Wer in einem Berliner Altbau im Vorderhaus und in der ersten Etage wohnt, kann sich – von den Räumlichkeiten her – glücklich schätzen. In der „Beletage“ sind die Decken höher, es gibt generell mehr Raum und Luft, alles ist großzügiger gestaltet als im Rest des Hauses. Darüber hinaus haben sich in diesen Wohnungen oft der ausgesprochen reichhaltige Deckenstuck und die aufwendig gearbeiteten Türen aus der Gründerzeit erhalten – eine ornamentale Ausstattung, die heute wieder vorbehaltlos für „schöner Wohnen“ steht.
Ursprünglich war der Unterschied bei der Innenausstattung zwischen den Wohnungen in der ersten Etage, die mit gutem Grund auch Beletage, also das „schöne Geschoss“, genannt wurde, und den übrigen Wohnungen eines Altbaus noch weitaus größer. Denn wohnte man in der Beletage, gehörte man zu den Gutsituierten, die repräsentative Räume für ihren gehobenen Lebensstil unterhalten konnten. Zwar bestimmte vor allem die sogenannte „gute Adresse“ das gesellschaftliche Ansehen des bürgerlichen Bewohners. Aber auch unter ein und demselben Dach gab es ein erhebliches Prestigegefälle zu beachten.
Jenseits der Beletage nahm der Wohnwert nach oben wie nach unten rapide ab. Die schlechtesten Wohnungen lagen im Keller und im Dachgeschoss. Die besten und größten Wohnungen befanden sich im ersten Obergeschoss, allenfalls noch im zweiten. In den darüber liegenden Etagen war der Gebrauchswert der Wohnung wegen des unbequemen Treppensteigens schon erheblich gemindert. Eine Wohnung im vierten Stock war an sogenannte bessere Leute gar nicht mehr zu vermieten. Findige Hausbesitzer zeichneten deshalb oberhalb von Souterrain und Parterre – beschönigende Ausdrücke für Keller beziehungsweise Tief- und Erdgeschoss – noch ein Hochparterre oder einen Zwischenstock aus, um auf diese Weise in der Etagenzählung möglichst nicht über ein drittes Stockwerk hinauszukommen.
Die Innenausstattung orientierte sich am jeweiligen Wohnwert der Etagen beziehungsweise der Gebäudeteile. Sowohl bei den Fußböden, Treppen, Öfen und Türen als auch bei den Fenstern und Tapeten wurden im Vorderhaus in der Regel bessere Materialien in dekorativerer Ausführung verwendet als im Hinterhaus. Entsprechend setzte sich die Abstufung im Vorderhaus noch einmal stockwerksweise fort.
Tapeten nach Status
Wie sich im Einzelnen die Qualität der Ausstattung unterschied, führt anschaulich ein handschriftlicher Vertrag von 1901 vor, der zwischen dem Bauherrn Emil Matthey und dem Baumeister Johannes Strache anlässlich der Herstellung des Hauses Skalitzer Straße 99 in Kreuzberg geschlossen wurde. Unter Punkt 15 wird festgehalten: „Sämtliche Deckenflächen werden geseift und mit getönter Leimfarbe gestrichen, der Stuck an den Decken ist mit Ölwachsfarbe im Tapetenton zu streichen. Im I. und II. Stock ist der Stuck teilweise echt zu vergolden.“ Punkt 16 präzisiert die Tapezierarbeiten: „Die Tapeten der Vorderzimmer und Berliner Zimmer der großen Wohnungen im I. und II. Stock sind im Werte von bis zu 2 Mark pro Rolle zu verwenden. Alle anderen Vorderzimmer und Berliner Zimmer erhalten Tapeten bis zu 1 Mark pro Rolle. Die Herrenzimmer im I. und II. Stock erhalten Tapeten im Werte von 1,25 Mark die Rolle, die Zimmer im Quergebäude und Seitenflügel Tapeten im Werte von bis zu 40 Pfennigen pro Rolle.“
Ein zeitgenössischer „Mietspiegel“ von 1908 listet die dementsprechend abgestuften Jahresmieten für Vorderhauswohnungen in Berlin auf. So kosten „hochherrschaftliche Wohnungen mit sieben Zimmern im Westen, Süden und Nordwesten (am Tiergarten) und auch in der inneren Stadt: Parterre 2300 bis 5500, I. Etage 2400 bis 6000, II. Etage 2400 bis 5500, III. Etage 2300 bis 5000, IV. Etage 2000 bis 3300 Mark“.
