Wer mit Gerichtsvollzieher und Polizei seiner Wohnung verwiesen wird, ist nach Überzeugung vieler Menschen irgendwie selber schuld. Die meisten glauben, so etwas könne nur notorischen Mietschuldnern oder Messies passieren. Doch die Wirklichkeit ist komplizierter. „Kalle“ aus Köln verlor nach 32 Jahren seine Wohnung, weil sein Vermieter Eigenbedarf anmeldete. Die schwerbehinderte Rosemarie F. aus Reinickendorf wurde zwangsgeräumt, weil das Sozialamt die Miete zu spät überwiesen hatte. Zwei Tage später starb sie in einer Wärmestube. Familie Gülbol aus Kreuzberg wurde nach 35 Jahren geräumt, weil sie einen Zahlungsrückstand nach einem verlorenen Prozess ein paar Tage zu spät ausgeglichen hatte. Drei Schicksale, die mittlerweile zu Symbolen des Widerstands gegen Zwangsräumungen geworden sind.
„Ich hätte nie gedacht, dass man so schnell seine Wohnung verlieren kann“, sagt Henrik Kluke. Dabei hatte der Architekt lediglich von seinem Recht auf Mietminderung Gebrauch gemacht. Nach einer, wie er sagt, „verpfuschten“ Sanierung gingen vom Aluminiumgeländer seines Balkons Tag und Nacht störende Geräusche aus. Nach Absprache mit dem Berliner Mieterverein (BMV) minderte er die Miete um zehn Prozent. Nachdem zwei Monatsmieten Rückstand zusammengekommen waren, kündigte der Vermieter fristlos. „Darauf habe ich nicht reagiert, ich habe das gar nicht ernst genommen“, sagt er. Schließlich war mit keinem Wort der Grund für den Rückstand, nämlich die Mietminderung, erwähnt worden. Auf die Mängelanzeigen des BMV hatte der Vermieter ebenfalls nicht reagiert.
Nachdem die Auszugsfrist verstrichen war, kam postwendend die Räumungsklage. Vor Gericht wurde dem Mieter zum Verhängnis, dass er eine Wohnungsbesichtigung durch den Vermieter verweigert hatte. „Das Gericht hat gar nicht geprüft, ob die Minderung in dieser Höhe berechtigt war, sondern hat argumentiert, dass der Mieter die Mängelbeseitigung verhindert und somit einen Mietrückstand verschuldet hat“, erklärt sein Anwalt Cornelius Krakau. Obwohl der Mieter zwischenzeitlich sämtliche Rückstände bezahlt hatte, wurde er in der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht zur Räumung verurteilt. „Ich habe mich natürlich intensiv um eine andere Wohnung bemüht, aber mit Hartz IV und ohne Mietschuldenfreiheitsbescheinigung ist das fast aussichtslos“, so Kluke.
Als dann Anfang August zwei Polizisten und eine Gerichtsvollzieherin vor seiner Tür standen, war er fassungslos: „Dass man mich einfach auf die Straße setzt, obwohl ich keine Wohnung gefunden habe, kann ich nicht begreifen.“ Durch die Zwangsräumung wurde er völlig aus der Bahn geworfen, ein Aufenthalt im Krankenhaus war die Folge. Mittlerweile wohnt er in einer Pension in einem Zweibettzimmer. Die Kosten für die Notunterbringung zahlt das Jobcenter. Ein tragischer Fall, der zeigt, wie rigoros Räumungen mittlerweile durchgezogen werden. „Immer häufiger werden Kleinigkeiten und formale Fehler zum Anlass genommen, um den Mieter loszuwerden“, sagt Rechtsanwalt Krakau. Sei es, weil es sich um einen unbequemen Mieter handelt oder weil man die Wohnung anschließend teurer vermieten kann. „Der Vermieter hätte im Fall Kluke ja auch auf Zahlung klagen können, statt gleich eine Räumungsklage einzureichen“, meint Krakau.
