Am 1. Juni 1923 wurde das Mieterschutzgesetz beschlossen, das wesentlich mehr Sicherheit vor Kündigungen brachte. Überschattet wurde dieser bahnbrechende Fortschritt von einer Hyperinflation, die in jenem Jahr das Geld völlig wertlos machte. Als Reaktion darauf wurde die Hauszinssteuer eingeführt, mit der ab 1924 ein wegweisendes Wohnungsbauprogramm finanziert wurde.
Das 1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch machte keinen Unterschied, ob man eine Wohnung oder einen Esel mietete. Es ging im Grundsatz davon aus, dass Anbieter und Nachfrager einvernehmlich einen Mietvertrag aushandeln – ungeachtet der Tatsache, dass die Wohnung ein lebensnotwendiges Gut ist und die Vermieterseite die Bedingungen diktieren kann. Die Unzulänglichkeiten zeigten sich im Ersten Weltkrieg, als die Wohnungsnot ein katastrophales Ausmaß erreichte. Mit Verordnungen auf Länderebene wurden Mieterhöhungen und Kündigungen notdürftig eingeschränkt.
Nach dem Krieg erließ die nun demokratische Reichsregierung im Jahr 1922 das Reichsmietengesetz: Mieterhöhungen wurden gesetzlich an der „Friedensmiete“ von 1914 ausgerichtet.
Willkürliche Kündigungen waren aber immer noch an der Tagesordnung. Sicherheit bot erst das „Gesetz über Mieterschutz und Mieteinigungsämter“, das am 1. Juni 1923 vom Reichstag beschlossen wurde und am 1. Oktober in Kraft trat. Kündigungen und Räumungen waren nicht ohne wichtigen Grund erlaubt: erhebliche Belästigungen, Gefährdung der Mietsache durch unangemessenen Gebrauch, unbefugte Überlassung an Dritte, Zahlungsrückstände oder dringender Eigenbedarf kamen in Frage. In den meisten Fällen musste ein angemessener Ersatzwohnraum nachgewiesen werden.
Kündigungen konnten nur mit einer Aufhebungsklage vor einem Mietschöffengericht durchgesetzt werden. Diese Gerichte waren mit einem Amtsrichter und zwei Laienrichtern besetzt. Die Berliner Mieterorganisationen legten großen Wert auf die Besetzung der Laienrichterstellen. „Ein gut geschulter Mieterbeisitzer kann durch Hervorhebung der den Mieter günstigen Momente einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Rechtsprechung ausüben“, hieß es 1925 in der Zeitschrift „Mieterschutz“ des Mietervereins des Groß-Berliner Westens. Dieser Vorläuferverein des Berliner Mietervereins bewertete den Einsatz der Mieterschöffen bei der Umsetzung des Mieterschutzgesetzes euphorisch: „Diesen Kampf können wir als vollen Sieg buchen.“
Wertverlust schneller als der Druck neuer Geldscheine
Das Jahr 1923 war dann allerdings überschattet von einer galoppierenden Inflation, die schon im Vorjahr begonnen hatte. Die Reichsmark verlor in diesen Monaten vollständig ihren Wert. Die Reichsbank kam mit dem Drucken immer größerer Geldscheine nicht hinterher und erlaubte den Gemeinden, in eigener Regie Notgeld in Umlauf zu bringen. Berlin gab bis Oktober 1923 Notgeld im Wert von 11,7 Millionen Goldmark heraus. Für die Preise war der US-Dollar beziehungsweise die Goldmark (Vorkriegskurs 1 Dollar = 4,20 Goldmark) die Bezugsgröße. Der tagesaktuelle Umtauschkurs der „Papiermark“ hing in jedem Einzelhandelsgeschäft aus.
Jeden Monat erschienen offizielle Bekanntmachungen über die „neuen Mietszuschläge“, mit denen die Grundmiete und die einzelnen Betriebskostenarten beispielsweise im August 1923 um 2500 bis 40.000 Prozent erhöht wurden. Arbeiterhaushalte mussten mit dem bar ausgezahlten Lohn schnell einkaufen gehen, denn schon am nächsten Tag bekam man für das Geld weniger. Im Alltag handelte man auch mit Naturalien wie Eier und Butter als Zahlungsmittel.
