Leitsatz:
Für die Anwendbarkeit der 10-jährigen Kündigungssperrfrist gemäß der am 1.10.2013 in Kraft getretenen Kündigungsschutzklauselverordnung kommt es nicht darauf an, dass die Verordnung schon zum Zeitpunkt des Erwerbs des Wohnungseigentums in Kraft gewesen ist, vielmehr reicht es aus, wenn die Verordnung zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung beim Mieter in Kraft war.
LG Berlin vom 17.3.2016 – 67 S 30/16 –
Mitgeteilt von RA Christoph Müller
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Im Jahre 2009 erfolgte die Eintragung des Grundstückserwerbers im Grundbuch. Zu diesem Zeitpunkt bestand das Mietverhältnis schon einige Jahre. 2009 galt in dem Gebiet, in dem die Wohnung lag, eine dreijährige Kündigungssperrfrist im Sinne des § 577 a BGB. Am 1.10. 2013 trat die neue Kündigungssperrklauselverordnung in Kraft, die eine 10-jährige Kündigungssperrfrist verordnet. Am 1.4.2014 ging die Eigenbedarfskündigung beim Mieter zu. Der kündigende Vermieter meinte, die neue Kündigungssperrfrist-Verordnung könne für seinen Fall keine Anwendung finden, da dies eine verbotene Rückwirkung darstelle.
Das Landgericht kam zum gegenteiligen Ergebnis: Der Vermieter könne sich auch nicht mit Erfolg auf einen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot (Artikel 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz) berufen.
Zwar sei die Kündigung wegen Eigenbedarfs zum Zeitpunkt des Erwerbs der Wohnung durch den Vermieter im Jahre 2009 über den aus § 577 a Abs. 1 BGB folgenden dreijährigen Zeitraum hinaus noch nicht beschränkt, da der Senat von Berlin eine die gesamte Gebietskulisse – und damit auch das Hansaviertel – erfassende Kündigungsschutzklauselverordnung erstmals im Jahre 2013 erlassen habe. Eine Rechtsnorm entfalte indes nur dann Rückwirkung, wenn der Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs normativ auf einen Zeitpunkt festgelegt sei, der vor dem Zeitpunkt liege, zu dem die Norm rechtlich existent, das heißt gültig geworden sei. Die hier maßgebliche Kündigungsschutzklauselverordnung sei zum 1.10.2013 in Kraft getreten. Eine Rückwirkung im vorgenannten Sinne liegt für zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens bereits bestehende Mietverhältnisse nicht vor.
Zwar führe die Anwendung der Verordnung zu einer Veränderung der vor ihrem Inkrafttreten bestehenden Kündigungsmöglichkeiten des Vermieters nach § 573 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB. Während sich der Vermieter vor dem 1.10.2013 noch erfolgreich auf das Vorliegen von Eigenbedarf für die streitgegenständliche Wohnung und den Ausspruch einer darauf gestützten Kündigung hätte berufen können, sei ihm dies nunmehr bis zum Ablauf der Kündigungssperrfrist verwehrt. Diese Auswirkungen beruhten jedoch nicht auf einer Rückerstreckung des zeitlichen Anwendungsbereichs der Verordnung, sondern darauf, dass die Verordnung auch Geltung für die Kündigung von Bestandsmietverhältnissen beanspruche und damit notwendigerweise auch an in der Vergangenheit liegende Umstände anknüpfe.
Allerdings könnten sich auch für Normen, die auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirken, obwohl sie grundsätzlich zulässig seien, aus dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes je nach Lage der Verhältnisse verfassungsrechtliche Grenzen ergeben. Hierbei sei zwischen dem Vertrauen auf den Fortbestand des Rechtszustands nach der bisherigen gesetzlichen Regelung und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit abzuwägen. Der Vertrauensschutz gehe allerdings nicht so weit, den Betroffenen vor jeder Enttäuschung zu bewahren.
