Es wird bunter an Deutschlands vier Wänden. Die schlichte Raufaser mit neutralem Weiß-Anstrich ist auf dem Rückzug. Stattdessen greift der Trendsetter wieder zu Farbe und gemusterter Tapete, um seine Räume zu gestalten. In der Wohnung bricht sich das eigene Wohn- und Lebensgefühl Bahn, und die Zimmerwände werden wieder zur Leinwand für die individuellen Vorlieben. Im Grunde ist die „weiße Phase“ nur ein Sonderfall in der Wohnhistorie, denn bunte Wandgestaltungen waren schon immer die vorherrschende Ausstattung – je betuchter die Bewohner, desto opulenter. Erst als die preiswerten Papiertapeten aus der Massenproduktion den Markt eroberten, konnten auch Haushalte mit „schmaler Brieftasche“ einen gewissen Luxus auf den eigenen Wänden aufbringen.
Die in den 1990er Jahren auftauchenden zartfarbig getönten Wände waren die ersten Vorboten des aktuellen Sinneswandels. Stundenlang wurde seinerzeit die Farbe per Hand mit einem Schwamm unregelmäßig auf die Wand aufgetupft, doch die Prozedur lohnte sich – die schönsten individuellen Schlieren entstanden. Ähnliches im Sinn hatten diejenigen, die die Tapete gleich ganz von den Wänden rissen und den rohen Untergrund sichtbar werden ließen: eine Wohnatmosphäre zu erschaffen, die individueller und lebendiger wirken sollte als das herrschende Einheitsweiß. Der eigene Geschmack kam wieder zum Vorschein. Im Grunde knüpfen diese Enthusiasten an die Erfahrungen früherer Zeiten an. In nahezu allen Epochen war die farbige Wandgestaltung ein wichtiges, wenn nicht sogar das bestimmende Raumelement. Pracht, Reichtum und Geschmack drückten sich zum großen Teil dadurch aus.
Zunächst schmückten die Monarchen ihre Wände vor allem mit großen Wandteppichen. Da diese äußerst teuer waren, nahmen die französischen Adligen des 15. Jahrhunderts ihre wertvollen Gobelins sogar bei Reisen von Schloss zu Schloss mit. Im Orient kamen die dazu vergleichsweise preiswerten Ledertapeten auf, die geprägt und teils vergoldet waren. Weitere Vorgänger der heutigen Papiertapete waren hochwertige Wandbekleidungen mit textilen Bespannungen und bemalten Leinwand- oder Wachstuchtapeten.
Entscheidende Impulse erhielt die Tapetenentwicklung im 16. Jahrhundert, als die Ostindischen Handelskompagnien aus China überaus prachtvolle, handgemalte Papiertapeten nach Europa brachten. Diese chinesischen Tapeten waren ein ausgesprochenes Luxusprodukt, das ein Vielfaches der schon teuren traditionellen Wandbespannungen kostete und deswegen lange Zeit nur dem Hochadel vorbehalten war. Schon bald begann man daraufhin in Europa mit der eigenen Anfertigung von Tapeten, in Deutschland 1638 in Worms und Frankfurt am Main.
Das Niveau der viel raffinierteren chinesischen Papiertapeten erreichten die Europäer allerdings zu keiner Zeit.
Die Wünsche für die Wandgestaltung waren zum Teil ausgesprochen anspruchsvoll: So gab König Karl I. von England 1634 dem Papiertapetenhersteller Jerome Lanyer den Auftrag, eine Tapete mit aufgeklebtem Staub aus gefärbter Wolle herzustellen – eine Vorgängerin der heutigen Velourstapete.
Die ersten europäischen Exemplare der Papiertapete waren anfangs nur Nebenprodukte der Papierherstellung und Druckkunst gewesen. Aus kleinen Bogen gefertigt, dienten sie ursprünglich zur Verzierung von Möbeln, Schachteln und Büchern. Auf der Wand mussten sie mühsam aneinandergeklebt werden, um eine größere Fläche zu bedecken. Die Tapetenproduktion steckte noch in ihren Anfängen, und so bedurfte es mitunter prominenter Beratung und Unterstützung, wenn man den eigenen vier Wänden ein anheimelndes Aussehen verschaffen wollte. Hilfesuchend schrieb Friedrich Schiller, den die Gestaltung seiner Jenaer Wohnung umtrieb, am 22. Januar 1796 an Johann Wolfgang von Goethe: „Darf ich Sie mit einem kleinen Auftrag belästigen? Ich wünsche 63 Ellen Tapete von schöner grüner Farbe und 62 Ellen Einfassung, welche ich ganz Ihrem Geschmack und Ihrer Farbentheorie überlasse.“ Goethe schickte daraufhin Muster aus Frankfurt am Main an den Dichterkollegen in Thüringen, da zu jener Zeit Tapeten und Bordüren dort nur schwer zu besorgen waren.
