaften in dieser Phase kaum von Privaten unterschieden: Sie verlangten, was der Markt hergab, und fielen nicht selten sogar als Mietpreistreiber auf. Schließlich wurden 1998 die Gehag und 2004 die GSW komplett verkauft. Von 18 städtischen Wohnungsbaugesellschaften blieben am Ende sechs übrig.
Die Städtischen hatten von 2003 bis 2008 auch die zweifelhafte Aufgabe, im Rahmen des Programms Stadtumbau Ost Teile ihres Wohnungsbestandes abzureißen. Private Vermieter wären wohl kaum dazu bereit, zur „Marktbereinigung“ ihr Eigentum zu vernichten. So haben allein die Degewo und die Stadt und Land in Marzahn-Hellersdorf rund 3000 Wohnungen abgerissen.
Angesichts eines daraufhin wieder enger werdenden Wohnungsmarktes hat der Senat 2012 mit den Wohnungsbaugesellschaften das sogenannte Mietenbündnis geschlossen. Darin sind unter anderem die Mieterhöhungsmöglichkeiten beschränkt und die Vergabe von Wohnungen an Benachteiligte geregelt worden.
Inzwischen wurde das Mietenbündnis durch eine Kooperationsvereinbarung ersetzt: Seit Anfang 2017 sind bei den städtischen Wohnungsbaugesellschaften Mieterhöhungen auf vier Prozent in zwei Jahren begrenzt. In Härtefällen wird die Nettokaltmiete auf 30 Prozent des Haushaltseinkommens gesenkt. 60 Prozent der Wohnungen gehen an Haushalte, die wegen ihres geringen Einkommens einen Wohnberechtigungsschein (WBS) haben. Bei Modernisierungen wird die Umlage auf sechs Prozent reduziert und die daraus resultierende Miete darf die ortsübliche Vergleichsmiete um höchstens zehn Prozent übersteigen. Außerdem sollen die Städtischen bis 2021 mindestens 30.000 neue Wohnungen bauen und wenigstens 10.000 Bestandswohnungen ankaufen.
Den Unternehmen wurde auch mehr Demokratie verordnet. Seit 2016 hat jede Gesellschaft einen Mieterrat. Die Mieterinitiative „Kommunal und selbstverwaltet wohnen“ wirbt für eine Mieterselbstverwaltung in rekommunalisierten Häusern. Die Gewobag hat bereits mit dem Mieterbeirat des angekauften Neuen Kreuzberger Zentrums eine solche Vereinbarung geschlossen. Für die Bürgerbeteiligung bei Neubauvorhaben gibt es seit 2017 verbindliche Leitlinien.
Die Vorgaben der Politik haben die Städtischen wieder zu sozialen Vermietern gemacht, die dem Mietenwahnsinn des freien Marktes etwas entgegensetzen. Eine andere Landesregierung könnte das allerdings auch schnell wieder beenden.
Jens Sethmann
- Kooperationsvereinbarung „Leistbare Mieten, Wohnungsneubau und soziale Wohnraumversorgung“
www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/wohnraum/wohnungsbaugesellschaften/de/kooperationsvereinbarung.shtml - Gemeinsame Website der Städtischen
https://inberlinwohnen.de/ - Initiative „Kommunal und selbstverwaltet wohnen“
www.kommunal-selbstverwaltet-wohnen.de - BMV-Infoblatt 43 – Wohnraumversorgungsgesetz, Kooperationsvereinbarung mit den städtischen Wohnungsbaugesellschaften
www.berliner-mieterverein.de/recht/infoblaetter/info-43-berliner-wohnraumversorgungsgesetz-kooperationsvereinbarung-mit-den-staedtischen-wohnungsbaugesellschaften.htm - BMV-Infoblatt 72 – Tipps zum Wohnberechtigungs-schein (WBS)
www.berliner-mieterverein.de/recht/infoblaetter/info-72-tipps-zum-wohnberechtigungsschein-wbs.htm
Selbsthelfer & Co: Wohnen in Eigenregie
Mieter, die ihre eigenen Mieten festlegen und sich ums Treppenputzen und Heizöl-Bestellen kümmern? Das gibt es – und es funktioniert erstaunlich gut.
