Barbara Steenbergen von der International Union of Tenants (IUT) ist unsere Mieterschützerin in der EU. Wir sprachen mit ihr darüber, welchen Einfluss die EU-Gesetzgebung auf die Mietverhältnisse in Berlin und ganz Europa hat, wie Interessenvertretung für eine soziale Wohnungspolitik funktioniert und wo sie trotz der ungleichen Kräfteverhältnisse die Stärken der Mietenbewegung sieht.
Was hat die EU mit der Höhe der Mieten in Berlin zu tun? Kaum ein Thema scheint so konkret lokal verortet wie der ganze Bereich Mieten und Wohnen. Mietspiegel sind Sache der Städte und Gemeinden, beim Miet- und Baurecht spielen die Länder aber vor allem die Bundesebene eine Rolle. Wie in vielen anderen Lebensbereichen wird die Bedeutung der übergeordneten Ebene, der EU, erst auf den zweiten Blick deutlich. Alle Gesetze, die in Brüssel entstehen, haben – mal mehr, mal weniger direkt – Einfluss auf den Alltag der Bürger:innen in den Mitgliedstaaten. Viele nationale Gesetze sind durch EU-Richtlinien beeinflusst. Entsprechend vielfältig und groß ist die Gruppe der Lobbyisten, die versuchen, Einfluss auf die Gesetzgebungsverfahren zu nehmen. Beim Thema Wohnen stehen dabei Vertreter:innen von privaten und sozialen Vermietern, Bauwirtschaft und Landbesitzende einem einzigen Stakeholder der Mieter:innen gegenüber: der International Union of Tenants (IUT), genauer gesagt, Barbara Steenbergen. „Es ist ein David-gegen-Goliath-Szenario, aber ich glaube immer noch an die Kraft der guten Argumente.“
Seit mehr als 20 Jahren engagiert sich die Politik- und Verwaltungswissenschaftlerin für den Mieterschutz, zunächst als Leiterin des Präsidialbüros des Deutschen Mieterbundes (DMB). 2007 wählte die Generalversammlung der IUT sie zur Leiterin des neu gegründeten Verbindungsbüros in Brüssel, das sie anschließend aufbaute und seit nunmehr 15 Jahren leitet. „Die Mitglieder der verschiedenen nationalen Mieter:innenorganisationen waren sich einig, dass es wichtig ist, jemanden in Brüssel zu haben, um auf EU-Ebene etwas zu bewegen“, sagt Steenbergen.
Ihre ersten Kontakte in Brüssel hat Steenbergen damals über die Gewerkschaften geknüpft. Gerade beim Thema bezahlbarer Wohnraum als Teil öffentlicher Daseinsvorsorge stehe man auf derselben Seite. Sehr viel mehr Verbündete gibt es auf EU-Ebene allerdings nicht, die Interessenvertreterin der Mietenden ist meist auf sich allein gestellt.
Wie sieht Lobbyarbeit auf EU-Ebene konkret aus?
„Wohnungs- und Energiepolitik sind in Brüssel sehr komplex“, sagt Barbara Steenbergen. Insgesamt sieben Generaldirektionen sind für das Thema zuständig: Energie, Umwelt, Regionalpolitik, Wettbewerb, Justiz und Verbraucher, Wirtschaft und Finanzen sowie Arbeit und Soziales. Anders als auf Bundesebene muss die IUT also nicht ein oder zwei Ministerien bearbeiten, sondern gleich sieben Ressorts.
Ein entscheidender Faktor ist die Arbeitsgeschwindigkeit. „Man muss sehr schnell sein“, sagt Steenbergen. Wenn der erste Parlamentsentwurf für ein Gesetz steht, werden die Stakeholder befragt, also alle betroffenen Interessengemeinschaften. Steenbergen bekommt dann oft 100-seitige Gesetzestexte auf Englisch oder Französisch und hat nur fünf Tage Zeit, um sich auf die Expertenanhörung am sechsten Tag vorzubereiten. Dafür muss sie den Kern der Gesetzesänderung schnell erkennen und direkt mit der Arbeit an Verbesserungen beginnen, insbesondere wenn die Regelungen den Mieter:inneninteressen entgegenstehen.
Obwohl Steenbergen aufgrund begrenzter Budgets hauptsächlich mit Trainees arbeitet und keine festen Mitarbeiter hat, kann sie auf ein breites Netzwerk von Expert:innen zurückgreifen, die der Mietenbewegung nahestehen. Zudem läuft die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Mieterbund und anderen nationalen Mieterorganisationen sehr gut.
