Das Hochhaus an der Weberwiese kannte zu DDR-Zeiten jedes Kind. Es gab unzählige Fernsehberichte, eine eigens herausgegebene Briefmarke und sogar ein Lied, das damals ständig im Rundfunk lief und in dem das erste Wohnhochhaus der DDR als Modell des Nationalen Aufbauprogramms gepriesen wurde. Wie lebt es sich heute in dem einstigen Propagandaobjekt?
„Hier möchte ich mal wohnen“, dachte sich Dr. Jürgen Beselin, als er Anfang der 1950er Jahre eines Tages an der Marchlewskistraße 25 vorbeifuhr. Vor allem der imposante Eingangsbereich mit den Säulen beeindruckte ihn. 1953, ein Jahr nach Fertigstellung, erhielt die dreiköpfige Familie dann eine rund 100 Quadratmeter große Dreizimmerwohnung im 5. Stock. „In den 8. Stock wollte ich nicht, ich hab dem Fahrstuhl nicht getraut“, erklärt der pensionierte Lehrer. Zu Recht, wie sich herausstellte. In den ersten Jahren fiel er immer mal wieder aus.
Arbeitsbrigade aus Mietern
Es sei eine stabile Hausgemeinschaft gewesen, erzählt der mittlerweile 91-Jährige. Hier wohnten vor allem Arbeiterfamilien, aber auch Lehrer und ein Komponist. Ausgezogen sei keiner, warum auch: „Wir hatten doch alles: Fahrstuhl, Müllschlucker, Fernheizung.“ Regulieren ließ sich die Heizung allerdings nur durch Fensteröffnen. „Wir haben die Weberwiese mitgeheizt“, erzählt Beselin schmunzelnd. Eine Arbeitsbrigade, die sich aus Mietern zusammensetzte, kümmerte sich um kaputte Boiler und verstopfte Abflüsse. Das war gut organisiert, erinnert sich Beselin. 85,50 Mark hat er damals für die Wohnung gezahlt. Heute kostet die Miete das Zehnfache.
Seit dem Tod seiner Frau lebt Jürgen Beselin alleine in der Wohnung – und fühlt sich rundum wohl. Der Zusammenhalt sei zwar nicht mehr so groß wie vor der Wende, wo man jede der 33 Mietparteien kannte und sich gegenseitig in die Wochenendhäuschen einlud. Aber noch immer grüßt man sich freundlich im Fahrstuhl, und wenn er mit seinem Rollator unterwegs ist, erkundigen sich die Nachbarn nach seinem Befinden.
Es waren Clemens Helmke und Dorothée Billard, die vor einigen Jahren den schönen Brauch einer alljährlichen Adventsfeier für die Kinder auf ihrer Etage einführten. Die Kinder kennen sich ohnehin untereinander, auf dem Schulhof verabreden sie sich häufig zu gemeinsamen Treffen in einer der Wohnungen. Seit 2010 lebt die Familie in dem Haus. Helmkes Vater hatte sich in den 1950er Jahren im fernen Wittenberg an der Verlosung der Wohnungen beteiligt – und das, obwohl er gar nicht vorhatte, nach Berlin zu ziehen. So groß war damals die Anziehungskraft des Hauses.
Sein Sohn kam dann fast 60 Jahre später, ganz ohne Lotterie, an eine der nach wie vor begehrten Wohnungen. Bei einem Spaziergang mit seiner Tochter fiel dem Architekten auf, dass zwei Wohnungen von außen unbewohnt aussahen. Er rief bei der Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) an, bekam den Schlüssel zur Besichtigung – und war ebenso wie seine Frau begeistert von den hohen Decken und den großen Räumen. Mittlerweile haben sie drei Kinder, ein zusätzliches Zimmer wäre gut, aber die „superschöne Wohnung“ mache es wett, sagen beide.
Terrasse leider unzugänglich
Im Haus gibt es ausschließlich Dreizimmerwohnungen. Sie sind fast gleich geschnitten: ein Kinderzimmer, ein großer Flur, in den auch ein Arbeitsplatz passt, und ein Wohnzimmer, das Durchgangszimmer zum Elternschlafzimmer ist. „Die Küche ist für eine Familie eindeutig zu klein“, findet Dorothée Billard, die als Dozentin und Grafikdesignerin arbeitet. Die vorhandene Mischung trage viel zur Wohnqualität bei: „Dass hier über 90-Jährige leben, die fest zur Geschichte des Hauses gehören, ebenso wie junge Familien, finde ich schön.“ Einziger Wermutstropfen: Der Wintergarten auf dem Dach ist nicht mehr zugänglich. Dr. Beselin erinnert sich noch gut daran, wie auf der Gemeinschaftsdachterrasse mit dem grandiosen Ausblick Mieterfeste gefeiert und Hausversammlungen abgehalten wurden. Schon seit Jahrzehnten ist die Terrasse, die eigentlich die fehlenden Balkone ausgleichen sollte, nicht mehr für die Mieter zugänglich. Mit Brandschutz- und Sicherheitsbedenken begründet dies die WBM. So ist das Geländer zu niedrig, aus Gründen des Denkmalschutzes darf es jedoch nicht verändert werden.
