Was ist los mit dem sozialen Wohnungsbau in Berlin? Das haben wir Matthias Clausen von der Sozialmieterinitiative Kotti & Co. gefragt. Er beschäftigt sich seit zehn Jahren mit dem Thema und war selbst Mieter einer Sozialwohnung.
Die Reform ist lange angekündigt. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode sollte das Thema sozialer Wohnungsbau ganz oben auf der politischen Agenda der rot-rot-grünen Berliner Regierung stehen. SPD, Linke und Grüne wollten durch „eine umfassende Reform gerechte Sozialmieten und Belegungsbindungen sichern“ – so hatten sie es im Koalitionsvertrag festgelegt. Passiert ist seither wenig. Zwar hat die neue Berliner Regierungskoalition jetzt ein Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen auf den Weg gebracht. Doch das Wort „sozial“ kommt in der ersten Erklärung des Bündnisses nicht einmal vor.
Matthias Clausen, wie hoch schätzen Sie den Bedarf an sozialem Wohnungsbau in Berlin ein?
Anfang der 1990er Jahre gab es in Berlin noch 370.000 Sozialwohnungen. Heute sind es nur noch knapp 90.000. Der Grund sind einzig die auslaufenden oder sogar vorzeitig beendeten Bindungen. Am Tag, an dem der letzte Förder-Euro zurückgezahlt ist, ist der soziale Effekt dieser Wohnungen weg. Hier wächst also jedes Jahr der Bedarf, obwohl ja längst auch wieder neue Sozialwohnungen gebaut werden. „Sozialwohnungen“, verstanden als bezahlbare Wohnungen für kleine Einkommen, fehlen uns dringend! Etwa seit dem Mauerfall sind die armutsgefährdeten Haushalte Berlins um 80.000 gewachsen – und von den regulierten und landeseigenen Wohnungen haben wir seitdem mehr als die Hälfte verloren! Frühere Nischen auf dem Berliner Wohnungsmarkt, etwa unsanierte Altbauten, sind längst in das Geschäft mit der Gentrifizierung integriert; hier war die Mietenexplosion der letzten Jahre am extremsten.
Es werden inzwischen wieder geförderte Wohnungen in Berlin gebaut …
… ja, es sind jedoch viel zu wenige für einen spürbaren Effekt. Und der „soziale Wohnungsbau“ bleibt, was er leider schon früher war: ein Förderprogramm für die Immobilienwirtschaft mit einer hochsubventionierten „sozialen Anfangsetappe“. Das ist schlicht nicht nachhaltig, ungerecht und teuer. Was der letzte Senat allerdings geschafft hat, waren Käufe und Rückkäufe von Wohnungen. Auch wenn er dabei Marktpreise zahlen musste, können diese Wohnungen langfristig für soziale Zwecke verwendet werden, ohne permanent bezuschusst zu werden. Aber auch dafür ist weiterer politischer Wille nötig.
Wird die jetzige rot-grün-rote Koalition zu einer Lösung in der Wohnungspolitik kommen, die Haushalten mit niedrigeren Einkommen hilft?
Es ist der alten Koalition nicht gelungen, Position in dieser wichtigsten sozialen Frage Berlins zu beziehen, und es wird der neuen Koalition noch viel weniger gelingen. Das Fördersystem des sozialen Wohnungsbaus ist darauf ausgelegt, mit sehr, sehr viel Geld sowohl Mietende mit kleinem und mittlerem Einkommen zu einer Wohnung zu bringen, als auch Investor:innen gute Gewinne zu ermöglichen. In der letzten Legislaturperiode haben wir teilweise auch andere Ansätze gesehen, zum Beispiel in Kreuzberg. Mit Franziska Giffeys (SPD) rundem Tisch der Immobilienwirtschaft im Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen sind die Befürchtungen berechtigt, dass wir wieder da sind, wo wir 2011 mit unserem Protest angefangen haben.
Was sollten die Ziele sein, also welche Aspekte sollte eine Reform des sozialen Wohnungsbaus für Mieter:innen und Wohnungssuchende abdecken?
Eine Reform des sozialen Wohnungsbaus muss ihn ernst nehmen. Dieses Programm muss die Absicht verfolgen, kleine und mittlere Einkommen mit bezahlbaren Wohnungen zu versorgen und ihnen zu ihrem Menschenrecht auf eine würdige Unterkunft verhelfen. Das bedeutet, dass Investor:innen nur ihre tatsächlichen Ausgaben angerechnet bekommen; dass sich die Sozialmiete an den tatsächlichen Möglichkeiten der Mietenden orientiert und nicht am aktuellen Stand des Landeshaushaltes und der Fördergeldrückzahlung. Das bedeutet außerdem die Gewährleistung, dass eine Sozialwohnung soziale Sicherheit bedeutet – und nicht, in einer tickenden Zeitbombe zu wohnen, bei der am Förderende die Mieten explodieren. Das klingt alles selbstverständlich; all das sind jedoch Probleme, die die bisherigen Förderprogramme haben! Und was noch dramatischer ist: Das sind Probleme, auf deren Behebung sich die Koalition nicht einigen konnte.