Wohl niemand hat damit gerechnet, dass die Freiburger Rebellen, die 1983 das „Mietshäuser Syndikat“ gründeten, eine solche Erfolgsgeschichte schreiben würden. Heute ist der Verbund die erste Anlaufstelle für Mieter, die ihre Häuser kaufen wollen, um nicht einem Spekulanten in die Hände zu fallen. Erst nach der Jahrtausendwende, als der Druck auf den Immobilienmarkt stieg, nahm das Modell Fahrt auf. In Berlin kam die Grünberger Straße 73 im Jahre 2003 als erstes Haus zum Freiburger Verbund. Inzwischen gibt es 183 Projekte bundesweit, 18 davon in Berlin.
Anders als viele zunächst annehmen, vergibt das Mietshäuser Syndikat kein Geld. Man unterstützt die Bewohner – die sich zunächst als Hausverein organisieren müssen – mit Know-how und guten Kontakten zu Stiftungen, die als Geldgeber in Frage kommen. Die Finanzierung ist der wunde Punkt des Ganzen. Banken scheiden in der Regel aus, weil sie zuviel Eigenkapital verlangen. Wenn sich keine Stiftung findet, sucht man daher nach privaten Geldgebern, die Direktkredite als „solidarische Finanzspritze“ gewähren. Für diesen Kredit kommen die Bewohner dann über die Mieten auf. Zusätzlich zahlen sie einen Solidarbeitrag, mit dem das Syndikat die GmbH-Einlagen anderer Häuser finanziert.
Eigentümerin des betroffenen Hauses wird eine GmbH. Ihr gehören der Hausverein als Minderheits-Gesellschafter sowie das Mietshäuser Syndikat an. „Das Konzept ist insofern beispielhaft, weil es verhindert, dass die Wohnungen später weiterverkauft werden können“, sagt Yvonne von Langsdorff aus der Zossener Straße 48, einem der Hausprojekte. Da nicht die einzelnen Mieter, sondern der Verein Gesellschafter ist, haften die Bewohner übrigens nicht mit ihrem Privatvermögen. Als Stammkapital für die Haus-GmbH müssen die Mieter 25.000 Euro zusammenlegen.
Der Fall Zossener Straße zeigt aber auch, dass das Modell angesichts horrender Kaufpreise in Berlin kein Garant mehr für preisgünstiges Wohnen ist. Die Miete der Bewohner beträgt jetzt 8,50 Euro pro Quadratmeter – eine Höhe, die sich aus der Kredit-Verpflichtung errechnet. Allerdings könnten die Mieten wegen der sinkenden Tilgungsraten langfristig auch wieder sinken.“ Das wichtigste aber ist: „Uns kann niemand mehr aus der Wohnung drängen oder unser Haus zum Renditeparkplatz machen“, erklärt Yvonne von Langsdorff. Auch entscheiden die Mieter nun über alle Belange des Wohnens selber.
Die Häuser dem Zugriff des Marktes zu entziehen ist auch das Ziel von ehemals besetzten Häusern wie dem Block 89 zwischen Kohlfurter Straße und Fraenkelufer in Kreuzberg. Einige wurden noch in den 1980er Jahren in Eigenregie von den Bewohnern saniert – zum Teil mit dem damaligen Selbsthilfe-Programm des Senats – und haben Verträge mit sehr weitgehender Autonomie ausgehandelt. Die Häuser gehören also nicht den Mietern, sondern meist städtischen Wohnungsbaugesellschaften oder im Falle des Block 89 der Deutsche Wohnen. Doch die Mieter können weitgehend schalten und walten, wie es das Plenum entscheidet. „Wir leben und lieben Selbstverwaltung“, heißt es beim Block 89. Im Laufe der Jahrzehnte sei man zu einer gut funktionierenden Hausgemeinschaft zusammengewachsen. Man teilt sich Waschküche und Werkraum und engagiert sich für die Nachbarschaft. Und die Miete? Sie ist dank des langfristigen Vertrags sehr günstig. Jeder zahlt eine Pauschale, die auch Reparaturen, Strom und Weiteres beinhaltet.
Birgit Leiß
www.syndikat.org
Anstalt öffentlichen Rechts: Wohnungsbewirtschaftung in kommunalem Betrieb
Das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ will Vermieter, die in Berlin mehr als 3000 Wohnungen haben, vergesellschaften. Nach dem bisher nie angewendeten Artikel 15 des Grundgesetzes können Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ in Gemeineigentum überführt werden. Die Wohnungen dürften dabei nicht in die als GmbH beziehungsweise AG organisierten landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften eingegliedert werden. Deshalb sollen – sofern das Volksbegehren Erfolg hat – die vergesellschafteten Wohnungen und Grundstücke in einer neuen Anstalt öffentlichen Rechts unterkommen, in der sie ohne Gewinnabsichten rein kostendeckend verwaltet werden. Es wäre das erste Wohnungsunternehmen in dieser Rechtsform.
