Neubau ist billiger als Erhalt – so heißt oft die Begründung für die Zerstörung preiswerten Wohnraums. Doch die Rechnung stimmt nicht, weil sie die sozialen und ökologischen Folgen eines Abrisses nicht einkalkuliert.
Mit betroffenen Mieter:innen möchte wohl niemand von uns tauschen. Wenn eine Abrisskündigung kommt, die im Amtsdeutsch Verwertungskündigung heißt, klingt das bedrohlich. Existenzsorgen machen sich breit. Mieter:innen verlieren ihre Wohnungen, werden aus ihren Kiezen verdrängt, Nachbarschaften reißen auseinander – und bezahlbare Wohnungen gehen verloren. Die Verdrängung trifft dabei oft diejenigen, denen der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum ohnehin erschwert ist. Aber auch Haushalte mit durchschnittlichen Einkommen sowie kleine Gewerbetreibende haben das Nachsehen. Denn das gewohnte Umfeld mit den Nachbarn, Kitas, Schulen, Freizeitstätten für Senioren und Kinder, Einzelhandels- und Kultureinrichtungen ist ein wesentlicher Bestandteil im Leben der meisten Menschen. All dies geht verloren, wenn ihr Haus abgerissen wird. Der Abriss von Gebäuden entfremdet nicht nur Mensch und Umwelt, er verursacht auch hohe ökologische Kosten.
Eine Flut von Abrissanträgen in den Bezirksämtern
Dennoch häufen sich in den Berliner Bezirksämtern die Anträge für Abrissvorhaben. Von den mehr als 1.500 Anträgen, die Eigentümer:innen seit der Einführung des Zweckentfremdungsverbotsgesetzes (ZwVbG) in Berlin im Jahr 2014 stadtweit eingereicht haben, beschieden die Bezirke etwa 1.300 positiv. Spitzenreiter bei den Anträgen ist derzeit Charlottenburg-Wilmersdorf. Abriss ist Beseitigung von Wohnraum, in vielen Fällen von Mietwohnungen, die für breite Schichten der Bevölkerung noch leistbar sind. Und Abriss ist Zweckentfremdung. So steht es auch im Berliner Gesetz: „Eine Zweckentfremdung im Sinne dieses Gesetzes liegt vor, wenn Wohnraum zu anderen als Wohnzwecken genutzt wird, insbesondere wenn Wohnraum (…) beseitigt wird.“ Die im Gesetz enthaltene Ersatzwohnraumregelung mit der Verpflichtung, preisgünstige Wohnungen für die verbliebene Mieter:innenschaft im Neubau bereitzustellen, bietet nicht genügend Schutz für die Betroffenen. Die Nettokaltmiete darf nach der Regelung zwar in einem Teil der Wohnungen höchstens 7,92 Euro pro Quadratmeter betragen. Sie garantiert den vorherigen Bewohner:innen jedoch nicht ihre Rückkehr oder eine bezahlbare Wohnung im nachbarschaftlichen Umfeld. Denn daran mangelt es fast überall in Berlin.
Die Öko-Bilanz muss eine Rolle spielen
Hinzu kommt: Hier geht es nicht allein um Zweckentfremdung und die Vernichtung von bezahlbarem Wohnraum. Wie auch Theresa Keilhacker, Präsidentin der Architektenkammer Berlin, kritisiert, werden oft weder die baukulturellen Folgen vernichteter Bausubstanz adressiert, noch die ökologischen Kosten von Abriss und Neubau bislang in die Wirtschaftlichkeitsgutachten zu den Abrissanträgen einbezogen, obwohl das dringend notwendig ist. „Dem Thema ,Graue Energie‘ muss mehr Bedeutung bei der Novellierung der Landesbauordnung zugemessen werden“, ist Theresa Keilhacker überzeugt, die sich seit Jahren für den Bestandserhalt vor Neubau und eine neue Umbaukultur einsetzt. Graue Energie ist die Energiemenge, die für Herstellung, Transport, Lagerung, Verkauf und Entsorgung eines Gebäudes „von der Wiege bis zur Bahre“ aufgewendet werden muss.
Die Präsidentin der Architektenkammer Berlin schlägt vor:
- Das in bestehender Bausubstanz gebundene CO2 und die Kosten für die Graue Energie müssen ökonomisch bewertet und sogenannte Abrissgutachten dadurch weniger attraktiv gemacht werden.
- In der Lebenszyklusberechnung sind Abriss und Entsorgung des Bestands wirtschaftlich dem Ersatzneubau zuzuordnen. Und für die CO2-Emissionen sind die wissenschaftlich ermittelten Klimakosten anzusetzen.
- Dem Bestand sind gegenüber einem Neubau nur die geplanten Modernisierungs- beziehungsweise Umbaumaßnahmen anzurechnen. Sowieso-Kosten für Instandhaltung sind im Kostenvergleich zu berücksichtigen und abzuziehen.
Vereinfacht heißt das, dass den Kosten für die Umwelt, die durch Abriss und Neubau entstehen, ein Wert zuzuordnen ist, der insbesondere bei den Erwägungen zur Wirtschaftlichkeit eines Vorhabens eingepreist werden muss. Jahrelanger Instandhaltungsrückstau aufgrund von Unterlassung kann nicht mehr in die ökonomische Bewertung des Bestandes einfließen, sondern muss kostentechnisch dem Ersatzneubau zugeordnet werden.
