Leitsätze:
a) § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB verlangt eine Abwägung der beiderseitigen Interessen der Mietvertragsparteien und eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles; hierzu gehören auch etwaige Härtegründe auf Seiten des Mieters (Bestätigung des Senatsurteils vom 8. Dezember 2004 – VIII ZR 218/03, NZM 2005, 300 unter II 3; hier: Besorgnis einer ernsthaften Verschlechterung des Gesundheitszustands einer 97-jährigen, bettlägerigen Mieterin infolge eines erzwungenen Wechsels der bisherigen häuslichen Umgebung und Pflegesituation).
b) Bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Lebensgefahr sind die Gerichte im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gehalten, ihre Entscheidung auch verfassungsrechtlich auf eine tragfähige Grundlage zu stellen und diesen Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen. Das kann bei der Gesamtabwägung nach § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB zur Folge haben – was vom Gericht im Einzelfall zu prüfen ist –, dass ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung wegen besonders schwerwiegender persönlicher Härtegründe auf Seiten des Mieters trotz seiner erheblichen Pflichtverletzung nicht vorliegt (im Anschluss an Senatsurteil vom 8. Dezember 2004 – VIII ZR 218/03, NZM 2005, 300 unter II 4).
BGH vom 9.11.2016 – VIII ZR 73/16 –
Langfassung: www.bundesgerichtshof.de [PDF, 12 Seiten]
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Die demenzkranke 97-jährige Mieterin hatte seit 61 beziehungsweise 53 Jahren eine Einzimmerwohnung und eine Dreizimmerwohnung angemietet. Ihr Betreuer wohnte in der Einzimmerwohnung und hielt sich überwiegend in der von der Mieterin bewohnten Dreizimmerwohnung auf. Weil er den Vermieter wiederholt und mehrfach schwer beleidigt hatte, indem er ihn als „Terroristen“ und „naziähnlichen braunen Misthaufen“ bezeichnet hatte, den er „in den Knast schicken“ und dazu veranlassen werde, „seine Stiefel und die benutzte Windel der Betreuten zu lecken“, kündigte der Vermieter der Mieterin fristlos.
Das Landgericht München gab ihm Recht. Die 97-jährige müsse sich diese Beleidigungen schon deshalb zurechnen lassen, weil sie dem Betreuer die Einzimmerwohnung zum selbstständigen Gebrauch überlassen habe (§ 540 Abs. 2 BGB). Ungeachtet der persönlichen Schuldlosigkeit der Mieterin lägen schwerwiegende (schuldhafte) Verletzungen des Mietvertrages vor. Die von der Mieterin vorgebrachten persönlichen Härtegründe könnten erst im Rahmen einer späteren Zwangsvollstreckung im Wege eines Vollstreckungsschutzantrags nach § 765 a ZPO geprüft werden. Der Bundesgerichtshof hob jedoch die Entscheidung des Landgerichts München auf und hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Denn § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB schreibe ausdrücklich eine Abwägung der beiderseitigen Interessen der Mietvertragsparteien und eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vor. Die Abwägung auf bestimmte Gesichtspunkte zu beschränken und deren Berücksichtigung – wie das Berufungsgericht – auf das Vollstreckungsverfahren (§ 765 a ZPO) zu verschieben, verbiete sich mithin bereits aufgrund der eindeutigen gesetzlichen Regelung. § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB schreibe – im Gegensatz zu den in § 543 Abs. 2 BGB geregelten Kündigungsgründen, die eine Berücksichtigung von persönlichen Umständen und Zumutbarkeitserwägungen grundsätzlich nicht zuließen (vgl. BGH vom 4.2.2015 – VIII ZR 175/14) – ausdrücklich eine Abwägung der beiderseitigen Interessen der Mietvertragsparteien und eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles bei der Beurteilung der Frage der Unzumutbarkeit einer weiteren Vertragsfortsetzung vor.
Zwar finde die sogenannte Sozialklausel (§§ 574, 574 a BGB), die in Härtefällen eine Fortsetzung des Mietverhältnisses ermögliche, gegenüber einer fristlosen Kündigung keine Anwendung (§ 574 Abs. 1 Satz 2 BGB). Das heiße aber – selbstverständlich – nicht, dass Härtegründe bei der Gesamtabwägung einer nach der Generalklausel des § 543 Abs. 1 BGB erklärten Kündigung außer Betracht zu bleiben hätten.
Bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Lebensgefahr seien die Gerichte zudem verfassungsrechtlich (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) gehalten, ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen und diesen Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen. Das könne bei der Gesamtabwägung nach § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB zur Folge haben – was vom Gericht im Einzelfall zu prüfen sei –, dass ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung wegen besonders schwerwiegender persönlicher Härtegründe auf Seiten des Mieters trotz seiner erheblichen Pflichtverletzung nicht vorliege. Das Berufungsgericht hätte insoweit dem Vortrag nachgehen müssen, wonach die 97-jährige Mieterin auf die Betreuung durch den Bewohner der Einzimmerwohnung in ihrer bisherigen häuslichen Umgebung angewiesen sei und bei einem Wechsel der Betreuungsperson oder einem Umzug schwerstwiegende Gesundheitsschäden zu besorgen seien.
23.12.2017