Auch von außen lässt sich die bevorzugte, herausgehobene erste Etage an den Fassaden ablesen. Das Stockwerk ist oft höher, entsprechend sind die Fenster größer. Die Berliner Bauordnung von 1887 legte die Mindesthöhe der Geschosse bei 2,50 Meter fest, zehn Jahre später wurde sie auf 2,80 Meter angehoben. Tatsächlich findet man die geforderte Mindestraumhöhe nur im Keller und in den oberen Stockwerken, die Geschosse dazwischen sind in der Regel höher. Bei der Beletage können es sogar mehr als vier Meter sein. Diese große Deckenhöhe lässt sich zum Einen auf die architektonischen Vorbilder zurückführen, an denen sich die Gründerzeitbauten orientierten: Die Paläste des Adels hatten ebenfalls ein höheres erstes Geschoss. Zum Anderen aber ist sie dem erhöhten Lichtbedarf in den unteren Etagen geschuldet. Reichhaltige Stuckverzierungen und opulente Fensterrahmungen, die zu den oberen Geschossen hin abnehmen, betonen den ersten Stock zusätzlich an der Außenfassade.
Das gemeinsame Wohnen in einer stockwerksweise geschichteten, sowie in Vorder- und Hinterhaus unterteilten Gesellschaft verschiedener sozialer Klassen hatte Berlins Baurat James Hobrecht 1868 in seiner Schrift „Über die öffentliche Gesundheitspflege“ als vorteilhaft angesehen. Dabei beschwört er „aus sittlichen und darum aus staatlichen Rücksichten“ die „Durchdringung“ anstelle der „Abschließung“. Im Gegensatz zur strengen Spaltung englischer Städte in äußerst homogene Arbeiter- und Villenviertel gingen in den Berliner Mietskasernen die Kinder aus den Kellerwohnungen über denselben Hausflur wie diejenigen des Rats oder Kaufmanns.
Wie weit allerdings die Lebensbedingungen der einzelnen Mieter in einem Berliner Mietshaus auseinanderklaffen konnten, veranschaulicht eine Berliner Statistik von 1870, die den Zusammenhang von Todesfällen und Stockwerkszugehörigkeit festhält. So lag die Sterblichkeit in der Beletage bei 21,6 pro 1000 Personen, in Kellerwohnungen bei 25,3 und bei Bewohnern über dem 3. Stock sogar bei 28,2.
Von der Beletage ins Dachgeschoss
Heute hat sich die Wertschätzung der einzelnen Etagen grundlegend verschoben. Wer etwas auf sich hält, zieht ins oberste Stockwerk, am besten mit Sonnenterrasse über den Dächern von Berlin. Ein ausgebautes Dachgeschoss ist sozusagen die Beletage des 21. Jahrhunderts. Dank Aufzug, Zentralheizung, Gasversorgung und Wärmedämmung kann man so mühelos der allzu großen Straßennähe entfliehen und muss zudem kein Füßetrappeln über sich ertragen. Auch die Wohnungen im Hinterhaus können je nach Wohnlage heute begehrter sein als jene im Vorderhaus – schon deswegen, weil sie abseits des Straßenlärms liegen.
Das Lebensgefühl in der Beletage um 1900 kann man indessen immer noch sehr anschaulich im Museum Pankow nachempfinden: Eine Dauerausstellung zum bürgerlichen Leben um die Jahrhundertwende befindet sich in der ehemaligen Wohnung des Stuhlrohr-Fabrikanten Fritz Heyn in Pankow. Im Inneren des Mietshauses ist die restaurierte Treppenhausbemalung zu sehen, und in der Beletage befinden sich zwei in Stuck und Bemalung vollständig erhaltene, bürgerliche Repräsentationsräume aus dieser Zeit.
Jens Sethmann
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MieterMagazin 12/13
Beletage des Pankower Stuhlrohrfabrikanten Fritz Heyn (um 1920, Original im Museum Pankow)
Foto: Sabine Münch
Zeitgenössische Einrichtung einer herrschaftlichen Gründerzeitwohnung in Prenzlauer Berg
Foto: Sabine Münch
Wohnung des Charlottenburger Textilfabrikanten Dr. Erich Goeritz um 1923
Foto: Waldemar Titzenthaler
Ausstellung einer im Stil von 1900 eingerichteten Beletage-Wohnung: Museum Pankow, Heynstraße 8, 13187 Berlin, Öffnungszeiten: Dienstag, Donnerstag, Samstag, Sonntag 10 bis 18 Uhr, Eintritt frei
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Repräsentativer Bürgerstolz
Der Begriff „Beletage“ leitet sich vom französischen „bel étage“ ab und bedeutet „schönes Geschoss“. Dabei handelte es sich ursprünglich um die Repräsentationsräume in adligen Wohnhäusern, die sich immer im ersten Stock befanden. Die antiken Kulturen kannten ein solches edles Obergeschoss noch nicht. Es wurde erst im Mittelalter als „piano nobile“ (italienisch für „vornehmes Geschoss“) in seiner bis heute bedeutsamen Form ausgeprägt. Die aus dem Französischen eingedeutschte Bezeichnung kam erst in der Gründerzeit auf. Nach dem Vorbild der Paläste und Schlösser des Adels wurde ein herausgehobenes erstes Stockwerk auch in gründerzeitlichen Villen sowie in repräsentativen städtischen Mietshäusern angelegt. Das aufkommende Bürgertum wollte sich ebenfalls entsprechend repräsentieren können.
js
11.04.2017