Anstalten öffentlichen Rechts (AöR) sind Betriebe im Besitz des Bundes, eines Bundeslandes oder einer Kommune. Rundfunkanstalten, Landesbanken und Sparkassen sind traditionell als AöR organisiert. Mit dem Berliner Betriebegesetz wurden 2006 die bisherigen Eigenbetriebe Berliner Stadtreinigung (BSR), Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) und Berliner Wasserbetriebe (BWB) in Anstalten öffentlichen Rechts umgewandelt.
Der Träger einer solchen Anstalt – hier das Land Berlin – ist verpflichtet, das Unternehmen mit den zur Aufgabenerfüllung nötigen finanziellen Mitteln auszustatten und so dauerhaft funktionsfähig zu erhalten. Der Träger haftet grundsätzlich auch unbegrenzt für die Verbindlichkeiten der Anstalt. Deshalb können AöR nicht insolvent werden.
Wie eine AöR ihre Geschäfte führt, wird in einer Satzung geregelt. Für ein Wohnungsunternehmen könnte man beispielsweise festschreiben, dass es nicht gewinnorientiert arbeiten darf, eine Mietermitbestimmung gewährt und der öffentlichen Kontrolle unterliegt.
Jens Sethmann
- Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“
www.dwenteignen.de/ - Wohnraumversorgung Berlin AöR
www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/wohnraumversorgung/
Community Land Trust: Der Boden ist Gemeingut
Die Aktivisten der Initiative „Community Land Trust“ aus Friedrichshain-Kreuzberg gründen zurzeit nach dem Vorbild ähnlicher Modelle aus dem angelsächsischen Raum eine Stadtbodenstiftung für Berlin, um Grund und Boden dauerhaft für gemeinwohlorientierte Projekte zu sichern. Die Grundidee entstand Anfang der 1970er Jahre in den Südstaaten der USA. In den 1980er Jahren wurde das Modell auf Wohngebäude übertragen.
Der Community Land Trust (CLT) ist rechtlich eine besondere Eigentumsform ähnlich einer Stiftung, bei der das Eigentum am Grundstück vom Eigentum an den darauf errichteten baulichen Strukturen getrennt ist, um Grund und Boden so dauerhaft dem Markt und damit der Spekulation zu entziehen. Der CLT verwaltet Grundstücke treuhänderisch und verpachtet sie mit einem in der Regel auf 99 Jahre angelegten Erbbauvertrag an die Nutzer. Die Grundstücke übernimmt der CLT von Privatpersonen, Genossenschaften oder Hausprojekten – durch Schenkung oder Kauf. Die Finanzierung erfolgt durch Einlagen von anderen Stiftungen, günstige Kredite von unterstützenden Personen und Institutionen, öffentliche Startfinanzierung, Crowd Funding und Einnahmen aus dem Erbbauzins.
Die Nutzer – Genossen bei Genossenschaften oder einfache Mieter – schließen Verträge mit den Vermietern von Wohnraum, der auf diesen Grundstücken errichtet worden ist. Diese Vermieter unterhalten wiederum Erbbauverträge mit der Stadtbodenstiftung. Die Umwandlung von Mietwohnungen in Wohneigentum ist ausgeschlossen.
Bei der Wohnungsvergabe werden Geringverdiener bevorzugt, bei der Auswahl der Gewerbetreibenden ist der Bedarf der Nachbarschaft entscheidend.