Den entscheidenden Entwicklungsschritt für die Papiertapetenherstellung brachte die Erfindung der Endlospapiermaschine im Jahre 1799. Die langen Papierrollen kamen für die Tapetenhersteller wie gerufen. Dreißig Jahre später setzte sich zudem nach und nach die Walzendruckmaschine durch, wodurch das Bedrucken von Papierbahnen vereinfacht wurde. Die ständig steigende Nachfrage nach Papiertapeten ließ zunächst einzelne Tapetenmanufakturen entstehen, später entwickelte sich eine regelrechte Tapetenindustrie. In ihr waren Mitte des 19. Jahrhunderts beispielsweise in Frankreich an die 33.000 Arbeiter in mehr als 140 Manufakturen beschäftigt. Ein trendbewusstes Bürgertum verlangte nach immer neuen Tapetendesigns.
Wie die Kleider- oder Möbelmode ist auch die Tapete ständigen Stilumbrüchen unterworfen. So kamen im überbordenden Barockzeitalter die Imitationen von Holzmaserungen allmählich aus der Mode, und die dunklen Wohnungen wurden mit floralen Mustern aufgehübscht. Naturalistische bunte Blumen, Vasen und Schnörkelwerk zierten im Rokoko die Wände, und zur Blütezeit der französischen Papiertapete prangten Arabesken, Draperien, Landschaften oder auch einfachere Muster in unübertroffener Qualität an den Wänden. Ständig drängten neue Entwürfe auf den Markt. In Paris reagierten die Entwerfer der Tapetenmuster, die sogenannten Dessinateure, auf jeden kleinsten Geschmackswandel, um ihre Kundschaft zu befriedigen. Ende des 18. Jahrhunderts brachte es der Pariser Tapetenmacher Jean-Baptiste Réveillon so weit, mit „richtigen“ Künstlern gleichgestellt zu werden.
Weitere Inspirationsquelle vieler Musterzeichner waren Ornamente, wobei jedes Land seine Favoriten hatte: pompejanische und etruskische Einflüsse in Deutschland, neogotische in England. Im Biedermeier liebte man Landschaftszimmer mit Panoramatapeten, die den Raum nach außen weiteten und so die aufkommende Naturbegeisterung und das vermeintlich „einfache“ Leben aufgriffen. Die Inneneinrichtung wurde Ausdruck eines bescheideneren, nicht in erster Linie auf Außenwirkung bedachten Lebensstils. Die dazugehörige Tapete passte sich an: Kleine Muster und romantische Motive aus der Natur waren en vogue.
Stilmix hat eine lange Tradition
Im Historismus des 19. Jahrhunderts nahm das Stilkarussell an Fahrt auf: Neorenaissance, Neoklassizismus, Neogotik, kolonialer Exotismus – es gab nichts, was es nicht gab. Ein Zeitgenosse mokierte sich: „Die Wohnungen der Reichen haben sich in Kuriositätenkabinette verwandelt: Antikes, Gotisches sowie Renaissance und Louis XIII., alles erscheint durcheinander gewürfelt.“ Ähnlich wie heute war Stilpluralismus angesagt, Farben und Muster wurden frei kombiniert.
Die Jugendstilepoche brachte wieder Beruhigung in die Stilvielfalt. Die neue Generation zu Beginn des 20. Jahrhunderts bevorzugte klares, aber floral geprägtes Design. Die Künstlervereinigungen „Werkbund“ und „Wiener Werkstätten“ beschritten schließlich den Weg zur neuen Sachlichkeit, Ornamente wurden in den 1920er Jahren entschlackt. Noch weiter ging man im Funktionalismus, der Formen und Farben dem reinen Zweck unterordnete. Legendär waren die Bauhaus-Tapetenkollektion und die Eintontapete von Le Corbusier. Sie ist der Prototyp der heutigen Unitapete ohne Muster. Architekten der radikalen Moderne wie Ludwig Mies van der Rohe sprachen sich für rein weiße Wände aus.