Mit „Makel“ chancenlos
Zwangsräumungen gab es schon immer, doch mit der dramatischen Situation auf dem Wohnungsmarkt haben sie an Brisanz gewonnen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt, dass es bundesweit 25.000 Zwangsräumungen pro Jahr gibt – Tendenz steigend. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Die Fälle, in denen gekündigte Mieter ihre Wohnung verlassen, bevor der Gerichtsvollzieher kommt, tauchen in keiner Statistik auf. „Niemand wartet freiwillig auf die Zwangsräumung und geht in die Wohnungslosigkeit“, betont Sara Walter vom Berliner Bündnis „Zwangsräumungen verhindern“.
Wer noch über Geldreserven verfügt, sucht sich etwas anderes, notfalls in den wenig beliebten Stadtrand-Großsiedlungen. Wer jedoch einen Schufa-Eintrag hat, von Transfereinkommen lebt oder einen anderen „Makel“ aufweist, ist chancenlos. Das Aktionsbündnis hat errechnet, dass pro Arbeitstag 22 Berliner zwangsgeräumt werden.
Das Bündnis hat sich vor zwei Jahren gegründet. Alles fing damit an, dass die Rollstuhlfahrerin Nuriye C. in die Fenster ihrer Erdgeschosswohnung am Maybachufer Protestplakate hängte: „Ich gehe hier nicht weg“ und „Hier wird gentrifiziert“. Der neue Hauseigentümer hatte die Miete der behindertengerechten Sozialwohnung nach dem Auslaufen der sogenannten Anschlussförderung fast verdoppelt. Die Rentnerin konnte das nicht zahlen und wurde auf Räumung verklagt. Doch anders als viele vor ihr wollte sie das nicht lautlos hinnehmen.
Seit dieser Geburtsstunde des Bündnisses werden viele Zwangsräumungstermine von lautstarkem Protest begleitet. Spektakulärer Höhepunkt war der Großeinsatz der Polizei im Februar 2013 in Kreuzberg. Erst im zweiten Anlauf schafften es die fast 1000 Polizisten unter kreisendem Hubschrauber, die Wohnung der Familie Gülbol zu räumen. Der erste Räumungstermin wurde abgebrochen, weil Hunderte von Demonstranten die Lausitzer Straße blockierten.
Diese erfolgreiche Aktion habe die Situation verändert, meint Sara Walter: „Wir nutzen unseren Einsatz als Drohszenario – viele Eigentümer haben einen Ruf zu verlieren und wollen keine Negativpresse.“ Mittlerweile ist die Staatsmacht jedoch besser vorbereitet. Da wird beim Räumungstermin eine falsche Uhrzeit angegeben oder die Gerichtsvollzieherin gelangt durch einen Nebeneingang ins Haus.
Langfristig lassen sich Zwangsräumungen nicht durch Sitzblockaden verhindern. Man arbeite jetzt kleinteiliger, so Sara Walter: „Wir statten der Geschäftsführung von Wohnungsbaugesellschaften unangemeldete Besuche ab, wir üben Druck auf Eigentümer aus und verhandeln mit Stadträten und Ämtern.“ Mit erstaunlichen Erfolgen. In vielen Fällen kann erreicht werden, dass die Räumung abgesagt wird oder dass die Betroffenen zumindest eine andere Wohnung bekommen. So wurde die Berufungsklage gegen Dieter S. von seinem Vermieter, der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Degewo, in letzter Minute zurückgezogen. Die Degewo bestreitet, dass dies etwas mit den massiven Protesten zu tun habe – unter anderem veranstalteten die Aktivisten ein „Go-In“ bei dem Wohnungsunternehmen. Man habe bereits einen Tag vorher einen Vergleich mit dem Mieter erzielt. Dieter S. hatte unter anderem wegen Baulärm rund um den Lehrter Bahnhof die Miete gemindert. Über die Jahre hinweg hatte er fast 5000 Euro Miete einbehalten. „Das war für uns nicht akzeptabel, zudem hatten wir Hinweise auf unerlaubte Nutzung des Hausstroms – daher wollten wir keine Fortsetzung des Mietverhältnisses“, erklärt Pressesprecher Lutz Ackermann.