Ursprünglich war der soziale Wohnungsbau für breite Schichten der Bevölkerung gedacht. Heute ist er allenfalls ein Nischensegment, das möglicherweise Segregation und Stigmatisierung der Mieter:innen verstärkt. Was muss sich institutionell ändern?
Ich denke nicht, dass es stigmatisierend ist, in einer Sozialwohnung zu wohnen, im Gegenteil wird ein Wohnberechtigungsschein und der geglückte Einzug in eine belegungsgebundene Wohnung doch eher als ein Glück betrachtet, inmitten des Mietenwahnsinns noch ein Stück Sozialstaat gefunden zu haben. Haupttreiber des Auseinanderziehens von Arm und Reich sind vielmehr die explodierenden Mieten und das Marktversagen im frei finanzierten Bereich. Dort muss sich institutionell etwas ändern. Der private Wohnungsmarkt ist kein Teil der Lösung der Wohnungsnot; er muss zurückgedrängt und seine Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt werden, wo es nur geht.
Wie geht es den Mieter:innen aktuell im Bestand der circa 95.000 Sozialwohnungen in Berlin?
Der Förderabbau, auslaufende Darlehen und in den letzten Jahren vor allem auch vorzeitige Auslösungen sorgen dafür, dass man sich als Sozialmieter:in wie in einem Countdown fühlt, bis die Mietrakete startet. Die Förderverträge garantieren Profite, völlig unabhängig vom Zustand der Wohnungen. Bei uns am Kottbusser Tor sind die Häuser seit Jahren in skandalösem Zustand, insbesondere die allwinterlichen Heizungsausfälle sind unglaublich. Jetzt sind wir in der Übergangsphase in das Landeseigentum – die Verantwortung, sich um kaputte Bäder und andere Schäden zu kümmern, versickert im Bermudadreieck aus Hausverwaltung, Deutsche Wohnen und Howoge. Abgesehen vom Zustand der Häuser: Alles wird davon bestimmt, dass die Förderung ausläuft und von einem Tag auf den anderen die Miete um etliche Euro pro Quadratmeter in die Höhe springen kann. Eine Studie der Humboldt-Universität hat gezeigt, dass die Hälfte der Sozialmieter diesen Sprung nicht schaffen und ausziehen – nachdem über Jahrzehnte viele Fördermillionen in diese Häuser geflossen sind!
Welche neuen Konzepte für eine ganzheitliche soziale Ausrichtung von Akteur:innen im sozialen Wohnungsbau gibt es und welche Rolle spielt die im Bund vereinbarte Neue Wohngemeinnützigkeit hierbei?
Für eine langfristige Sicherheit muss man alle gewinnorientierten Akteur:innen aus der sozialen Wohnraumversorgung heraushalten. Dieser Gedanke verbindet die Neue Gemeinnützigkeit mit unserer Vorstellung eines „echten sozialen Wohnungsbaus“. Wir von der Sozialmieterinitiative Kotti & Co sind außerdem der Ansicht, dass nur sehr weitgehende Mieter:innenmitbestimmung davor schützt, dass die Bestände schlecht bewirtschaftet werden und soziale Destabilität entsteht. Denn so sollte es nicht weitergehen: völlig ineffektiv Fördermillionen versanden zu lassen, während gleichzeitig das eigentliche Ziel, gutes und bezahlbares Wohnen, verfehlt wird. Die „alte“ Wohnungsgemeinnützigkeit war die Sache sehr großer Akteure, die sehr große Kuchen gebacken haben. Das Problem, vor dem wir heute stehen, ist ebenfalls sehr groß. Wir denken darum, dass auch heute Lösungen entwickelt werden müssen, die für viele Menschen funktionieren und die im großen Maßstab dafür sorgen, dass breiten Schichten die Angst und die Ratlosigkeit genommen werden kann, keine Wohnung zu finden oder verdrängt zu werden. Ein Grundsatz der Gemeinnützigkeit muss sein: „Einmal gefördert, für immer gebunden“. Und genauso muss es auch für den sozialen Wohnungsbau sein.
Weiterlesen:
Andrej Holm, Ulrike Hamann und Sandy Kaltenborn: Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau, 3. überarbeitete Auflage. www.berlinerhefte.de
16.03.2022