Von der S-Bahn aus hat sie wohl jeder schon mal gesehen: die sogenannte Bundesschlange auf dem Moabiter Werder. Ende der 1990er Jahre für die Bonner Zuzügler gebaut, waren die mitunter als „Beamtenschließfächer“ verspotteten Wohnungen von Anfang an umstritten. Hauptproblem der meisten Mieter sind aber nicht die fehlenden Balkone oder die teils schießschartenähnlichen Fenster, sondern ihr Vermieter, die Vonovia.
„Ein Beamten-Ghetto tu ich mir nicht an“, war Dr. Martin Schenkels erster Gedanke zur „Schlange“. Als Ausschuss-Sekretär beim Deutschen Bundestag pendelte er eine Zeitlang zwischen Bonn und Berlin. Doch irgendwann hatte er die Nase voll von Hotelzimmern und entschied sich im Januar 2000 aus praktischen Erwägungen doch für ein Einzimmerapartment in dem Komplex. Im Sommer 2001 zog er dann ganz nach Berlin und mietete zusammen mit seiner Frau eine Dreizimmer-Terrassenwohnung in der gleichen Wohnanlage. Noch heute genießt er diese Oase der Ruhe. Spreeblick hat er zwar nicht, dafür schätzt er die Nähe zum Tiergarten: „Man ist mittendrin, hat eine perfekte Anbindung an Theater, Museen und andere Kultureinrichtungen und wohnt trotzdem im Grünen.“ Auch die international gemischte Bewohnerschaft gefällt ihm.
Weil die 712 Wohnungen bei den Bonnern auf wenig Begeisterung stießen, wurden sie von Anfang an auch an andere Interessenten vermietet. „Hier wohnen nicht nur Spitzenverdiener, sondern Rentner, Familien und Botschaftsangehörige“, sagt der inzwischen Pensionierte. Andere mögen die Nase rümpfen über die Bauweise des „Spreebellevue“ – so der offizielle Name –, doch Martin Schenkel schwärmt von der Architektur: „Man würde zwar heute nicht mehr so bauen, weil die Flächenauslastung, profitorientiert betrachtet, nicht optimal ist, aber ästhetisch ist die Integration in die Landschaft sehr gelungen.“ Der Bau fließt in Serpentinen und ist offen zum Tiergarten und geschlossen zur Bahn hin. Auf diese Weise sind die Mieter perfekt vom Verkehrslärm abgeschottet.
„David gegen Goliath“
Was die Wohnung betrifft, gibt es allerdings ein großes Manko. „Sie ist extrem hellhörig, man hört jedes Husten des Nachbarn.“ Auch feuchte Keller und Schimmel sind ein leidiges Problem, verursacht durch die Nähe zur Spree und das aufsteigende Grundwasser. Wie die meisten Mieter der Gebäudeeigentümerin Vonovia hat auch Martin Schenkel die Erfahrung gemacht, dass man monatelang kämpfen muss, damit Reparaturen erledigt werden. Das sei ein wenig wie bei „David gegen Goliath“. Die Mieterhöhungen dagegen kommen zuverlässig. Gerade zum 1. November haben viele Mieter wieder eine Erhöhung erhalten.
Trotz der zentralen Lage: Ein lebendiges Quartier sieht anders aus. Zum nächsten Supermarkt muss man lange laufen, eine Apotheke gibt es nicht, und das einzige Restaurant musste schließen. Abends wirken die Straßen verwaist, und außer einer Tapas-Bar gibt es keine Treffpunkte für die Bewohner. Es sei ohnehin ein eher anonymes Wohnen, die meisten der Nachbarn kenne man nicht, sagt Lieselotte Richter. Sie erinnert sich noch gut an die Hochglanzbroschüren, die bei ihrem Einzug vor 18 Jahren davon kündeten, wie schön es sich hier wohnen lässt. Eine schicke Ladenzeile mit Geschäften und Cafés entlang des Bahndamms war geplant, ähnlich wie am Savignyplatz. Heute werden hier alte Matratzen und anderer Sperrmüll abgestellt.