Weil die Menschen sich immer weniger den Kauf von Lebensmitteln leisten konnten, kam es zu Plünderungen. In den Bezirken bildeten sich überparteiliche Kontrollausschüsse, die überwachten, dass Ladeninhaber zum festgesetzten Tageskurs verkauften und keine Ware zurückhielten, um sie später zu einem besseren Kurs verkaufen zu können. Auch die Mietervereine unterstützten diese Ausschüsse.
Zum Höhepunkt der Inflation kostete ein Pfund Butter 6 Billionen Mark. Am 15. November 1923 war ein US-Dollar 4,2 Billionen Mark wert. An diesem Tag wurde die Inflation mit einer Währungsumstellung beendet. Eine neue Rentenmark ersetzte eine Billion Papiermark. Die Bilanz: Sparvermögen hatten sich in Luft aufgelöst, während Sachwerte erhalten blieben. Die Immobilienbesitzer profitierten von der Geldentwertung besonders, denn auch Hypothekenbelastungen ließen sich spielend ablösen. Nach der Inflation waren alle Häuser schuldenfrei.
Hypothekenbelastungen ließen sich spielend ablösen
Die Reichsregierung, die nun den Wohnungsbau mit öffentlichen Mitteln ankurbeln wollte, reagierte und beschloss am 8. Dezember 1923 auf Vorschlag des Berliner Stadtbaurats Martin Wagner (SPD) die Hauszinssteuer. Als Ausgleich für die Inflationsvorteile mussten die Eigentümer:innen ab dem 1. April 1924 diese Steuer zahlen. In Preußen konnte sie bis zu 48 Prozent der Friedensmiete betragen. Allerdings hat das Gesetz nicht verhindert, dass die neue Belastung auf die Mieterinnen und Mieter abgewälzt wurde. Die Mieterorganisationen kritisierten außerdem, dass die Steuereinnahmen nicht zweckgebunden für den Wohnungsbau eingesetzt wurden. So nahm Berlin im Jahr 1925 insgesamt 222 Millionen Mark an Hauszinssteuern ein – das war ein Drittel des Hauszinssteueraufkommens im ganzen Land Preußen. Doch die preußische Regierung wies der Stadt davon nur 63 Millionen Mark für die Neubauförderung zu.
Das Mieterschutzgesetz war ursprünglich bis 1926 befristet, wurde aber mehrfach fortgeschrieben und überdauerte auch die Zeit des Nationalsozialismus. In der Bundesrepublik wurde es ab 1960 schrittweise aufgehoben. Damit konnten Vermieter in den betroffenen Orten wieder grundlos kündigen.
Das wurde weidlich ausgenutzt, um mit sogenannten Änderungskündigungen kräftige Mieterhöhungen durchzusetzen. Die Bundesregierung unter dem Kanzler Willy Brandt (SPD) hat diese Praxis 1972 mit dem Wohnraumkündigungsschutzgesetz beendet. Nachdem dieses Gesetz 1975 dauerhaftes Recht wurde, trat auch in West-Berlin das Mieterschutzgesetz von 1923 außer Kraft. Der Berliner Mieterverein hatte vergeblich für die Beibehaltung des alten Gesetzes gekämpft, denn es bot für die Altbauten einen besseren Kündigungsschutz als das neue.
Jens Sethmann
Wohnungsnot in den „goldenen“ Zwanzigern
1925 lebten in Berlin immer noch 71.000 Menschen in Kellerwohnungen. 117.000 Haushalte hatten überhaupt keine eigene Wohnung und lebten als Untermieter bei anderen Familien oder in Pensionen. Offiziell waren 75.000 Wohnungssuchende registriert. Mit dem großen Wohnungsbauprogramm wurden zwar jährlich mehr als 20.000 Wohnungen neu gebaut, doch Stadtbaurat Wagner bezifferte den Neubaubedarf auf jährlich 45.000 Wohnungen. Durch verstärkten Zuzug verschärfte sich die Lage noch: 1929 gab es 179.000 eingetragene Wohnungssuchende. Nach Wagners Berechnungen hätten nun 70.000 Wohnungen pro Jahr neu gebaut werden müssen. Doch in der Weltwirtschaftskrise wurde die Wohnungsbauförderung ab 1930 gekürzt, die Hauszinssteuereinnahmen wurden anderweitig verwendet.
js
02.09.2023