Die Miete ist eine Kostenmiete – so niedrig wie möglich. Andre Sacharow, einer der Initiatoren der Initiative: „Wir reden mit den Mietern, wie viel sie maximal leisten können, und wir versuchen so viel Förderung zu organisieren, dass die Mieten möglichst nicht steigen werden. Die Miete wird zwar am Ende von den Betreibern festgelegt – wir passen jedoch auf, dass da niemand einen Profit abschöpft.“
Die Berliner Initiative kam im Frühjahr 2018 zum ersten Mal zusammen. Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg unterstützt das Team in der Gründungsphase. Inzwischen liegt die Satzung vor, im September beginnen Verhandlungen mit mehreren privaten Eigentümern, um Mietshäuser und Gewerberäume in den Fonds zu überführen. Demnächst wird der Vorstand gewählt – von einem Gremium, bestehend zu je einem Drittel aus Nutzern, Anwohnern und der Öffentlichkeit. Unter dem Namen Stadtbodenstiftung wollen Sabine Horlitz, Andre Sacharow und ihre Mitstreiter diese demokratische Stiftung aufbauen, um Mieter und Nutzer dauerhaft abzusichern.
Rainer Bratfisch
kontakt@clt-berlin.org
www.clt-berlin.org
Tel. 0174 718 32 15
Kirchen und Stiftungen: Wohnraum schaffen aus sozialer Verantwortung
Die Wohnungsversorgung besonders benachteiligter Bevölkerungsgruppen haben sich verschiedene gemeinnützige Stiftungen und kirchliche Wohnungsunternehmen zur Aufgabe gemacht. Nicht immer werden sie dem hehren sozialen Anspruch gerecht.
Eine der größten gemeinwohlorientierten Wohnungsanbieter ist die „Hilfswerk-Siedlung“ (HWS). Das Immobilienunternehmen der Evangelischen Kirche Berlin Brandenburg/Schlesische Oberlausitz, das unlängst im Zusammenhang mit der Berliner Enteignungsdebatte in die Schlagzeilen geriet, ist Eigentümerin von rund 4500 Wohnungen in Berlin.
Nach dem Krieg, als Deutschland in Trümmern lag, beschloss die Synode der Evangelischen Kirche, sich am Sozialen Wohnungsbau zu beteiligen. In der Anfangszeit entstanden Häuser für Kriegswitwen, Geflüchtete und Arbeitslose, vor allem in Zehlendorf. Später, in den 1970er Jahren, war die HWS einer der Bauherren der Gropiusstadt. Noch heute besitzt sie in der Großsiedlung rund 1500 Wohnungen und engagiert sich für die Entwicklung der Nachbarschaft. So zahlt eine Kita dort für ihre Räume beispielsweise nur die Betriebskosten, und im Jahre 2016 stellte die HWS Wohnungen für Geflüchtete und ein Willkommensbüro zur Verfügung. „Wir sind kein gewinnorientiertes Unternehmen“, betont Geschäftsführer Jörn von der Lieth. Die Hilfswerk-Siedlung ist eine GmbH. Die Gesellschafter – neben der Evangelischen Kirche und dem Diakonischen Werk auch eine Stiftung – erhalten keine Ausschüttungen. Ziel ist es, eine sozial verantwortbare Wohnungsversorgung sicherzustellen. Überwiegend beteiligt man sich am öffentlich geförderten Sozialen Wohnungsbau.
Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ hat mittlerweile klargestellt, dass man die HWS als gemeinwohlorientiertes Unternehmen trotz seiner Größe nicht enteignen will. Dem Berliner Mieterverein ist die HWS indes nicht als besonders vorbildlicher Vermieter aufgefallen.
Auch Stiftungen engagieren sich im Bereich gemeinwohlorientiertes Wohnen. So verfügt die Fürst-Donnersmarck-Stiftung, die sich seit über 100 Jahren für Menschen mit Behinderung einsetzt, auch über Häuser, in denen barrierefreie Wohnungen oder Wohngemeinschaften mit Behinderten untergebracht sind. Stiftungen dürfen zwar Gewinne machen, diese aber nicht in die eigene Tasche stecken. Vielmehr müssen sie in neue Projekte für gemeinnützige Zwecke fließen.
Weil Frauen in Not auf dem überteuerten Wohnungsmarkt immer häufiger auf der Strecke bleiben, hat die „Koepjohann‘sche Stiftung“ erstmals in ihrer über 220-jährigen Geschichte ein Wohnprojekt initiiert, gemeinsam mit dem Diakonischen Werk Berlin. „Die jahrelange Erfahrung mit Frauen, die auf der Straße leben, hat uns dazu veranlasst“, sagt Janka Haverbeck vom Stiftungsvorstand. Es sei ein absoluter Glücksfall gewesen, dass man von der Evangelischen Kirchengemeinde am Weinberg ein ehemaliges Pfarrhaus mit einem Erbbaurechtsvertrag für 99 Jahre erwerben konnte. 2,9 Millionen Euro hat die Stiftung in die denkmalgerechte Sanierung und den Umbau gesteckt. Im Februar 2019 wurde hier, in der Tieckstraße 17 in Mitte, ein Wohn- und Beratungshaus für Frauen eröffnet. Auf vier Etagen gibt es Einzel- und Doppelzimmer sowie Apartments für insgesamt 34 Frauen und ihre Kinder. Außerdem wurde im Souterrain die Notunterkunft „Marie“ eingerichtet, in der Frauen für bis zu drei Wochen ein Dach über dem Kopf finden.