Die Stärke der IUT: Geschlossenheit
In den verfügbaren Ressourcen liegt auch der große Unterschied zur Interessenvertretung der Vermieterlobby – der Wohnungswirschaft sowie der Bauindustrie. Mehrere große Verbände beschäftigen eine Vielzahl von Politikberater:innen und Referent:innen in ihren Brüsseler Vertretungen: „Wer über viel Geld verfügt und ganze Söldnerarmeen von Anwält:innen und Politikberater:innen auf europäische Institutionen loslässt, der hat auch dementsprechend viel Kraft“, sagt Steenbergen. Die Mieterschützerin hält das für bedenklich und weist auf die paradoxe Situation hin: „Wir bezahlen die Arbeit der Vermieterlobby mit unserer Miete – und zwar entgegen unseren eigenen Interessen.“
Die Stärke der Mietenbewegung sieht Steenbergen im Gegensatz dazu in ihrer Geschlossenheit. Die Gremien der IUT tagen regelmäßig, um politische Positionen zu bestimmen. Jede Entscheidung muss in den einzelnen Ländern abgestimmt werden. „Die IUT ist ein riesiger Tanker“, sagt Steenbergen. „Es dauert zwar, bis wir zu einer gemeinsamen Position kommen, aber wenn sie da ist, dann steht sie wie ein fest verwurzelter Baum.“ Die Wirtschaftslobby sei sich dagegen häufig nicht ganz einig. Beispielsweise gebe es oft Differenzen zwischen den vom Verband Haus und Grund vertretenen Kleinvermietenden, den großen Immobilienkonzernen, vertreten im Zentralen Immobilien Ausschuss (ZIA) und Housing Europe, dem Verband, der gleichzeitig auch die soziale Wohnungswirtschaft in Brüssel vertritt.
Die Karten werden alle fünf Jahre neu gemischt
Um Mehrheiten zu bekommen, müsse sie mit allen demokratischen Parteien reden, sagt Steenbergen. Mit den progressiven Parteien allein käme kein politischer Druck zustande. „Je größer die Mehrheiten sind, desto eher macht sich die EU-Kommission an ihre gesetzgeberische Arbeit.“ Dass es im EU-Parlament keinen Fraktionszwang gibt, erleichtert Steenbergens Arbeit manchmal. Eine Herausforderung bleibt die wechselnde politische Besetzung: „Ich muss ständig aufs Neue herausfinden, wer sich mit Wohnen und Energie beschäftigt, dadurch werden die Karten für mich permanent neu gemischt.“
Doch die Mühe lohnt sich: „Wir haben noch nie so viel erfolgreiche Wohnungspolitik gemacht, die auch in die Gesetzgebung eingeflossen ist, wie in den vergangenen fünf Jahren.“ Ein riesiger Erfolg sei zum Beispiel der Initiativreport „affordable housing for all“ (Leistbare Wohnungen für alle) gewesen, den das EU-Parlament 2021 eingebracht hat – ermöglicht durch Stimmenthaltungen der konservativen Fraktion EVP.
Auf der Agenda: Die EU-Gebäuderichtlinie
Die neue EU-Gebäuderichtlinie (EPBD) und die damit verbundenen Energieeffizienzrichtlinien für den Gebäudesektor sind derzeit Gegenstand von Trilog-Verhandlungen zwischen der EU-Kommission, dem EU-Rat und dem EU-Parlament. Der Gesetzesentwurf des EU-Parlaments, der seit dem Frühjahr vorliegt, sah ursprünglich verbindliche Mindeststandards für Energieleistung (Minimum Energy Performance Standards, MEPS) sowohl für den Neubau als auch für die Sanierung bestehender Gebäude in den EU-Mitgliedsstaaten vor.
Angesichts der Tatsache, dass der Gebäudesektor 30 bis 40 Prozent der Treibhausgasemissionen in der EU verursacht, sind die Klimaziele in diesem Bereich besonders ambitioniert. Um die Klimaziele zu erreichen, brauchte es laut Europaparlament und EU-Kommission eine Sanierungsverpflichtung für Eigentümer:innen – ein zentraler Ansatz in der EU Gebäuderichtlinie. Diese ist seit dem letzten Trilog Anfang Dezember jedoch vom Tisch. Die Mitgliedstaaten, vertreten im EU-Rat, haben sich durchgesetzt. Blockiert habe hier vor allem Deutschland, weiß Barbara Steenbergen. Der neue Kompromiss sieht in seinen Grundzügen so aus:
- Alle neuen Gebäude sollten ab 2030 emissionsfrei sein; neue Gebäude, die von der öffentlichen Hand genutzt werden oder ihr gehören, sollten ab 2028 emissionsfrei sein.
