Nachdem der Berliner Senat jahrelang keinerlei Probleme auf dem Wohnungsmarkt erkennen wollte, machte die neue Koalition vor zwei Jahren eine Kehrtwende und bekannte, dass Berlin rasant auf eine Wohnungsnot zusteuert. Mietern mit geringem Einkommen ist das Debakel schon seit langem bekannt. Bezahlbare Wohnungen zu finden ist mittlerweile überall schwierig – nicht nur in den Innenstadtbezirken. Zur Lösung des Problems setzt die rot-schwarze Regierung nun ganz auf Neubau. Doch damit entstehen gerade nicht die preiswerten Wohnungen, die am nötigsten gebraucht werden. Neubau ist der teuerste Weg, den Wohnungsbestand auszuweiten, aber bei Weitem nicht der einzige. Viel effektiver wäre es, die bestehenden Wohnraumreserven zu aktivieren: Zehntausende Wohnungen sind zweckentfremdet worden und werden der Spekulation überlassen. Ein großes Potenzial an bestehenden Wohnungen könnte für eine soziale Wohnungsversorgung mobilisiert werden, wenn man sozialpolitische Mittel nutzt, wohnungspolitische Instrumente entschlossen einsetzt und architektonische Scheuklappen ablegt.
Berlin hat sich ab Mitte der 90er Jahre von einer aktiven Wohnungspolitik verabschiedet. Die Förderung des Sozialen Wohnungsbaus wurde 1997 eingestellt. Auf die Belegungsbindungen und die Fehlbelegungsabgabe wurde großzügig verzichtet. In den Sanierungsgebieten wurde 2001 das Förderprogramm zur Wohnhausmodernisierung auf Null heruntergefahren. Zudem wurden kommunale Wohnungen im großen Stil verschleudert: 1998 wurde die Wohnungsbaugesellschaft Gehag mit rund 27.000 Wohnungen komplett an einen Finanzinvestor verkauft, 2004 ging die GSW mit rund 60.000 Wohnungen ebenfalls an eine sogenannte „Heuschrecke“. Durch weitere Einzelverkäufe und Abrisse im Rahmen des Stadtumbaus Ost ging der Wohnungsbestand der sechs städtischen Gesellschaften bis 2010 auf 258.000 zurück – nicht einmal mehr 14 Prozent aller Wohnungen in der Hauptstadt. Mit all diesen Maßnahmen gab der Senat soziale Steuerungsmöglichkeiten aus der Hand und überließ den Wohnungsmarkt den Privaten.
Senat verkennt die Lage am Wohnungsmarkt: Die Augen fest geschlossen
Anlass für diesen Rückzug war der vermutete Wohnungsleerstand. Auch wenn den Verantwortlichen klar sein musste, dass von den angeblich bis zu 150.000 leeren Wohnungen ein großer Teil gar nicht zur Vermietung stand, diente der Leerstand immer wieder als Beweis für einen entspannten Berliner Wohnungsmarkt.
Spätestens 2007 hätte der Senat aber die Anspannung erkennen müssen. Die Statistiken und Wohnungsmarktberichte dokumentierten einen wachsenden Zuzug nach Berlin, sehr geringe Neubauzahlen und stärker steigende Mieten. Doch man schaute weiter weg. Nach 2007 erlebt Berlin im Durchschnitt Jahr für Jahr einen Zuwachs von 13.000 Menschen – Tendenz weiter steigend. Im Jahr 2011 wuchs Berlin sogar um 40.000 Einwohner. Die Zahl der neugebauten Wohnungen bewegte sich in dieser Zeit um 3500 pro Jahr, gebaut wurde vor allem in der oberen Preisklasse. Gebraucht werden aber bezahlbare, kleine Wohnungen. Mittlerweile leben in den 1,9 Millionen Berliner Wohnungen 1,99 Millionen Haushalte. Rechnerisch haben also 90.000 Haushalte keine eigene Wohnung.
Als Folge der Wohnungsknappheit steigen die Mieten stärker an. Der Berliner Mietspiegel 2009 wies noch eine Durchschnittsmiethöhe von 4,83 Euro pro Quadratmeter aus, 2013 ist der Wert auf 5,54 Euro angestiegen. Bei Wiedervermietungen werden deutlich höhere Preise verlangt: Aktuelle Studien haben Durchschnittswerte zwischen 7 und 8 Euro netto ermittelt.
Bei diesen Preisen finden nicht nur Menschen mit wenig Geld kaum noch bezahlbare Wohnungen. Am meisten stecken die rund 600.000 Empfänger von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe in der Klemme. Um der Wohnaufwendungenverordnung gerecht zu werden, dürfen Hartz-IV-Wohnungen je nach Größe eine Nettokaltmiete von höchstens 5,01 Euro bis 5,44 Euro pro Quadratmeter aufweisen. Solche Wohnungen sind auf dem Markt kaum erhältlich. Für einen Einpersonenhaushalt übernimmt das Jobcenter je nach Heizungsart nur eine Bruttowarmmiete von etwa 415 Euro, bei einem Paar mit zwei Kindern rund 669 Euro.