Für den Architekten Bruno Taut waren kräftige Farben hingegen ein ganz wesentliches Gestaltungselement. Seine stilbildenden modernen Wohnsiedlungen, die er zwischen 1925 und 1931 vor allem für die gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft Gehag entwarf, hatten immer auch einen speziellen Farbplan, der sich von den Gegebenheiten vor Ort ableitete. „Das Vormittagslicht ist kühl, das Nachmittagslicht dagegen warm – Konsequenz: die Ostseiten erhalten grünen Anstrich, die Westseiten dunkelroten, beide jedoch in ungefähr gleichen Tonstärken“, erläuterte Taut 1930 in den Gehag-Nachrichten. Die ausgeklügelte Farbgebung bezog sich nicht nur auf die Außenfassaden, sondern auch auf die Treppenhäuser und die Wohnungen. Den Mietern wurden Zimmer mit Wänden in kräftigen Farbtönen übergeben – was für viele sicher gewöhnungsbedürftig war. Nach der Fertigstellung der „Wohnstadt Carl Legien“ in Prenzlauer Berg berichtete die Volkszeitung 1930: „Dem modernen Charakter des Äußeren der Siedlung entspricht auch die Inneneinrichtung der Wohnungen: Überall frohe Farben.“
Von Tauts ursprünglicher Innengestaltung ist heute nach mehreren Mietergenerationen natürlich kaum noch etwas erhalten. In der Hufeisensiedlung haben aber Katrin Lesser und Ben Buschfeld ein 1930 gebautes Reihenhaus auch innen originalgetreu wiederhergestellt. Unter Schichten von Tapeten und Wandfarben haben sie Reste des ersten Farbanstrichs entdeckt und daraufhin die alte Farbgebung an Wänden, Decken und Böden denkmalgerecht rekonstruiert. Die Zimmer von „Tautes Heim“ erstrahlen nun in hellblau, weiß, lindgrün, hellgrau und sattgelb.
Rot und blau gestreifte Heizkörper
Am konsequentesten war Taut in seinem eigenen, 1927 erbauten Wohnhaus in Dahlewitz. Das Farbkonzept ist bis ins kleinste Detail ausgefeilt. Die beige gestrichenen Wände und die rot gestrichene Decke des Wohnzimmers stehen im Kontrast zum Grün des davor liegenden Gartens. Andere Räume haben gelbe, blaue und rote Wände. Die Fensterrahmen sind schwarz, gelb, weiß und rot. Selbst die Heizkörper und Heizungsrohre sind kräftig hervorgehoben: Nach den Symbolfarben für heiß und kalt sind die zulaufenden Rohre rot und die rückführenden Leitungen blau gestrichen, während die Rippen der Heizkörper abwechselnd rot und blau sind.
Tapeten blieben in Deutschland bis nach dem Zweiten Weltkrieg ein eher kostspieliges Produkt, obwohl sie schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts industriell hergestellt wurden. Die ärmeren Schichten ließen ihre Wohnräume meist nach wie vor mit unmittelbar auf die Wände aufgebrachten Anstrichen verschönern. Durch Ornamente, die mit Schablonen oder Gummiwalzen erzeugt wurden, versuchte man aber oft, einen Tapetenlook zu imitieren. Da der Grundanstrich mit Kalk- oder Leimfarbe ausgeführt wurde, musste dieser jedoch vor jeder Renovierung mühsam wieder abgewaschen werden. Man kam auf die Idee, zwischen Farbe und Wand einen Papierbelag aufzukleben, den man häufiger überstreichen und zum Schluss samt Farbanstrich auch wieder leicht entfernen konnte.
Was kommt nach der Raufaser?
Nachdem die Firma Erfurt & Sohn bereits 1864 eine „Rauhfasertapete“ zur Schaufensterdekoration entwickelt hatte, etablierte sich diese in den 1920er Jahren als eine gute und universelle Wandgestaltung. Durch ihre Oberflächenstruktur überdeckt sie Unebenheiten der Wand, die sich vor allem in Altbauten häufig finden. Beliebt wurde die Raufaser vor allem, weil sie kostengünstig, leicht zu verarbeiten und robust ist. Zudem ist sie bei Verwendung entsprechender Kleister und Wandfarben gesundheitlich unbedenklich.