Gemessen an diesen Grundsätzen seien überwiegende Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes nicht gegeben. Die Erwartung des Erwerbers, die zum Zeitpunkt des Erwerbs bestehenden Einschränkungen der Verfügungsbefugnis über Wohneigentum an vermieteten Wohnräumen würden jedenfalls im Großen und Ganzen unverändert bleiben, sei abzuwägen gegen das durch die Beschränkung seiner Kündigungsmöglichkeiten verfolgte sozialpolitische Ziel, die Versorgung der Bevölkerung mit ausreichendem Wohnraum zu angemessenen Bedingungen zu gewährleisten. Bei dieser Güterabwägung sei dem Anliegen des Mieterschutzes wegen seiner überragenden Bedeutung für das allgemeine Wohl grundsätzlich der Vorzug zu geben.
Es trete hinzu, dass es sich bei dem Erwerb der streitgegenständlichen Wohnung im Jahre 2009 um keine „Vertrauensinvestition“ des Vermieters handelte, bei der der Betroffene mit dem späteren Eingriff nicht zu rechnen brauchte. Denn der Vermieter hätte zum Zeitpunkt des Erwerbs der Wohnung aufgrund der zu diesem bereits existenten bundesgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage des seit dem 1. Januar 2002 gültigen § 577 a Abs. 2 BGB damit rechnen können, dass der Senat von Berlin in Zukunft die bereits erlassenen Verordnungen durch Erlass einer neuen Verordnung zeitlich und räumlich abändern würde, um so tatsächlichen Entwicklungen des Berliner Wohnungsmarktes mit Auswirkungen auf die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnungen zu angemessenen Bedingungen wirksam zu begegnen.
Da nach alledem die gemäß § 577 a Abs. 1, Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 2 der Kündigungsschutzklausel-Verordnung vom 13.8.2013 geltende zehnjährige Kündigungssperrfrist zum Kündigungszeitpunkt noch nicht abgelaufen war, bestehe das streitgegenständliche Mietverhältnis ungekündigt fort.
Urteilstext
Gründe
I.
Die Berufung ist gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen, da sie offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat und auch die sonstigen Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO vorliegen. Das Amtsgericht hat die von den Klägern erhobene Räumungsklage zutreffend abgewiesen, da ihnen ein Räumungs- und Herausgabeanspruch gemäß den §§ 985, 546 Abs. 1, 566 Abs. 1 BGB nicht zusteht. Das von der Rechtsvorgängerin der Kläger und der Beklagten im Jahre 1979 begründete Mietverhältnis über die im Hansaviertel gelegene Wohnung besteht ungekündigt fort. Die am 21. April 2014 ausgesprochene Eigenbedarfskündigung hat das Mietverhältnis nicht zu beenden vermocht, ohne dass es darauf ankommt, ob der von den Klägern behauptete Eigenbedarf tatsächlich besteht.