Doch nicht jede Stiftung, die sich auf dem Wohnungsmarkt tummelt, ist als Wohltäterin unterwegs. Beispiel: die Bürgermeister-Reuter-Stiftung, die einst innerdeutsche Flüchtlinge unterstützte und heute vor allem Wohnraum für Studierende und Auszubildende zur Verfügung stellt. Nicht Gewinnmaximierung, sondern solide Kostendeckung bestimmt nach Eigendarstellung deren wirtschaftliches Konzept. Das sieht dann so aus: Ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer im Studentenwohnheim in der Brunnenstraße kostet 417 Euro alles inklusive und für ein 21 Quadratmeter großes Apartment in Lichtenberg muss man sage und schreibe 640 Euro bezahlen.
Birgit Leiß
Wiener Modell: Wohnungspolitik mit langem Atem
Das Wiener Modell, das auf die sozialdemokratisch geprägte Zeit von 1918 bis 1934 – das „Rote Wien“ – zurückgeht, gilt nach wie vor international als gelungenes Beispiel einer sozial orientierten und nachhaltigen staatlichen Wohnungspolitik. Im Gegensatz zu Berlin widerstand die Wiener Stadtverwaltung auch der Versuchung, in schlechten Haushaltsjahren ihre Wohnungsbestände zu veräußern. Ein Viertel aller Wohnungen gehört heute der „Wiener Wohnen“, einem städtischen Unternehmen: 220.000 Wohnungen in 1749 Gemeindebauten, über alle Bezirke verteilt. Jährlich fließen rund 600 Millionen Euro in die Wohnungsbauförderung – 420 Millionen davon kommen vom Bund. 0,5 Prozent des Bruttolohns fließen sowohl von Arbeitnehmer- als auch von Arbeitgeberseite in diesen Topf. Bei Neubauten bleiben in Wien nach wie vor zwei Drittel der Wohnfläche dem geförderten Wohnungsbau vorbehalten. Jedes geförderte Neubauvorhaben wird auf die vier Kriterien soziale Nachhaltigkeit, Architektur, Ökologie und Nutzerkosten geprüft.
62 Prozent aller Wiener Haushalte wohnen heute in geförderten Wohnungen, je zur Hälfte in Gemeindebauten und in Genossenschaften. Das Procedere, eine solche Wohnung zu bekommen, ist denkbar einfach: Wer seit mindestens zwei Jahren in der Stadt gemeldet ist, in einer zu kleinen Wohnung lebt und als Single nicht mehr als 44.410 Euro netto im Jahr verdient, kann sich für eine Gemeindewohnung anmelden. Die Wartezeit: einige Monate, manchmal auch einige Jahre. Einem Single steht eine Einzimmerwohnung zu, für jede weitere Person im Haushalt gibt es ein zusätzliches Zimmer. Die Miete beträgt 5,80 Euro pro Quadratmeter, plus Betriebskosten und zehn Prozent Steuern. Die Mieten sind für alle gleich – der Verwaltungsaufwand für einkommensabhängige Mieten wäre nach Ansicht der Wiener Politik und Verwaltung höher als die zusätzlichen Einnahmen. „Durch die hohen Einkommensgrenzen bleibt die Stadt gemischt, es gibt nur wenige soziale Brennpunkte“, urteilt Stefan Richter, Geschäftsführer der Stiftung Zukunft Berlin.
Auch Staatssekretär Sebastian Scheel von der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen räumt anerkennend ein: „Der hohe Anteil des gemeinwohlorientierten Wohnungsbestandes in Wien ist Ergebnis einer jahrzehntelangen mieterorientierten Wohnungspolitik.“
Rainer Bratfisch
Das Wiener Modell
Band 1, 2. Aufl. 2017
Band 2 2018
27.01.2020