5500 Zwangsräumungen gab es bei den städtischen Wohnungsunternehmen von 2008 bis 2012. Das ergab eine Kleine Anfrage der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus. Meist ging es um Mietrückstände, aber auch unerlaubte Untervermietung, Lärmbelästigung oder Verwahrlosung der Wohnung sind Gründe für Räumungsklagen. Spitzenreiter mit 1902 geräumten Wohnungen über den Zeitraum von sechs Jahren ist die Wohnungsbaugesellschaft Gesobau. Es folgt die Degewo mit 1223 Räumungen und die Gewobag mit 804 Fällen.
Wohnungsunternehmen: Ultimatives Mittel
Sämtliche Wohnungsunternehmen beteuern, dass die Zwangsräumung stets das allerletzte Mittel sei. Es gebe zahlreiche Beratungs- und Hilfsangebote. Das Problem: Manche Mieter erreiche man damit nicht. „Die Räumung kommt erst am Ende eines langen Vermittlungsprozesses“, so Geobau-Sprecherin Kirsten Huthmann. Noch kurz vor dem angesetzten Räumungstermin nehme man Kontakt zum Mieter auf und suche nach einer Lösung. „Alles wird zigmal geprüft, aber nach der zehnten leeren Versprechung des Mieters muss man die Räumung auch mal durchsetzen“, meint die Sprecherin. Meist gehe es um Mietschulden, man habe aber auch schon fristlose Kündigungen ausgesprochen, weil Kundenbetreuer mit dem Messer bedroht wurden. „Man braucht dieses Mittel, auch als Signal für andere Mieter, dass ein bestimmtes Handeln Konsequenzen hat“, so Huthmann.
Die Praxis sieht mitunter wesentlich gnadenloser aus, wie der tragische Fall von Mohamed S. zeigt. 36 Jahre lang lebte er in einer Wohnung der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Gewobag in Charlottenburg. Im Mai 2014 wurde der 67-jährige, schwerbehinderte Mieter zusammen mit seiner Freundin und der vierjährigen Tochter zwangsgeräumt. Die drei landeten zunächst in einem für Familien völlig unzumutbaren Obdachlosenheim. Erst nach Presseberichten wurde ihnen eine Einzimmerwohnung in einer Notunterkunft zugewiesen.
Was war passiert? Nach einem Schlaganfall und monatelangen Klinik- und Reha-Aufenthalten kam es zu Problemen mit der Mietzahlung. Mohamed S. lebt von Grundsicherung, seine Freundin bekommt Hartz IV. Ein Problem war nach Darstellung des Mieters, dass seine Freundin nicht im Mietvertrag stand. Die Gewobag hatte das abgelehnt. Daher habe das Jobcenter immer wieder Schwierigkeiten mit der Übernahme ihres Mietanteils gemacht. Dazu kam, dass das Amt für Grundsicherung nicht den gesamten Mietanteil von Mohamed S. bezahlte. Einen Teil beglich er aus eigener Tasche, doch weil seine monatlichen Grundleistungen während der Reha gekürzt wurden, konnte er das nicht mehr. „Ich habe in dieser Zeit natürlich auch andere Dinge im Kopf gehabt“, sagt der Mieter. Die Probleme mit den Ämtern und der Mietzahlung zogen sich über Jahre hin.
Schließlich kam die Kündigung, die im August 2010 vom Amtsgericht bestätigt wurde. Die Gewobag habe ihm dann mehrfach Ratenzahlung angeboten, räumt Mohamed S. ein. „Aber wie soll ich denn monatlich 200 Euro von meiner Grundsicherung bezahlen?“ Zum April 2013 sollte er dann die Wohnung räumen. Aufgrund massiver Proteste wurde die Räumung zunächst ausgesetzt. Zwölf Aktivisten hatten das Büro von Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) besetzt. Auch dem Vorstand der Gewobag wurde ein Besuch abgestattet. „Die Leute haben uns toll unterstützt, das tat wirklich gut“, sagt Mohamed S. Doch am Ende half alles nichts: Die Familie wurde geräumt, ihre Sachen zwangsversteigert. Die Gewobag wollte zum konkreten Fall keine Stellungnahme abgeben. Das Gericht habe festgestellt, dass kein sozialer Härtefall vorliegt, hieß es auf Anfrage lediglich.