Die Kläger konnten sich bei Ausspruch und Zugang der Kündigung gemäß § 577 a Abs. 1 und 2 BGB nicht auf ein berechtigtes Interesse im Sinne des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB berufen, da an der streitgegenständlichen Wohnung nach ihrer Überlassung an die Beklagte Wohnungseigentum begründet und dieses erstmals im Jahr 2009 veräußert wurde. Zwar beschränkt § 577 a Abs. 1 BGB die Kündigungsmöglichkeiten des Vermieters lediglich auf einen Zeitraum von drei Jahren seit der Veräußerung, die hier bei Ausspruch der Kündigung bereits abgelaufen waren. Allerdings beträgt die Frist des § 577a Abs. 1 BGB gemäß § 577 a Abs. 2 BGB bis zu zehn Jahre, wenn die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnungen zu angemessenen Bedingungen in einer Gemeinde oder einem Teil einer Gemeinde besonders gefährdet ist und diese Gebiete nach Satz 2 bestimmt sind. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnungen zu angemessenen Bedingungen ist nicht nur derzeit, sondern war bereits zum Zeitpunkt der Kündigung in der gesamten Gebietskulisse von Berlin besonders gefährdet. Das folgt, ohne dass die Kammer insoweit zu einer eigenständigen Tatsachenfeststellung befugt oder gehalten wäre, aus der vom Senat von Berlin am 13. August 2013 mit Wirkung zum 1. Oktober 2013 erlassenen Kündigungsschutzklausel-VO (GVBl. 2013, 488). Die Verordnung, die ausweislich ihres Wortlauts und nach ihrem Sinn und Zweck auch zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens bereits bestehende Mietverhältnisse erfasst (vgl. BGH, Rechtsentscheid v. 15. November 2000 – VIII ARZ 2/00, NJW 2001, 1421 (zu Art. 14 InvErlWoBauldG)), bestimmt in § 1 die gesamte Gebietskulisse Berlins als besonders gefährdet und gestattet in ihrem § 2 die Kündigung wegen Eigenbedarfs im streitgegenständlichen Kontext nicht vor Ablauf von zehn Jahren nach dem Erwerb der Mietsache.
Durchgreifende (verfassungs-)rechtliche Bedenken bestehen weder gegenüber § 577 a Abs. 2 BGB noch der Kündigungsschutzklausel-VO vom 13. August 2013: Die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage des § 577a Abs. 2 BGB ist ebenso wirksam wie die auf ihrer Grundlage erlassene Verordnung des Senats (vgl. BGH, Urt v. 11. März 2009 – VIII ZR 127/08, NJW 2009, 1808 Tz. 14 (zu § 577a BGB); Urt. v. 4. November 2015 – VIII ZR 217/14, NJW 2016, 476 (zu § 558 Abs. 3 Satz 2 und 3 BGB und zur Berliner Kappungsgrenzen-VO); LG Berlin, Urt. v. 15. Mai 2009 – 63 S 410/08, GE 2009, 909 (zur Berliner Kündigungsschutzklausel-VO vom 20. Juli 2004)).
Die Kläger können sich auch nicht mit Erfolg auf einen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) berufen:
Zwar war die Kündigung wegen Eigenbedarfs zum Zeitpunkt des Erwerbs der Wohnung durch die Kläger im Jahre 2009 über den aus § 577 a Abs. 1 BGB folgenden dreijährigen Zeitraum hinaus noch nicht beschränkt, da der Senat von Berlin eine die gesamte Gebietskulisse – und damit auch das Hansaviertel – erfassende Kündigungsschutzklausel-VO erstmals im Jahre 2013 erlassen hat. Die vorhergehenden Kündigungsschutzklauselverordnungen vom 20. Juli 2004 (GVBl. 2004, 294) und 16. August 2011 (GVBl. 2011, 442, 466) hatten eine Sperrfrist von lediglich sieben Jahren angeordnet und die im Hansaviertel gelegenen Wohnungen jeweils noch nicht umfasst.
Eine Rechtsnorm entfaltet indes nur dann Rückwirkung, wenn der Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs normativ auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm rechtlich existent, das heißt gültig geworden ist (BGH, Beschluss vom 24. Juli 2013 – XII ZB 340/11, BGHZ 198, 91 Tz. 32 m.w.N.). Die hier maßgebliche Kündigungsschutzklausel-VO ist zum 1. Oktober 2013 in Kraft getreten. Eine Rückwirkung im vorgenannten Sinne liegt für zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens bereits bestehende Mietverhältnisse wie das der Beklagten nicht vor.
