In der Lehrter Straße 30 befindet sich der Nachbarschaftsladen B-Laden. Hier treffen sich seit 1990 Initiativen und wohnungspolitisch Aktive aus dem Moabiter Kiez und bieten Mieter:innen eine Anlaufstelle für Probleme. Wir haben mit Susanne Torka vom Träger des B-Ladens, dem Verein für eine billige Prachtstraße, über die Arbeit des Vereins und die Herausforderungen im Kiez gesprochen.
Die Lehrter Straße in Moabit hat eine bewegte Geschichte hinter sich: Im 19. Jahrhundert befanden sich hier das Zellengefängnis und ein großes Militärgelände und einzelne Wohnhäuser mit Dienstwohnungen für Eisenbahner:innen und Gefängniswärter:innen. Ab 1890 wurden neue Wohnhäuser gebaut, unter anderem von Offiziersfamilien aus Weinbaugebieten. Handwerker:innen und Dienstpersonal wohnten in kleinen Hinterhauswohnungen. Die Straße liegt zwischen Bahnanlagen und dem Militärgelände mit einem Gericht und einem Gefängnis. Bis zur Wiedervereinigung verfielen die Häuser, insbesondere, weil die östliche Straßenseite für die Autobahn Westtangende komplett abgerissen werden sollte. Das änderte sich erst ab Anfang der 1980er Jahre. Ab Mitte der 1990er Jahre wurden die Mietshäuser mit öffentlichen Mitteln saniert. Heute haben sich hier – unweit des Hauptbahnhofs und in einer zunehmend attraktiven Lage – Firmen, neue Büros und neue Eigentums- und Mietwohnungen sowie Co-Living-Apartments angesiedelt. Die bekannte Folge dieser Entwicklung: steigende Mieten und Verdrängung.
Das Vereinsmotto: „eine billige Prachtstraße“
Inmitten dieses dynamischen Umfelds hält der Verein für eine billige Prachtstraße seit mehr als 30 Jahren die Stellung. Den ungewöhnlichen Namen des Vereins dachte sich 1988 die „Kiezmutter“ der Lehrter Straße, Klara Franke, aus. Genervt von der stagnierenden Stadtentwicklungspolitik der achtziger Jahre, träumte sie von einer Lehrter Straße im Stil der Vorkriegszeit – mit „Kneipen und Geschäften, aber bezahlbaren Mieten“ – und gründete den Verein für eine billige Prachtstraße. „Das ist bis heute unser Motto: Die Innenstadt muss auch für Menschen mit geringeren Einkommen bezahlbar bleiben“, erzählt Susanne, die seit mehr als 40 Jahren in der Lehrter Straße wohnt und sich seit 1985 für ihren Kiez engagiert. Bis heute sind sie und Jürgen im Verein als Ansprechpartner:innen für die Bewohner:innen aktiv. „Ich sehe mich als Verbindung zwischen Bezirk und Nachbarschaft“, sagt sie.
Ein Verein, ein Betroffenenrat und der B-Laden
Susanne und die anderen Mitglieder des Vereins für eine billige Prachtstraße setzen sich für bezahlbaren Wohnraum ein, mischen sich in die Stadtentwicklung ein, machen Druck. Für diese wichtige Arbeit kam das im Rahmen der bezirklichen Sanierung gewählte Gremium Betroffenenrat Lehrter Straße, eine Vertretung von Mieter:innen und Gewerbetreibenden, gerade recht. Er tagt immer noch einmal im Monat im B-Laden. Dieser Nachbarschaftsladen ist nicht nur Ort für die Mitgliederversammlungen, sondern auch Treffpunkt für Selbsthilfegruppen aus der Nachbarschaft und all jene, die sich mit der Kiezentwicklung auseinandersetzen wollen. Mal geht es hier nur um einen lockeren Austausch, mal um die gezielte Einmischung in die Stadtplanung auf Bezirksebene. Montags und donnerstags leisten Anwohner:innen im „Offenen Büro“ Nachbarschaftshilfe.
Arbeitsgruppen engagieren sich für die wichtigen Themen – mit Erfolg
Herausforderungen gab es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viele: der Schwund bezahlbaren Wohnraums, enorme Mietsteigerungen, Abriss und Leerstand. „Die reißen die letzten bezahlbaren Häuser in Moabit ab“, sagt Susanne. Aber auch Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen sowie das ausgehöhlte Vorkaufsrecht sind ein Problem. Hinzu kommen Veränderungen im nachbarschaftlichen Miteinander. Die Zunahme an teuren Kurzzeitmieten in Co-Living-Spaces beeinflusst das Gemeinschaftsgefühl im Kiez stark.
Um sich fokussiert mit einzelnen Themen auseinandersetzen und aktiv Einfluss auf die Bezirkspolitik nehmen zu können, entstehen immer wieder neue Arbeitsgruppen. Eine Bürgerinitiative gegen Abriss und Leerstand oder „Wem gehört Moabit?“ entsprangen der gemeinsamen Arbeit. In den vergangenen 30 Jahren konnte der Verein schon einige Erfolge erzielen. Einzelne Mietshäuser wurden bei der Durchsetzung des bezirklichen Vorkaufsrechts unterstützt. Auch beim großen Neubauprojekt der Groth-Gruppe konnte die zuständige Arbeitsgruppe Forderungen durchbringen: Immerhin 158 Sozialwohnungen hat sie dem Investor abringen können. Die ursprüngliche Forderung des Vereins hatte höher gelegen – ein Erfolg ist es dennoch.
Weiterhin unerschrocken im Einsatz
Viele Dinge müssen jahrelang erstritten werden und Susanne befürchtet, dass die Verdrängung von Menschen mit geringeren Einkommen unmöglich aufzuhalten ist, wenn die Renditen in der Immobilienwirtschaft nicht endlich stark beschnitten werden. Doch auch wenn die Bürger:innenbeteiligung über die Jahre abgenommen hat und die Verwaltung schwerfälliger geworden ist, arbeiten Susanne und ihre Mitstreiter:innen immer noch mit viel Engagement daran, ein funktionierendes Wohnquartier zu schaffen – mit angemessenen Mieten, einer sozial ausgewogenen Stadtteilentwicklung und einer solidarischen Nachbarschaft.
20.06.2022