Die ersten fünf Jahre seien sozusagen „First Class“ gewesen. Dann übernahm das Wohnungsunternehmen Annington, das seit 2015 Vonovia heißt. „Man schämt sich, wenn man Besuch bekommt“, sagt auch Lieselotte Richters Nachbar Klaus Reismann*. Beide wohnen nicht in den „Schlangenwohnungen“, sondern in einem der Atriumhäuser in der Alice-Berend-Straße. In jedem dieser Häuser hängt im Treppenhaus ein anderes Kunstobjekt von der Decke. „Nette Idee, aber die müssten auch mal saubergemacht werden“, findet Lieselotte Richter. Die Kölnerin ist vor allem wegen der zentralen Lage eingezogen. In der Morgenpost hatte sie gelesen, dass die Wohnungen nun auch an Nicht-Bundesbedienstete vermietet werden. Die Deutschbau, die zu dieser Zeit Vermieterin war, bot ihr sogar zwei Monate Mietfreiheit an. „Damals hatten wir drei Hausmeister, die sich um alles kümmerten, und der Hauptbahnhof war noch nicht eröffnet“, beschreibt die Rentnerin die damalige Situation, die sich nun wesentlich zum Schlechteren gewandelt hat. Von ihrer Küche aus blickt sie direkt auf die Gleise, im Minutentakt rattern die Züge vorbei. Immer wieder gibt es dadurch Störungen im TV- und Telefonempfang. Auch den Schnitt ihrer Wohnung findet Lieselotte Richter wenig durchdacht. Küche und Bad seien völlig verwinkelt, mit nutzlosen Ecken und einem übergroßen Heizkörper im Bad, der meist nicht funktioniere. Weil ihre Dreizimmerwohnung ursprünglich als Büro geplant war, gibt es in der Küche nicht einmal Warmwasser. „Als das Preis-Leistungs-Verhältnis noch stimmte, hat man über all diese Dinge hinweggesehen“, sagt Klaus Reismann. Statt 300 Euro wie bei seinem Einzug vor 17 Jahren zahlt er nun 535 Euro für seine 45 Quadratmeter große Wohnung. Lieselotte Richter hat sich vor Gericht bereits viermal erfolgreich gegen Mieterhöhungen gewehrt.
Große Fluktuation, ständige Verteuerung
Die Fluktuation in den Gebäuden ist groß, viele Wohnungen werden nur als Zweitwohnsitz genutzt, und zum Monatsende stehen oft Möbelwagen vor der Tür. Nach jedem Auszug wird saniert, so dass unter Umgehung der Mietpreisbremse wesentlich teurer vermietet werden kann. Am meisten leiden die Mieter aber darunter, dass andauernd die Heizung oder das Warmwasser ausfällt. Vor einiger Zeit mussten sie mitten im Winter drei Tage ohne Heizung ausharren. Einen Ansprechpartner haben sie nicht, es gibt nur eine Hotline, die die Beschwerden entgegennimmt. Meist passiert dann trotzdem nichts, oder man muss wieder und wieder anrufen und Druck machen. Auch Stefan Schetschorke, Rechtsberater beim Berliner Mieterverein, hat die Erfahrung gemacht, dass auf Schreiben nicht oder nur mit erheblicher Verzögerung geantwortet wird. Warum es in einem gerade mal 20 Jahre alten Neubau überhaupt solche Probleme mit der Heizungsanlage gibt, ist unklar. Auf Anfrage gibt sich die Vonovia ahnungslos und fragt nach einem konkreten Fall.
„Alles geht den Bach runter, nur die Preise steigen kontinuierlich nach oben“, lautet Lieselotte Richters Fazit. Umziehen möchte sie trotzdem nicht, ebensowenig wie Klaus Reismann. „Allerdings stellt man sich schon manchmal die Frage, wie lange man sich das noch leisten kann“, meint Martin Schenkel.
Birgit Leiß
* Name von der Redaktion geändert
„Verspielte Gelassenheit“
Nach der Hauptstadtentscheidung wurde in Berlin befürchtet, dass die Zuzügler den Wohnungsmarkt überrollen könnten, und so brachten die Bonner sozusagen ihre Wohnungen mit. Bereits 1992 hat der Deutsche Bundestag das Bauvorhaben auf dem Moabiter Werder beschlossen, 1996 erfolgte die Grundsteinlegung. Bauherren waren die bundeseigenen Wohnungsbaugesellschaften Deutschbau (510 Wohnungen) und die Frankfurter Siedlungsgesellschaft (208 Wohnungen). Der Entwurf stammt vom Berliner Architekten Georg Bumiller. Die freie Figuration der Baukörper, die Anordnung als Serpentine und die Atriumhäuser fügten den metropolitanen Figuren des Regierungsviertels ein Element von verspielter Gelassenheit hinzu, befand die Jury 1995. Das berühmte Kernstück, ein 320 Meter langes Backsteingebäude, schlängelt sich die neu errichtete Joachim-Karnatz-Allee entlang und steigt von fünf auf acht Stockwerke an. Hier befinden sich 437 Wohnungen, darunter auch schicke Penthäuser mit großer Terrasse und Spreeblick. Dazu kommen 43 Wohnungen im Kopfbau an der Paulstraße sowie 238 Wohnungen, überwiegend Einzimmerapartments, in den vier Wohnklötzen in der Alice-Berend-Straße.
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