Zwar führt die Anwendung der Verordnung zu einer Veränderung der vor ihrem Inkrafttreten bestehenden Kündigungsmöglichkeiten des Vermieters nach § 573 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB. Während sich die Kläger vor dem 1. Oktober 2013 noch erfolgreich auf das Vorliegen von Eigenbedarf für die streitgegenständliche Wohnung und den Ausspruch einer darauf gestützten Kündigung hätten berufen können, ist ihnen dies nunmehr bis zum Ablauf der Kündigungssperrfrist verwehrt. Diese Auswirkungen beruhen jedoch nicht auf einer Rückerstreckung des zeitlichen Anwendungsbereichs der Verordnung, sondern darauf, dass die Verordnung auch Geltung für die Kündigung von Bestandsmietverhältnissen beansprucht und damit notwendigerweise auch an in der Vergangenheit liegende Umstände anknüpft.
Allerdings können sich auch für Normen, die auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirken, obwohl sie grundsätzlich zulässig sind, aus dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes je nach Lage der Verhältnisse verfassungsrechtliche Grenzen ergeben. Hierbei ist zwischen dem Vertrauen auf den Fortbestand des Rechtszustands nach der bisherigen gesetzlichen Regelung und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit abzuwägen. Der Vertrauensschutz geht allerdings nicht so weit, den Betroffenen vor jeder Enttäuschung zu bewahren (vgl. BGH, a.a.O. Tz. 34 m.w.N.).
Gemessen an diesen Grundsätzen sind überwiegende Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes nicht gegeben. Die Erwartung des Erwerbers, die zum Zeitpunkt des Erwerbs bestehenden Einschränkungen der Verfügungsbefugnis über Wohneigentum an vermieteten Wohnräumen würden jedenfalls im Großen und Ganzen unverändert bleiben, ist abzuwägen gegen das durch die Beschränkung seiner Kündigungsmöglichkeiten verfolgte sozialpolitische Ziel, die Versorgung der Bevölkerung mit ausreichendem Wohnraum zu angemessenen Bedingungen zu gewährleisten. Bei dieser Güterabwägung ist dem Anliegen des Mieterschutzes wegen seiner überragenden Bedeutung für das allgemeine Wohl grundsätzlich der Vorzug zu geben (vgl. BGH, Rechtsentscheid v. 15. November 2000 – VIII ARZ 2/00, NJW 2001, 1421 Tz. 35). Es tritt hinzu, dass es sich bei dem Erwerb der streitgegenständlichen Wohnung im Jahre 2009 um keine „Vertrauensinvestition“ der Kläger handelte, bei der der Betroffene mit dem späteren Eingriff nicht zu rechnen brauchte (vgl. BGH, a.a.O.). Denn die Kläger hätten zum Zeitpunkt des Erwerbs der Wohnung aufgrund der zu diesem bereits existenten bundesgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage des seit dem 1. Januar 2002 gültigen § 577 a Abs. 2 BGB a.F., der die Landesregierungen ebenfalls zur Anordnung einer bis zu zehnjährigen Kündigungssperrfrist im Verordnungswege ermächtigt hatte, damit rechnen können, dass der Senat von Berlin in Zukunft die bereits erlassenen Verordnungen durch Erlass einer neuen Verordnung zeitlich und räumlich abändern würde, um so tatsächlichen Entwicklungen des Berliner Wohnungsmarktes mit Auswirkungen auf die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnungen zu angemessenen Bedingungen wirksam zu begegnen.
Da nach alldem die gemäß § 577 a Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m. § 2 der Kündigungsschutzklausel-VO vom 13. August 2013 geltende zehnjährige Kündigungssperrfrist zum Kündigungszeitpunkt noch nicht abgelaufen war, besteht das streitgegenständliche Mietverhältnis ungekündigt fort. Das hat das Amtsgericht zutreffend erkannt.
II.
Die Kläger erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 30. März 2016, auch zur Frage, ob die Berufung vor dem Hintergrund des erteilten Hinweises zurückgenommen wird. Auf die damit verbundene Kostenreduzierung gemäß Nr. 1222 KV weist die Kammer vorsorglich hin.
Hinweis: Das Berufungsverfahren hat sich durch Rücknahme der Berufung erledigt.
27.03.2022