Trotz dieser unschlagbaren Qualitäten bekommt die Raufaser inzwischen wieder Konkurrenz durch die farbige, gemusterte Tapete. Eine Umfrage des Deutschen Tapeten-Instituts hat 2016 ergeben, dass 56 Prozent der Deutschen eine Tapete für die beste Möglichkeit halten, einen Raum individuell zu gestalten. Auch als Lifestyle-Symbol gewinnen die bunten Rollen an Bedeutung: Immerhin 44 Prozent halten sie für Ausdruck eines guten Geschmacks und wollen mit tapezierten Wänden bei ihren Gästen Eindruck machen. Aktuell stehen den Deutschen laut Tapeten-Institut 10.000 unterschiedliche Designs als „unerschöpfliche Inspirationsquelle für den Tapetenwechsel und Ausdruck von Individualität“ zur Verfügung.
Das Spektrum reicht vom traditionellen Streifenmuster über aufwendig geprägte Ornamente bis hin zur leuchtenden Tapete, in der eine versteckte Lichtquelle das Licht durch dünne, auf die Tapete kaschierte Kunststofffasern schickt. Über eine Fernbedienung lassen sich Farbton, Farbwechsel und unterschiedliche Geschwindigkeiten steuern. Neben diesen technischen Effekten legt die Tapetenindustrie auch wieder Wert auf Sinneseindrücke zum Anfassen. So werden auf die Oberflächen beispielsweise Strasssteine, Schiefergranulat oder Perlen aufgebracht, oder aber das Papier schimmert makellos wie einstmals die Seide.
Wer meint, sich dem Ganzen entziehen zu müssen und seine Wände lieber unverputzt lässt, hat die Rechnung ohne die Tapetenindustrie gemacht: Auch die rohe Wand im industriellen Loftcharme gibt es selbstverständlich schon als Tapetendesign.
Jens Sethmann
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- Ihr gutes Recht in Sachen Blümchentapete und bunte Farben
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www.berliner-mieterverein.de/recht/infoblaetter/info-11-schoenheitsreparaturen-und-renovierung-der-wohnung.htm
Farben wirken auf das Wohlbefinden
Extrem bunte Räume wie in Bruno Tauts Wohnhaus sind aus heutiger psychologischer Sicht nicht unbedingt zu empfehlen. Farben wirken sich nachweislich auf das Befinden aus. Farblose und einfarbige Räume sind eher reizarm. In sehr bunten Räumen fühlt man sich hingegen bedrückt und überfordert. Der Einfluss von Raumfarben auf die Hirnaktivität ist messbar. Blau und grün wirken beruhigend, während rot, orange und gelb besonders anregend sind. Für Räume, die möglichst wenig aufregend wirken sollen, zum Beispiel Schlafzimmer oder Räume, in denen man konzentriert arbeiten will, werden deshalb blaue und grüne Farbtöne empfohlen. Räume, in denen eher monotone Tätigkeiten verrichtet werden, kann man hingegen durch eine bunte Gestaltung auflockern.
Farben wirken auch emotional. Durch kulturelle Zuschreibungen haben sie Symbolkraft. So wird rot mit Hitze und Liebe assoziiert, ist aber auch als Farbe von Verboten und Warnsignalen im Bewusstsein verankert. Grün verbindet man mit Natur und Zulässigkeit, blau mit Wasser und Kälte. Schwarz steht für Trauer und helle Farben für Heiterkeit.
Und natürlich haben Farben auch physikalische Eigenschaften: Helle Farben reflektieren das Tageslicht stärker als dunkle. Hell gestrichene Räume wirken deshalb größer und offener als dunkle Räume, die eher Geborgenheit und Gemütlichkeit vermitteln – und im Extremfall auch wie eine düstere Höhle wirken.
js
Das Deutsche Tapetenmuseum in Kassel wartet auf einen Neubau für eine Dauerausstellung. Daher ist die umfangreiche Sammlung zurzeit nur online zu sehen:
Für die hilfreiche Unterstützung seines Fotografen bedankt sich das MieterMagazin bei: Museum Pankow, Heynstraße 8; Wohnen um 1900, Dunckerstraße 77; DDR Museum Berlin; Schloss Schönhausen
23.03.2017