Längst liegen auch viele der 150.000 Sozialwohnungen mit ihren Mieten über den Hartz-IV-Werten – Anlass für den Mieterverein, eine Veränderung des Mietensystems für diesen Wohnraum zu fordern. Die Befreiung von Belegungsbindungen müsse gestoppt, die Einkommensgrenze für einen Wohnberechtigungsschein gesenkt werden.
Niedrigste Einkommen – größte Mietsteigerungen
Auch Durchschnittsverdiener – das mittlere Haushaltsnettoeinkommen liegt knapp über 2100 Euro – haben ihre Probleme, wenn der Vermieter für 80 Quadratmeter eine Warmmiete von 800 Euro verlangt. Gerade dort, wo die Haushaltseinkommen niedrig und die Arbeitslosenzahlen hoch sind – Neukölln, Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte – steigen auch die Mieten am rasantesten. Das Ausweichen an den Stadtrand ist derweil kaum noch eine Alternative, denn dort haben die Mieten ebenfalls angezogen. Viele Mieter schränken sich deshalb in ihrer Lebenshaltung ein und rücken näher zusammen. Ganz gegen den allgemeinen Trend nimmt die Wohnfläche pro Einwohner in Berlin ab: Allein im Jahr 2011 ist sie von 38,7 auf 38,4 Quadratmeter gesunken. Auch die Wohnungsbelegung stieg von 1,82 auf 1,84 Personen.
Es brauchte vier Jahre und einen Wechsel an der Verwaltungsspitze, bis sich der Senat das Problem eingestand und Gegenmaßnahmen ankündigte. Senator Michael Müller (SPD) setzt vor allem auf den Neubau von Wohnungen, um den Engpass zu beseitigen. In ihrer Koalitionsvereinbarung von 2011 haben SPD und CDU beschlossen, bis 2016 den Bau von 30.000 Wohnungen anzuschieben, also 6000 pro Jahr. Das Ziel ist mittlerweile nach oben korrigiert worden. Der Entwurf des Stadtentwicklungsplans Wohnen sieht vor, bis 2020 jährlich 11.500 Wohnungen zu bauen, in den folgenden fünf Jahren jeweils 6000 Wohnungen.
„Wohnungsbau ist notwendig, aber er ist kein Allheilmittel“, erklärt Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins (BMV). Denn der Wohnungsneubau ist teuer. Bauexperten rechnen vor, dass man mindestens eine Nettokaltmiete von 8,50 Euro pro Quadratmeter verlangen müsse, wenn sich das Bauen rentieren soll. Die jüngst in Berlin beschlossene Neubauförderung in Höhe von 64 Millionen Euro pro Jahr reicht nur für einen Bruchteil der neu zu bauenden Wohnungen. Bis die ersten Fördermittel abgerufen werden können, wird sicher noch ein Jahr vergehen. Und auch die kostenlose Vergabe landeseigener Baugrundstücke hat einen sehr geringen Mietsenkungseffekt: Bei den ersten Projekten sind damit für nur 13 Prozent der Wohnungen die Mieten auf 6,50 Euro pro Quadratmeter heruntersubventioniert worden.
Für Mieter mit geringem Einkommen bringt der Neubau also keine Verbesserung – weder direkt noch indirekt. Die wohlhabenderen Mieter, die in die Neubauwohnungen ziehen, machen zwar zum Teil billigere Altbauwohnungen frei, doch diese werden bei der Neuvermietung in aller Regel mit einem kräftigen Aufschlag weiter vermietet. Der vielzitierte „Sickereffekt“ funktioniert also auf einem engen Wohnungsmarkt nicht. Weil verlangt wird, was der Markt hergibt, haben Mieter mit wenig Geld nach wie vor das Nachsehen.
Man kann die Nachfrage nach günstigen Wohnungen nicht dadurch befriedigen, dass man einfach eine bestimmte Zahl an neuen Wohnungen auf den Markt wirft. Für das obere und mittlere Marktsegment bringt der Neubau eine Entspannung. Für das untere Drittel muss man aber dringend Maßnahmen ergreifen, die den vorhandenen Wohnungsbestand bezahlbar halten.
Viele rechtliche Möglichkeiten dazu lässt der Senat immer noch ungenutzt. Das Vorgehen gegen die Zweckentfremdung von Wohnraum ist zu zaghaft. Der Milieuschutz wird dadurch geschwächt, dass der Senat den Bezirken nicht die Möglichkeit gibt, in den Milieuschutzgebieten die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen zu unterbinden. Mit der Ausweitung der städtischen Wohnungsbestände auf 300.000 beschreitet Berlin zwar einen richtigen Weg. Das nützt aber nichts, wenn die Wohnungsbaugesellschaften den Wohnraum nicht sozial bewirtschaften. Trotz eines Mietenbündnisses fallen die städtischen Wohnungsunternehmen immer wieder mit teuren Modernisierungsankündigungen und Mietangeboten auf, die weit über dem Berliner Mietspiegel liegen.
Jens Sethmann
MieterMagazin 1+2/14
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03.03.2018