„Der Gebäudesektor gehört bereits während des Baus zu einem der CO2-intensivsten Sektoren. Allein die Zementindustrie emittiert jährlich 2,8 Milliarden Tonnen CO2“, worauf auch die Initiative ressourcenwende in ihrem jüngst veröffentlichten Policy-Briefing hinweist. „Abbruchmaterialien werden – wenn überhaupt – in minderwertiger Art und Weise wiederverwertet und ein Großteil wird zu nicht verwertbarem Abfall. Mit einem Rohstoffeinsatz von 321 Millionen Tonnen pro Jahr ist der Bausektor der Wirtschaftssektor mit dem größten Ressourcenverbrauch in Deutschland und mit mehr als 200 Millionen Tonnen Abfall pro Jahr für mehr als die Hälfte des jährlichen Abfallaufkommens verantwortlich.“
Es darf keine Schlupflöcher mehr geben
Abrissvorhaben sollten somit sowohl aus sozialer als auch aus ökologischer Sicht nicht genehmigt werden beziehungsweise nur unter strikten sozialen und ökologischen Auflagen. Doch es fehlt an Rechtsinstrumenten zur strikten Versagung von Abrissgenehmigungen auf lokaler Ebene. So geraten die Bezirke auch beim Klimaschutz ins Hintertreffen. Es zeigt sich immer wieder, dass die lokale Politik wenig ausrichten kann, wenn es um den Schutz der ansässigen Bevölkerung UND unser aller Lebensbedingungen geht. Beispiele sind das bezirkliche Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten und die Mietobergrenzen für Neubauwohnungen im ZwVbG. Beide werden von Eigentümer:innen angegriffen. Der Streit schwelt derzeit vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg. Die im Gesetz verankerte vorübergehende Zwangsverwaltung bei leerstehenden, vernachlässigten Wohngebäuden setzen die Bezirke nicht um, weil die rechtlichen Risiken vermutlich zu groß sind.
Ausnahmeregelungen, mit denen Eigentümer:innen versuchen, das Verbot zu umgehen, zwingen die Bezirke in der Realität sogar überwiegend dazu, die Genehmigungen trotzdem zu erteilen. Das ist möglich, wenn „schutzwürdige private Interessen“ das öffentliche Interesse am Erhalt des Gebäudes überwiegen oder wenn angemessener Ersatzwohnraum durch den Neubau geschaffen wird, der den Wohnraumverlust durch den Abriss wieder „ausgleicht“. Investor:innen argumentieren zwar häufig mit der Errichtung von mengenmäßig mehr Wohnungen sowie klimafreundlichen Gebäuden, stützen jedoch ihre Abrissanträge auf gravierende bauliche Mängel, die vor dem Hintergrund der Vorgaben in der Berliner Bauordnung eine Sanierung als wirtschaftlich nicht tragbar erscheinen lassen. Zahlreiche Expert:innen haben jedoch vorgerechnet, dass Sanierungen in den meisten Fällen deutlich kostengünstiger wären als Abriss und Neubau.
Was wie Desinteresse aussieht, ist Spekulation
Wirtschaftliche Erwägungen zur Refinanzierung der Investitionskosten und Bewirtschaftung sind die ausschlaggebenden Faktoren für Abrissvorhaben. Diese rein ökonomische Perspektive auf Abriss und Neubau verschweigt jedoch die ökologischen Kosten und verschleiert, dass Missstände und Mängel an den Wohngebäuden von den Eigentümer:innen häufig selbst über Jahre herbeigeführt wurden. In Berlin gibt es leider unzählige Beispiele. Doch nicht überall, wo Instandhaltung verschleppt wird, herrscht auch Leerstand. Viele Hausgemeinschaften und Mieter:innen beklagen ein großes Desinteresse der Eigentümer:innen an ihren Wohngebäuden. Was wie fehlendes Interesse aussieht, kann in vielen Fällen in Spekulation mit Wohnraum aus zukünftigen Verwertungsinteressen übersetzt werden.
Die sozial-ökologische Bilanz muss in den Vordergrund rücken
Damit weniger Häuser abgerissen werden, müssen die Bezirke früher eingreifen, als es das Zweckentfremdungsverbotsgesetz bislang ermöglicht. Davon ist auch Theresa Keilhacker überzeugt. Die Berliner Bauordnung und das Wohnungsaufsichtsgesetz geben Eigentümer:innen bereits eine Instandhaltungspflicht vor. Doch die Missachtung dieser Pflicht ahnden die Bau- und Wohnungsämter in den Bezirken offenkundig kaum. Warum sonst können Wohngebäude in der Habersaathstraße, am Hindenburgdamm, in der Odenwaldstraße, in der Düsseldorfer Straße oder eine Siedlung im Prenzlauer Berg teils leer stehen und in einem mangelhaften Zustand sein?
In dieser Legislatur brauchen wir daher dringend Änderungen, um den selbst auferlegten ökologischen Zielen überhaupt gerecht werden zu können. Im neuen Koalitionsvertrag ist zumindest vorgesehen, dass das Zweckentfremdungsverbot sowie das Wohnungsaufsichtsgesetz in einen umfassenden Wohnraumschutz übertragen werden sollen – das sollte vor allem Interessen von Bestandsmieter:innen Rechnung tragen. Dazu gehört zwingend eine ökonomische Bewertung von gebundenem CO2 in bestehenden Bausubstanzen, um so den Abriss von Gebäuden weniger attraktiv zu machen. Wir fordern darüber hinaus, nicht nur die einschlägigen Gesetze zu ändern, sondern die Bezirke auch in deren Umsetzung zu stärken – zum Beispiel durch mehr Personal und eine bessere Verzahnung innerhalb der Zuständigkeiten.
26.01.2022