Es ist ein Fall, über den man den Glauben an das Rechtssystem verlieren könnte. Da wird eine sechsköpfige Familie zwangsgeräumt – völlig zu Unrecht, wie das Gericht später entscheidet. Trotzdem kann sie nicht wieder in ihre Wohnung zurück und lebt seit nunmehr fünf Monaten in einer Pension.
Alles fing im November 2018 an. Nach einem Wasserschaden wollte der Vermieter Instandsetzungsarbeiten durchführen und teilte den Mietern lapidar mit, dass sie ihre Wohnung in der Lübecker Straße 40 für zwei Monate verlassen müssten. Der Berliner Mieterverein wies den Vermieter darauf hin, dass dies ohne Bereitstellung von Ersatzwohnraum nicht geht. Daraufhin kündigte der Vermieter seinen Mietern fristlos und reichte wenige Tage später eine Räumungsklage ein.
Weil diese Klageschrift nie bei den Mietern angekommen ist, wie sie eidesstattlich versicherten, konnten sie auch nicht fristgerecht reagieren. Es erging ein sogenanntes Versäumnisurteil, das heißt das Gericht gab der Räumungsklage ohne weitere Prüfung statt. Ein solches Urteil ist vorläufig vollstreckbar, daher leitete der Vermieter umgehend die Zwangsräumung in die Wege. Obwohl Rechtsanwalt Cornelius Krakau sofort Einspruch einlegte und dem Gericht die Dringlichkeit darlegte – schließlich sind vier schulpflichtige Kinder betroffen – wurde der Gerichtstermin erst für Mai 2019 festgesetzt. Einen Antrag auf Vorverlegung lehnte das Gericht wegen Arbeitsüberlastung ab. Die Sicherheitsleistung in Höhe von 170.000 Euro, mit der die Räumung hätte abgewendet werden können, konnte die pakistanisch-stämmige Familie nicht aufbringen.
Rechtsanwalt Krakau setzte nun alle Hebel in Bewegung, stellte einen Räumungsschutzantrag und reichte diverse Beschwerden ein – ohne Erfolg. Das Amtsgericht war der Meinung, die Räumung stelle keine unbillige Härte dar. Am 28. März wurde die Familie schließlich vom Gerichtsvollzieher mit ihren Habseligkeiten auf die Straße gesetzt. Sie landete zunächst im Obdachlosenasyl und schließlich in einer Pension.
Im Mai entschied das Amtsgericht dann, dass die Kündigung unwirksam war (AG Mitte vom 23. Mai 2019 – 35 C 350/18). Die fehlende Duldung der Instandsetzung sei kein Kündigungsgrund, weil sich der Vermieter geweigert hatte, einen Vorschuss für die Unterbringung zu zahlen. Krakau erwirkte umgehend eine einstweilige Verfügung, wonach der Vermieter den Mietern wieder den Besitz an der Wohnung einräumen muss. Doch der schaltete auf stur, und der Gerichtsvollzieher weigerte sich, die Wohnung sofort öffnen zu lassen.
Parallel dazu versuchte der Berliner Mieterverein (BMV), den Sozialstadtrat von Mitte dazu zu bewegen, der Familie über Zwangsmittel wieder den Zutritt zu ihrer Wohnung zu verschaffen – ohne Erfolg. Ein solches Vorgehen ist nach dem ASOG (Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz) möglich. „Eine entsprechende Notsituation lag hier eindeutig vor“, erklärt Sebastian Bartels, stellvertretender Geschäftsführer vom BMV: „Es ist nicht hinnehmbar, wenn Eltern mit vier minderjährigen Kindern in einer engen Pension ausharren müssen.“
Ende Juni kam dann eine neue Überraschung: Der Vermieter behauptete, er habe die Wohnung wenige Tage nach der Räumung neu vermietet. Daran hatte das Gericht zwar erhebliche Zweifel und wies den Gerichtsvollzieher an, unverzüglich den Vollstreckungsauftrag auszuführen. Doch dieser lehnte ab, weil der Räumungstitel für die angeblich vorhandene neue Mieterin nicht gilt.
Das (vorläufige) Ende dieser unsäglichen Geschichte: Die Familie, die immer noch in der Pension leben muss, versteht die Welt nicht mehr. Das Jobcenter hat bereits angekündigt, den Vermieter für die Unterbringungskosten – bis zu 180 Euro pro Tag – in Regress zu nehmen. Allerdings hat dieser gegen das Amtsgerichts-Urteil Berufung eingelegt. Bei einer tatsächlichen Doppelvermietung stehen den Mietern Schadensersatzansprüche zu. Der Fall zeige, so Bartels, dass die Zivilprozessordnung dringend geändert werden muss: „Räumungen dürfen nur nach vorheriger mündlicher Verhandlung zugelassen werden.“
Birgit Leiß
29.08.2019