„Wenn städtische Wohnungsunternehmen Mieter räumen, die von Transfereinkommen leben, ist das ein Unding“, empört sich Sara Walter. Die Kosten, die die öffentliche Hand für die Unterbringung von Obdachlosen aufbringen muss, sind schließlich um ein Vielfaches höher als eine Schuldenübernahme. 1300 Euro warm kostet die möblierte Einzimmerwohnung von Familie S.
Großzügigkeit statt Recht
Niemand ist schuld an seiner Zwangsräumung, lautet ein wichtiger Grundsatz des Bündnisses. Dahinter stünden immer politische Ursachen wie Armut, Profitstreben und Verdrängungsdruck. Beim Berliner Mieterverein sieht man das etwas differenzierter. Die Gründe, warum es so weit kommt, seien vielfältiger Art, meint Geschäftsführer Reiner Wild. „Es gibt auch Menschen, die sich jeglichem Gespräch mit dem Vermieter verweigern.“ Manche Mieter fahren eine regelrechte Vogel.Strauß-Taktik und öffnen weder Briefe noch nehmen sie Beratungsangebote an. Dennoch, so Wild: „Vermieter haben nicht nur die Pflicht, Hilfestellungen anzubieten, sondern sollten eine gewisse Großzügigkeit walten lassen, auch wenn sie formal im Recht sind – etwa bei unpünktlicher Zahlung eines Mietrückstands.“ Schließlich geht es bei der Wohnung um etwas ganz Existenzielles.
Wer von Zwangsräumung bedroht ist, fühlt sich oft hilflos. Es ist wie eine Lawine, die auf einen zurollt. Beim Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ unterstützen sich die Betroffenen gegenseitig. Sie begleiten einander zu Gerichtsverhandlungen und stärken einander den Rücken bei Behördengängen.
Mireille, die sich im Bündnis engagiert, hat mehrere Räumungstermine miterlebt und hat für sich beschlossen: „Das tue ich mir nicht an!“ Mireilles Geschichte ist verworren. Nachdem sie die Miete gemindert hatte und eine Mieterhöhung nicht akzeptierte, kam irgendwann die Kündigung. Dazu kam, dass sie zwei Monate gar keine Miete zahlte, weil sie Guthaben aus Nebenkostenabrechnungen aufrechnete. Der neue Eigentümer, so sagt sie, habe seine Verbindlichkeiten aus den Betriebskostenabrechnungen aber nicht anerkannt.
Nach langen Verhandlungen und mit Unterstützung einer Betreuerin kam es zu einem Vergleich, Mireille wird demnächst „freiwillig“ ausziehen. Gefunden hat die 61-Jährige eine 40 Quadratmeter große Seniorenwohnung in Rudow. Sie fühle sich ein bisschen wie eine Heimatvertriebene, der Kiez in „Kreuzkölln“ sei sehr lange ihr Zuhause gewesen: „Es ist so eine tolle Nachbarschaft hier, ich hab hier meine Leute, mein Lieblingscafé, den Türkenmarkt – ich will hier nicht weg.“ Rückblickend räumt sie ein, dass sie wahrscheinlich Fehler gemacht habe. „Zweitweise war ich so depressiv, dass ich keine Briefe mehr geöffnet habe – aber darf man mich deswegen nach 34 Jahren einfach rausschmeißen?“ Auch in der Vergangenheit hatte sie hin und wieder Probleme, die Miete zu zahlen. Die neue Eigentümerin sei aber knallhart: „Da war ich wohl ein bisschen naiv, ich hätte mich früher an einen Anwalt wenden sollen.“
„Die Wohnung ist das einzig sichere“
Ihre Mitstreiterin Birgit Bittner hat bisher keine Kündigung bekommen. „Ich rechne mit allem“, sagt sie. Seit ihrer Geburt wohnt die 52-Jährige in einer Dreizimmerwohnung in der Pücklerstraße in Kreuzberg. 354 Euro zahlt sie für die 80 Quadratmeter große Wohnung mit Ofenheizung – und das mitten im Szene-Kiez. Vor zwei Jahren erhielt sie ein Schreiben vom Makler, dass ihre Wohnung verkauft werden soll. Seitdem befürchtet die herzkranke Berlinerin, dass ein neuer Käufer wegen Eigenbedarf kündigen könnte. Weil die Wohnungen im Haus bereits vor Jahren umgewandelt wurden, würde der zehnjährige Kündigungsschutz nicht greifen. „Ich werde im Fall des Falles bis aufs Blut kämpfen“, erklärt sie. Für Birgit Bittner wäre der Verlust der Wohnung eine persönliche Katastrophe, nicht nur weil sie mit zwei Hunden und als Hartz-IV-Bezieherin kaum Chancen hätte, eine passende Wohnung zu finden: „Ich habe viel durchgemacht, das Einzige, was in meinem Leben sicher war, ist die Wohnung.“