Die Idee vom Mieter-Kollektiv, das sich da oben trifft, sei sehr modern gewesen, sagt Dr. Georg Weckherlin, ebenfalls Architekt und seit fast 20 Jahren zufriedener Mieter. Der Grundriss mit den großen Zimmern und 3,20 Meter Raumhöhe sei im Grunde völlig unwirtschaftlich, so Weckherlin, der sich auch wissenschaftlich mit dem Henselmann-Bau beschäftigt hat: „Ich fand die Geschichte des Hauses schon immer skurril, es ist ein Propagandaobjekt für den Wiederaufbau, erinnert aber auch an amerikanische Vorbilder.“
Mit Frau und Tochter ist er 1999 direkt nach der Sanierung eingezogen. Am besten gefällt der Familie der Park vor der Haustür und der freie Blick: „Es ist ein Wohnen wie im großen Schaukasten, denn von jeder Seite hat man eine schöne Aussicht.“ Dr. Weckherlin erzählt, dass manchmal alte Leute vor dem Haus stehen, die hier einst Aufbaustunden geleistet haben und die sich „ihr“ Haus noch einmal anschauen wollen. Henselmanns erster Bau in der Hauptstadt und gleichzeitig Symbol des sozialistischen Aufbaus sei eine Ikone, auch wenn er später nach der Fertigstellung der Stalinallee ein wenig in Vergessenheit geriet.
„Es war ein unglaublicher Presserummel um das Haus“, sagt auch Eva Rothkirch, die ihr ganzes bisheriges Leben in der Dreizimmerwohnung ihrer Großeltern verbracht hat. Ihr Großvater war in der Hausgemeinschaftsleitung (HGL). Zu deren Aufgabe gehörte unter anderem die Schmückung des Hauses für den 1. Mai. Auch an die Reparaturbrigaden kann sich die Bibliothekarin noch gut erinnern. „Meine Großmutter hat sich immer amüsiert, wenn der Leiter eines Kombinats im verschwitzten Unterhemd unter ihrer Spüle lag.“
Seit 2004 leben Eva Rothkirch und ihr Ehemann in der Wohnung. Beide sind heilfroh, dass das Haus, anders als die Wohngebäude in der Karl-Marx-Allee, nicht privatisiert wurde. „Durch unsere Familiengeschichte hat die Wohnung einen hohen ideellen Wert. Es wäre ein Albtraum, wenn plötzlich ein Rechtsanwalt aus München vor der Tür stehen und Eigenbedarf anmelden wurde.“
Allerdings sind die Eigentumsverhältnisse unklar. Die kostspielige Fassadensanierung 1999 konnte nur über einen geschlossenen Immobilienfonds realisiert werden. Ob die WBM bereits von der Rückkaufoption Gebrauch gemacht hat oder ob die Mieter eines Tages im Haifischbecken Spekulation landen könnten – auf diese Frage war von der WBM keine Antwort zu erhalten.
Birgit Leiß
„… errichtet zum Behagen der Bewohner“
Das Hochhaus an der Weberwiese wurde von einem Architektenkollektiv um Hermann Henselmann gebaut und sollte den Leitbau für die benachbarte Stalinallee bilden. Unter enormem zeitlichen Druck – in gerade einmal acht Monaten – wurde der achtgeschossige Arbeiterpalast im Stil des Neoklassizismus hochgezogen. Dabei wurden auch Kriegstrümmer aus der Umgebung verwendet. Mit ihren Türmchen, Rosetten und anderen Schmuckelementen wirkt das Haus von außen verspielt, innen herrschen dagegen klare, sachliche Linien, die an den Bauhaus-Stil erinnern. Die 33 Wohnungen hatten eine für die Nachkriegszeit ungewöhnlich hochwertige Ausstattung. Neben Müllschluckern auf jeder Etage, Telefonanschluss und Klingelanlage verfügten sie über Heißwasserboiler, Einbaumöbel in der Küche und Stein- und Holzfußböden. Nicht unumstritten waren die hohen Baukosten von 90.000 Mark pro Wohnung – das Acht- bis Neunfache des sonst Üblichen. Bertolt Brecht soll das Haus sehr geschätzt haben. Auf Bitte Henselmanns verfasste er für das Eingangsportal die Inschrift „Dieses Haus wurde errichtet zum Behagen der Bewohner und Wohlgefallen der Passanten.“ Allerdings wurde am Ende nicht dieser Vers, sondern ein anderer von Brecht eingemeißelt.
bl
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