Leitsätze:
a) Die durch die COVID-19-Pandemie bedingte Schließung eines Einzelhandelsgeschäfts führt nicht zu einem Mangel der Mietsache im Sinne von § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB. Dem Vermieter wird dadurch die vertraglich geschuldete Leistung zur Überlassung und Erhaltung der Mietsache in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand auch nicht ganz oder teilweise unmöglich.
b) Im Fall einer Geschäftsschließung, die auf einer hoheitlichen Maßnahme zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie beruht, kommt grundsätzlich ein Anspruch des Mieters von gewerblich genutzten Räumen auf Anpassung der Miete wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB in Betracht.
c) Bei der Prüfung, ob dem Mieter ein Festhalten an dem unveränderten Vertrag unzumutbar ist, verbietet sich eine pauschale Betrachtungsweise. Maßgeblich sind vielmehr sämtliche Umstände des Einzelfalls. Daher sind auch die finanziellen Vorteile zu berücksichtigen, die der Mieter aus staatlichen Leistungen zum Ausgleich der pandemiebedingten Nachteile erlangt hat.
BGH vom 12.1.2022 – XII ZR 8/21 –
Langfassung: www.bundesgerichtshof.de [PDF, 33 Seiten]
Es ging um eine Filiale des Textil-Discounters Kik, die Mitte März bis Mitte April 2020 aufgrund behördlicher Anordnung zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie („Lockdown“) schließen musste. Der Gewerbemieter hatte daraufhin die Mietzahlung eingestellt. Das OLG Dresden verurteilte ihn hingegen zur Zahlung von 50 % der Miete. Dem wollte der BGH nicht folgen. Die 50:50-Lösung sei zu pauschal. Er hob daher die Entscheidung der Vorinstanz auf und verwies die Sache zur erneuten Prüfung an das OLG Dresden zurück.
Zur Begründung führte der BGH aus:
Die auf einer Allgemeinverfügung beruhende Betriebsschließung gebe dem Mieter kein Recht zu einer Minderung der Miete nach § 536 Abs. 1 BGB. Voraussetzung hierfür wäre gewesen, dass die durch die gesetzgeberische Maßnahme bewirkte Gebrauchsbeschränkung unmittelbar mit der konkreten Beschaffenheit, dem Zustand oder der Lage des Mietobjekts in Zusammenhang stehe. Das sei aber hier nicht der Fall. Die behördlich angeordnete Geschäftsschließung knüpfe allein an die Nutzungsart und den sich daraus ergebenden Publikumsverkehr an, der die Gefahr einer verstärkten Verbreitung des SARS-
CoV-2-Virus begünstige und der aus Gründen des Infektionsschutzes untersagt werden sollte. Durch die Allgemeinverfügung werde jedoch weder dem Mieter die Nutzung der angemieteten Geschäftsräume im Übrigen noch dem Vermieter tatsächlich oder rechtlich die Überlassung der Mieträumlichkeiten verboten. Das Mietobjekt habe daher trotz der Schließungsanordnung weiterhin für den vereinbarten Mietzweck zur Verfügung gestanden. Dem Mieter von gewerblich genutzten Räumen könne jedoch im Fall einer solchen Geschäftsschließung grundsätzlich ein Anspruch auf Anpassung der Miete wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB zustehen.
Beim Lockdown im Frühjahr 2020 sei die sogenannte große Geschäftsgrundlage betroffen. Darunter verstehe man die Erwartung der vertragschließenden Parteien, dass sich die grundlegenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen eines Vertrags nicht ändern und die Sozialexistenz nicht erschüttert werde. Diese Erwartung wurde durch den Lockdown schwerwiegend gestört. Auch nach Artikel 240 § 7 EGBGB werde vermutet, dass sich ein Umstand im Sinne des § 313 Abs. 1 BGB, der zur Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert hat, wenn vermietete Grundstücke oder vermietete Räume, die keine Wohnräume sind, infolge staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie für den Betrieb des Mieters nicht oder nur mit erheblicher Einschränkung verwendbar seien.
Dies bedeute aber nicht, dass der Mieter stets eine Anpassung der Miete für den Zeitraum der Schließung verlangen könne. Ob dem Mieter ein Festhalten an dem unveränderten Vertrag unzumutbar sei, bedürfe auch in diesem Fall einer umfassenden Abwägung, bei der sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen seien. Eine pauschale Betrachtungsweise (50:50) werde den Anforderungen an dieses normative Tatbestandsmerkmal der Vorschrift nicht gerecht.
Es bedürfe vielmehr einer umfassenden und auf den Einzelfall bezogenen Abwägung, bei der zunächst von Bedeutung sei, welche Nachteile dem Mieter durch die Geschäftsschließung und deren Dauer entstanden seien. Diese werden bei einem gewerblichen Mieter primär in einem konkreten Umsatzrückgang für die Zeit der Schließung bestehen, wobei jedoch nur auf das konkrete Mietobjekt und nicht auf einen möglichen Konzernumsatz abzustellen sei. Zu berücksichtigen könne auch sein, welche Maßnahmen der Mieter ergriffen hat oder ergreifen konnte, um die drohenden Verluste während der Geschäftsschließung zu vermindern.
Da eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage aber nicht zu einer Überkompensierung der entstandenen Verluste führen dürfe, seien bei der Prüfung der Unzumutbarkeit grundsätzlich auch die finanziellen Vorteile zu berücksichtigen, die der Mieter aus staatlichen Leistungen zum Ausgleich der pandemiebedingten Nachteile erlangt habe. Dabei könnten auch Leistungen einer gegebenenfalls einstandspflichtigen Betriebsversicherung des Mieters zu berücksichtigen sein. Staatliche Unterstützungsmaßnahmen, die nur auf Basis eines Darlehens gewährt wurden, blieben hingegen bei der gebotenen Abwägung außer Betracht, weil der Mieter durch sie keine endgültige Kompensation der erlittenen Umsatzeinbußen erreiche.
Eine tatsächliche Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des Mieters sei im Übrigen nicht erforderlich. Schließlich seien bei der gebotenen Abwägung auch die Interessen des Vermieters in den Blick zu nehmen.
Das Oberlandesgericht habe nach der Zurückverweisung nunmehr zu prüfen, welche konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen die Geschäftsschließung in dem streitgegenständlichen Zeitraum für den Mieter hatte und ob diese Nachteile ein Ausmaß erreicht hätten, das eine Anpassung des Mietvertrags erforderlich mache.
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27.04.2022