Häufig ist es ein kompliziertes Geflecht von Behördenschlampereien, psychosozialen Problemen beim Mieter und einem erbarmungslosen Vermieter, das zur Räumung führt. Ist die Maschinerie einmal ins Rollen gekommen, ist sie kaum noch zu stoppen. „Ich habe einfach nicht mehr durchgeblickt“, meint Tina S., die nach fast 40 Jahren ihre Wohnung in Wedding verloren hat. Nach ihrer Darstellung hatte das Jobcenter sechs Monate lang die Miete nicht überwiesen. Weil es in der Vergangenheit öfter Probleme mit der Mietzahlung gegeben hatte, wollte das Jobcenter die Miete direkt an den Vermieter überweisen. Dass dies unterblieb, bemerkte die Mieterin nicht. „Später hat das Jobcenter behauptet, dass ich die Bankverbindung meines Vermieters nicht angegeben hätte“, erzählt Tina S. Beim Jobcenter will man sich aus Datenschutzgründen dazu nicht äußern.
Tina S. war jedenfalls der festen Überzeugung, dass vor einer Kündigung erst einmal eine Mahnung kommen müsste – ein folgenschwerer Irrtum. Jahrzehntelang hatte das Haus der Wohnungsbaugesellschaft Gesobau gehört. Die schickte bei Zahlungsrückständen zunächst Abmahnungen. Doch der neue private Eigentümer verschickte gleich die Kündigung. Weil Tina S. als selbstmordgefährdet eingestuft wurde, landete sie am Tag der Zwangsräumung zunächst in einer psychiatrischen Klinik. Mittlerweile lebt sie in einem kleinen Zimmer, das ihr ein Aktivist aus dem Bündnis zur Verfügung gestellt hat. „Ich wurde völlig entwurzelt“, sagt sie.
Nicht immer ist der Vermieter der „Böse“, meint Rechtsanwalt Cornelius Krakau. Auf beiden Seiten würden Fehler gemacht. Manche Mieter ziehen eigenmächtig vermeintliche Forderungen von der Miete ab, andere haben zwischen Bewilligungsbescheiden und Mietminderungsraten völlig den Überblick verloren. Das Risiko, seine Wohnung zu verlieren, wird von vielen unterschätzt. Dennoch: Fälle wie der von Michael S. sollten einfach nicht passieren. Ausgerechnet eine Genossenschaft kannte kein Pardon und setzte den sehbehinderten Mieter und seine blinde Freundin im August 2014 auf die Straße. Dabei ging es lediglich um eine Mieterhöhung. Der wollten die Mieter nicht zustimmen, solange noch Forderungen offen waren. Es ging um insgesamt 800 Euro aus Nebenkostenguthaben sowie einer vereinbarten Entschädigung, die der Vermieter noch nicht gezahlt hatte.
Im Januar 2014 sprach die Genossenschaft eine fristlose Kündigung aus. Michael S. sagt, er habe diese nie erhalten. Erst im Mai 2014 erfuhr er durch ein Versäumnisurteil des Gerichts von der Kündigung. Er legte sofort Einspruch ein – jedoch dauerte es ein paar Tage, bis ihm das Versäumnisurteil in einer blindengerechten Version zugänglich gemacht wurde. Der sehbehinderte Mieter muss alle Schreiben mit einem speziellen Lesegerät entziffern. Noch bevor über den Einspruch entschieden war, beauftragte die Genossenschaft den Gerichtsvollzieher mit der Räumung. Erst ein paar Tage vor der angesetzten Räumung ging Michael S. persönlich zum Gericht und beantragte Räumungsschutz. Darauf hat die Richterin nicht sofort reagiert, zumal der Mieter keine Belege für seine Gegenforderungen vorgelegt hatte.
