„Ach da wohnst du!“, bekommen die Bewohner der Lynarstraße 38-39 von neuen Bekannten oft zu hören. Viele kennen das auffällige Holzhaus vom Vorbeifahren mit der S-Bahn oder sie haben in der Presse davon gelesen. Das Besondere ist nicht nur die experimentelle Holzbauweise, sondern auch das gemeinschaftliche Zusammenleben.
Bruno findet die direkt vor seinem Kinderzimmer vorbeirauschenden ICEs und Güterzüge spannend. Auch die Eltern des Dreijährigen stört der Krach ebenso wenig wie der Blick auf die Lärmschutzwand. „In der Oranienstraße, wo wir vorher gewohnt haben, war es lauter“, sagen Norma Torrens und Heiko Ruddigkeit. Eigentlich wären sie gern in Kreuzberg geblieben, aber nach einem Jahr vergeblicher Wohnungssuche wurde es dann eben der Sprengelkiez im Wedding. „Wir haben sehr viel Glück gehabt, dass wir diese Wohnung bekommen haben“, sagt Norma Torrens. Von dem Projekt hatten sie über eine Architektin gehört.
Noch während der Bauphase gab es, ähnlich wie bei Baugruppen, Vorbereitungstreffen, auf denen sich die künftigen Bewohner kennenlernen und wo sich Partner für die Etage suchen konnten. Ein Vermittler hat diesen Prozess begleitet.
In der Lynarstraße sind die Etagen in sogenannte Wohn-Cluster aufgeteilt, wobei die Gruppen selber entscheiden konnten, wieviel Gemeinschaftsfläche und wieviel privaten Raum sie haben wollten. So ist jede Etage ein wenig anders aufgeteilt. Es gibt Studentenapartments, die ein Bad und eine kleine Pantry-Küche haben und außerdem eine riesige Wohnküche in der Mitte für alle, und es gibt Grundrisse, wo sich mehrere Wohnungen lediglich einen schmalen Flur teilen. So ist es auch bei Familie Ruddigkeit-Torrens. Der kleine Vorraum, in dem ein Schuhschrank steht, wird zusammen mit einer anderen Familie genutzt. „Man leiht sich gegenseitig schon mal was aus, tauscht Balkonpflanzen oder kocht für den anderen mit“, beschreibt Norma Torrens die nachbarschaftlichen Beziehungen.
Ein Manager für gemeinsame Aktivitäten
Ende 2018 sind sie in das Holzhaus eingezogen, mittlerweile sind sie zu viert. Mit ihrer 105 Quadratmeter großen Wohnung mit zwei Bädern, zwei Balkonen und einer großen Wohnküche sind sie rundum glücklich. Nur ganz am Anfang fühlten sie sich wegen des vielen Holzes – auch Decken und Wände sind aus Holz – ein wenig wie in einer Sauna. In ihr neues Wohnumfeld haben sie sich eingelebt. „Um ein nettes Café zu finden, läuft man zwar länger als in Kreuzberg, aber es gibt Spielplätze und weniger Touristen und Partyvolk als in Kreuzberg“, sagt die 34-Jährige. 8,50 Euro netto zahlt die Familie für den Quadratmeter Wohnfläche. Das ist angemessen, finden sie.
Knapp ein Jahr nach dem Einzug muss sich vieles noch finden. Die Lärmschutzwand zur S-Bahntrasse soll noch begrünt werden, und der Garten wird derzeit bepflanzt. Nach und nach entstehen immer mehr Ideen für gemeinsame Aktivitäten, unterstützt durch den „Community Manager“. Damit sich die Kinder im Haus kennenlernen, fand kurz nach dem Einzug ein Pizzabacken statt. Über alle Fragen des Zusammenlebens entscheiden die Bewohner. Die Wohnungsbaugenossenschaft Am Ostseeplatz hält sich im Hintergrund. Einmal im Monat ist Haustreffen, wo man – wie bei einer Wohnungseigentümerversammlung – darüber diskutiert, ob im Keller eine Waschküche oder ein Proberaum für Musiker eingerichtet wird. Einige Bewohner haben auch schon einen Flohmarkt organisiert, zu dem auch Anwohner kamen.