- Für Wohngebäude müssen die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen, die eine Verringerung des durchschnittlichen Primärenergieverbrauchs um mindestens 16 Prozent bis 2030 und um mindestens 20 bis 22 Prozent bis 2035 gewährleisten. Die Mitgliedstaaten können frei entscheiden, welche Gebäude sie anvisieren und welche Maßnahmen sie ergreifen wollen.
- Die Mitgliedstaaten müssen bis 2030 die 16 Prozent der Nichtwohngebäude mit dem schlechtesten Energieprofil und bis 2033 die 26 Prozent der Gebäude mit dem schlechtesten Energieprofil durch Mindestanforderungen an die Gesamtenergieeffizienz sanieren.
- Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass Mieter:innen gegen Verdrängung in Folge von unverhältnismäßigen Mieterhöhungen nach der Sanierung geschützt sind.
- Förder- und Finanzierungsmaßnahmen sollen vor allem auf schutzbedürftige Haushalte abzielen und gegen die Energiearmut von Haushalten wirken.
Sobald das Trilog-Verfahren abgeschlossen ist, müssen die EU-Mitgliedsstaaten die Gebäuderichtlinie in ordnungsrechtliche Vorgaben für Gebäudeeigentümer:innen und Bauträger umsetzen.
Das Ziel: „No Renovictions“ und mehr fürs Klima
In den meisten EU-Staaten führen Modernisierungen zu höheren Mieten – und damit auch zur Verdrängung von Mieter:innen. Deshalb setzt sich die IUT dafür ein, Mieter:innen vor überfordernden Mietpreissteigerungen zu schützen. Es geht darum, sogenannte „Renovictions“ zu verhindern: Mieter:innen dürfen nicht aufgrund von Mieterhöhungen nach energetischer Sanierung aus ihren Wohnungen verdrängt werden. Auch das EU-Parlament hat das Problem erkannt. Der Gesetzentwurf sah umfassende soziale Schutzmaßnahmen vor, wie beispielsweise eine Deckelung bei Mieterhöhungen.
„Wir haben die Europäische Kommission und das EU-Parlament auf unserer Seite“, sagt Steenbergen. Die Position des EU-Rates war jedoch ungewiss. Seit der letzten Verhandlung ist klar, dass Deutschland leider zu den Blockierern gehört. Seit dem Baugipfel des Bundeskanzlers und der Bundesbauministerin zur Erleichterung des Wohnungsbaus hält beispielsweise die Bundesregierung jedoch entgegen der Vereinbarungen im Koalitionsvertrag nicht mehr an ihren eigenen Zielen für den Gebäudesektor fest. Als einflussreicher Akteur ist die Bundesrepublik damit auch auf EU-Ebene für ein ambitioniertes und zugleich soziales Klimaschutzgesetz derzeit verloren.
Steenbergen ist dennoch optimistisch: „Von einigen Formulierungen werden wir uns verabschieden müssen, andere werden wir aber behalten. Zum ersten Mal überhaupt sieht die Gebäuderichtlinie zielgerichteten Mieter:innenschutz vor – das ist ein Quantensprung.“
Die Europawahl 2024 als Chance für Mieter:innenengagement
Zum Abschluss unseres Gesprächs richtet sie einen Wunsch an alle im BMV organisierten Mieter:innen: „Prüft die Parteien und ihre Kandidat:innen vor den Europawahlen auf Herz und Nieren: Was sind ihre Ziele? Haben sie eine ehrliche Bereitschaft, für Mieter:innenschutz einzutreten? Dokumentiert die Antworten, damit ich die Politiker:innen später darauf festnageln
kann. Mietenpolitik und bezahlbarer Wohnungsbau finden auch in Europa statt.“
Eine Beitrag von Moritz Lang und Franziska Schulte
Die IUT: Beteiligung über Grenzen hinweg
1926 schlossen sich die Mieterverbände der Schweiz, Österreichs und Deutschlands zusammen und gründeten in Zürich die IUT als gemeinsame Interessenvertretung von Mieter:innen. Mittlerweile hat sich der Schwerpunkt nach Skandinavien verlagert, der Hauptsitz liegt in Stockholm. Weltweit gehören der IUT 69 Mieter:innenorganisationen aus 49 Ländern an. Diese Organisationen variieren in Größe und Struktur, doch besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass stärker strukturierte Mieterorganisationen den weniger strukturierten Vereinen und Verbänden Unterstützung anbieten. Die politisch überparteiliche Nichtregierungsorganisation hat einen beratenden Status beim Wirtschafts- und Sozialrat der UNO und einen partizipativen Status beim Europarat in Straßburg, Frankreich. Mit ihrem Verbindungsbüro zur Europäischen Union nimmt sie die Interessenvertretung in Brüssel wahr.
17.12.2023