Rechtzeitig handeln
Diese Verkettung von unglücklichen Umständen und Versäumnissen führte schließlich dazu, dass das sehbehinderte Paar Anfang Juli auf die Straße gesetzt wurde. Michael S. schläft seitdem auf dem Sofa eines Bekannten, seine Partnerin lebt in einer Kriseneinrichtung. Bei der Genossenschaft heißt es lediglich, man habe den beiden immer wieder Beratungsangebote gemacht. Die Mieter hätten jegliche Kooperation abgelehnt. Unklar bleibt, wieso beim Streit um eine Mieterhöhung soziale Hilfen erforderlich sein sollen.
„Natürlich wurde in diesem Fall versäumt, rechtzeitig einen Anwalt einzuschalten“, meint Krakau, der erst nach vollzogener Räumung hinzugezogen wurde. Wenn die Mieter früher gekommen wären, hätte man diese Zwangsräumung wahrscheinlich verhindern können. Über den eigentlichen Streitgegenstand, die Mieterhöhung, ist noch gar nicht gerichtlich entschieden. Dennoch: Ein solcher Umgang mit sehbehinderten Mietern ist völlig unverständlich. „Meine Freundin schämt sich für das, was uns passiert ist – ich finde es einfach nur empörend“, meint Michael S.
Birgit Leiß
Die pünktliche Zahlung der Miete gehört zu den wichtigsten Mieterpflichten. Viele Gerichte kennen hier kein Pardon. Ab einem Mietrückstand von zwei Monaten kann der Vermieter fristlos kündigen – und zwar ohne vorherige Abmahnung. Eine fristlose Kündigung droht auch schon, wenn man an zwei aufeinander folgenden Monaten einen „nicht unerheblichen Teil der Miete“ schuldig geblieben ist. Nach der geltenden Rechtsprechung versteht man darunter mehr als eine Monatsmiete. „Ein Rückstand von einer Monatsmiete und 1 Cent können also ausreichen, damit man seine Wohnung verliert“, erklärt Stefan Schetschorke, Leiter der Rechtsabteilung beim Berliner Mieterverein. Eine Mahnung oder Zahlungserinnerung vorab ist nicht erforderlich.
Zwar kann man eine solche fristlose Kündigung aus der Welt schaffen, wenn man spätestens zwei Monate nach Zustellung der Räumungsklage den kompletten Mietrückstand ausgleicht oder wenn sich das Jobcenter beziehungsweise das Sozialamt dazu verpflichtet. Aber auf diese Möglichkeit kann man sich nur einmal innerhalb von zwei Jahren berufen. Zudem gilt sie nicht bei ordentlichen Kündigungen. Viele Vermieter erklären mit der fristlosen Kündigung „hilfsweise“ auch die ordentliche Kündigung. In diesem Fall bringt auch die Begleichung des Mietrückstands nichts.
Ein weiterer Fallstrick: Die ausstehende Summe muss vollständig bezahlt werden. Wenn man auch nur 20 Euro zu wenig überweist, etwa weil man sich verschrieben hat, wird die Kündigung wirksam.
Früher galt, dass bei nicht beglichenen Nebenkostennachforderungen keine Kündigung möglich ist. Mittlerweile neigen einige Gerichte dazu, auch hier eine Kündigung zuzulassen. Diese Auffassung ist aber noch nicht vom Bundesgerichtshof bestätigt.
Eine Kündigung droht auch dem, der seine Miete ständig unpünktlich überweist. Bis zum dritten Werktag eines Monats muss die Miete gezahlt werden.
Vorsicht bei einer Mietminderung. Nach der BGH-Rechtsprechung ist bereits bei einem Rückstand von mehr als einer Monatsmiete eine Kündigung zulässig. Vor Gericht wird dann geprüft, ob die Höhe der Minderung gerechtfertigt war. Hat der Mieter „grob fahrlässig“ oder „offensichtlich unbegründet“ die Miete gekürzt, wird eine ausgesprochene Kündigung wirksam.