„Hier wohnen keine reichen Gentrifizierer“
Carola Schwarz* möchte die Kieznachbarn wissen lassen, dass hier nicht die „reichen Gentrifizierer in fette Eigentumswohnungen“ gezogen sind. Die Alleinerziehende musste sich nach einer Trennung auf Wohnungssuche begeben und stieß im Internet auf eine Anzeige, mit der Leute aus der Planungsgruppe nach Mitbewohnern für die Etage gesucht haben.
Die Mutter von zwei Kindern fand die Holzbauweise von Anfang an sympathisch. „Es ist ein angenehmes, warmes Raumklima, auch durch die Fußbodenheizung“, hat sie festgestellt. Vor allem aber hatte sie Lust auf eine Gemeinschaft, in der man sich umeinander kümmert und gegenseitig unterstützt. „Als Alleinerziehende bin ich auf ein soziales Netz angewiesen. Es ist praktisch, wenn mein Sohn bei Nachbarn ist, wenn ich mal länger arbeiten muss.“ Umgekehrt kann sie in ihrem Auto mal andere Kinder mitnehmen. Eine solche Entlastung im Alltag funktioniere nur über das Zusammenwohnen. Eine der besten Entscheidungen ihres Lebens sei es gewesen, in das Gemeinschaftswohnprojekt zu ziehen – auch wenn auf der Etage leider keine Kinder im Alter ihres Sohnes wohnen.
Die Hebamme lebt mit ihrer 18-jährigen Tochter und dem 8-jährigen Sohn auf 87 Quadratmetern – inklusive Gemeinschaftsfläche. Ihre Wohnungstüren seien fast immer offen, sagt sie. Auf dem gemeinsamen Flur wird öfter mal gemeinsam gegessen, und hier kann sie auch mit Besuch sitzen. Im Kiez fühlt sich Carola Schwarz mittlerweile wohl. Klar gehe es im Soldiner Kiez rauer zu als im „Prenzlauer-Berg-Büllerbü“, wo sie 20 Jahre lang gelebt hat. Aber sie mag die bunte Mischung. Die 48-Jährige findet: Es müsste in jedem Kiez ein solches Projekt geben.
Birgit Leiß
* Name der Redaktion bekannt
Preiswürdig und sozial vorbildlich
Das sechsgeschossige Haus mit den 98 Wohnungen ist eines der größten Holzhäuser Deutschlands und wurde Ende 2018 nach knapp einjähriger Bauzeit bezogen. Die Nachfrage war riesig – kein Wunder: Die Hälfte der Wohnungen wurde an Mieter mit Wohnberechtigungsschein für 6,50 Euro pro Quadratmeter netto kalt vergeben. Die anderen kosten 8 bis 9 Euro. Nur die Bewohner im obersten Geschoss zahlen 12 bis 13,50 Euro pro Quadratmeter. Die niedrigen Mieten sind möglich, weil 2,5 Millionen Euro Fördermittel aus dem Senatsprogramm „Experimenteller Geschosswohnungsbau“ im Rahmen des Sondervermögens Infrastruktur der wachsenden Stadt (SIWA) geflossen sind.
Die Wohnungsbaugenossenschaft Am Ostseeplatz konnte das Bauland zudem recht günstig erwerben. Die Gewerberäume wurden allesamt an soziale Einrichtungen vermietet, darunter eine Kita und die Berliner Obdachlosenhilfe mit einer Notübernachtung und einer Kiezkantine. Die Diakonie-Station Mitte betreibt im Erdgeschoss eine ambulant betreute WG für Menschen mit Demenz. Für ihr innovatives Wohnprojekt wurde die Wohnungsbaugenossenschaft Am Ostseeplatz von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Ende Oktober 2019 mit dem 1. Platz des Berliner Holzbaupreises in der Kategorie Neubau ausgezeichnet.
bl
Kontakt: www.am-ostseeplatz.de/
wohngemeinschaft-fuer-menschen-mit-demenz-in-der-lynarstrasse/
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