„Viele Mieter mindern zu hoch, aber auch wir Rechtsberater sind nicht vor Fehleinschätzungen gefeit“, sagt Schetschorke. Zum einen, weil sich die Juristen auf die Angaben der Mieter verlassen müssen – Hausbesuche des Anwalts gibt es nur bei „Liebling Kreuzberg“ im Fernsehen. Zum anderen weil die Gerichte zunehmend restriktiver urteilen. Schetschorke hat schon erlebt, dass bei einem toxischen Schimmel in der Wohnung, der von Spezialisten mit Ganzkörperanzügen entfernt werden musste, nur eine dreiprozentige Mietminderung statt der von ihm angesetzten 30 Prozent anerkannt wurde. In jedem Fall sind die Risiken genau abzuwägen, schließlich geht es um den möglichen Verlust der Wohnung, so Schetschorke: „Man sollte dem Vermieter keine offene Flanke bieten – besonders dann nicht, wenn dieser ohnehin ein Interesse hat, die Wohnung frei zu bekommen.“ Das mag defensiv klingen – heißt aber noch lange nicht, dass man auf seine Rechte verzichten muss. Besser als die Miete zu mindern ist es beispielsweise, den Mietminderungsbetrag unter Vorbehalt zu zahlen und ihn dann rückwirkend vom Vermieter einzufordern.
In jedem Fall gilt: Wenn es um die Zahlungspflicht geht, sollte man fachkundigen Rat einholen!
bl
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Die Neue Richtervereinigung, ein Zusammenschluss von Richtern und Staatsanwälten, hat unlängst Alarm geschlagen. Man beobachte eine zunehmende Anzahl von Räumungsklagen mit dem Ziel der Verdrängung von Alt-Mietern. „Die geltende Rechtslage bietet den Mietern keinen Schutz mehr“, erklärt Marianne Krause, Sprecherin des Landesverbandes Berlin/Brandenburg.
Paragraph 569 Absatz 3 des Bürgerlichen Gesetzbuchs regelt zwar, dass eine fristlose Kündigung wegen Zahlungsverzugs durch Zahlung der rückständigen Miete innerhalb von zwei Monaten nach Rechtshängigkeit einer Räumungsklage unwirksam wird.
Das gilt jedoch nur für fristlose Kündigungen. Neuerdings, so die Alternativvereinigung zum großen „Richterbund“, sprechen Vermieter jedoch neben der fristlosen häufig auch eine fristgemäße Kündigung aus. Das bedeutet dann, dass Mieter ihre Wohnung räumen müssen, obwohl sämtliche Forderungen des Vermieters ausgeglichen sind.
Dabei ist die sogenannte Schonfristzahlung ein vom Gesetzgeber gewünschtes Instrument zur Vermeidung von Wohnungsverlust, ein „Herzstück des sozialen Mietrechts“, so Krause. Unter diesen Umständen erklären sich auch immer weniger öffentliche Stellen bereit, Mietschulden zu übernehmen. Wenn die Wohnung ohnehin nicht erhalten werden kann, macht das auch keinen Sinn mehr.
Die Neue Richtervereinigung fordert daher, die Gesetzesinitiative des Landes Brandenburg aus dem Frühjahr 2014 weiter zu verfolgen. Demnach sollen die Schonfristzahlungen auch für fristgemäße Kündigungen gelten.
Der Berliner Mieterverein schließt sich dieser Forderung an. Dass die fristgerechte Kündigung von der Schonfristzahlung ausgenommen ist, sei das gravierendste Problem bei der Verhinderung von Zwangsräumungen. „Dass Mieter geräumt werden können, obwohl der Vermieter finanziell voll zufriedengestellt wurde, ist absurd“, so Mietervereins-Geschäftsführer Reiner Wild.
bl
MieterMagazin 11/14
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Website des Bündnisses:
www.zwangsraeumung
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Betroffenen-Café jeden letzten Sonntag im Monat um 16 Uhr im Stadtteilladen, Lausitzer Straße 8
26.05.2022