Immer mehr Berliner sind Tag und Nacht gesundheitsschädlichem Verkehrslärm ausgesetzt. Mal ungestört durchschlafen oder gar im Sommer mit offenem Fenster schlafen – davon können rund 300.000 Anwohner verkehrsbelasteter Straßen nur träumen. Lange Zeit wurde das Umweltproblem Nummer eins von der Politik nicht ernst genommen: In der Großstadt sei es nun mal laut, wem das nicht passe, könne ja aufs Land ziehen. Genau das haben zahlreiche Familien auch getan. Wer sich einen Umzug nicht leisten kann, bleibt dagegen in der Beusselstraße oder am Kurt-Schumacher-Damm wohnen. Doch mittlerweile hat der Senat, auch auf Druck der Europäischen Union, die Notbremse gezogen. Berlin muss leiser werden.
Nöldner/Ecke Karlshorster Straße hinterm Ostkreuz. Hier steht, von allen Seiten vom Verkehr umtost, ein architektonisch interessanter Neubau. Vor und hinter dem Haus verlaufen S-Bahn-Gleise, im Sekundentakt rattern die Züge vorbei. Autokolonnen wälzen sich vom Markgrafendamm kommend Richtung Friedrichshain direkt am Haus vorbei. Verstärkt wird der Krach noch durch einen Tunnel. In vielen Fenstern sieht man Schilder „Zu vermieten“ und im Vermietungsbüro im Erdgeschoss hängt eine lange Liste leerstehender Wohnungen. Doch auch der Hinweis auf zwei Balkone lockt offenbar niemanden hierher, sogar ein Großteil der Gewerberäume steht leer.
Ortswechsel. In der nach einigen Quellen lautesten Straße von ganz Berlin, der Leipziger Straße in Mitte, kann von Leerstand keine Rede sein. „Man gewöhnt sich daran, außerdem haben wir Schallschutzfenster“, meint der Hausmeister eines Hochhauses. Die Balkone seien allerdings überflüssig: „Die bezahlen wir mit der Miete mit, dabei kann man da nicht einmal Wäsche aufhängen.“ Beim Ring Deutscher Makler (RDM) hat man die Erfahrung gemacht, dass der Verkehrslärm für Wohnungssuchende zwar eine Rolle spielt. Im Ranking trete er aber deutlich hinter den Kriterien Wohnlage und Ausstattung zurück. „Wir haben auch bei Objekten, die im Straßenverzeichnis des Berliner Mietspiegels als stark verkehrsbelastet ausgewiesen sind, keine Vermietungsprobleme, sofern das Schlafzimmer hofseitig gelegen ist“, sagt der Vorsitzende des Landesverbands Berlin und Brandenburg, Thomas Wernicke.
Tempo 30 zeigt Wirkung
Für Bernd Wolff ist die günstige Miete das ausschlaggebende Argument. Seit 25 Jahren wohnt er in der Schildhornstraße in Steglitz, die ebenfalls zu den Top Ten der lauten Straßen zählt. „Ich würde sofort in eine ruhige Nebenstraße umziehen, wenn dort zum gleichen Preis etwas zu finden wäre“, meint der Mieter, der vor einigen Jahren vor Gericht ein Nachtfahrverbot für Lkw erstreiten wollte. Die Klage wurde abgeschmettert, doch immerhin gilt seit einigen Jahren Tempo 30 in der Schildhornstraße. Dank eines geschickt platzierten „Starenkastens“ halten sich die meisten Autofahrer auch dran. „Man merkt schon, dass langsamer gefahren wird, vor allem in den Abendstunden ist es etwas leiser“, sagt Wolff.
Doch wo wohnt es sich nun am lautesten in der Hauptstadt? Mal wird die Brückenstraße in Mitte genannt, ein anderes Mal die Karl-Marx-Allee oder die Beusselstraße. Beim Senat hält man nicht viel von einer Hitliste der lautesten Straßen. „Die Lautstärke kann man immer nur für bestimmte Abschnitte angeben, zudem kommt es darauf an, ob man die Tag- oder Nachtbelastung zugrunde legt“, sagt Horst Diekmann von der Senatsverwaltung für Umwelt. Auch die Entfernung des Hauses zur Fahrbahn sei ein wichtiger Faktor. Unstrittig ist, dass Verkehrswege wie die A 100 zwischen Kurfürstendamm und Hohenzollerndamm oder die Anschlussstelle Innsbrucker Platz die höchsten Dezibel-Werte aufweisen. Allgemein gilt ein dauerhafter Schallpegel ab 65 Dezibel als gesundheitsschädlich, nachts liegt die Grenze bei 55 Dezibel, wobei manche Lärmwirkungsforscher selbst diese Werte als zu hoch ansehen. Doch in der Friedrichsruher Straße in Halensee, die nahe der Stadtautobahn liegt, werden tagsüber 80 Dezibel gemessen, nachts sind es 72. Die Anwohner des Markgrafendamms in Friedrichshain sind am Tag 76 und nachts 68 Dezibel ausgesetzt. Die Brückenstraße in Mitte dagegen rangiert mittlerweile nicht mehr an der Spitze, obwohl dort die Häuser besonders dicht an der Fahrbahn stehen. Doch in der nach der Wende wichtigsten Ost-West-Verbindung ist das Verkehrsaufkommen gesunken. Zudem hat auch hier die Einführung von Tempo 30 den lärmgeplagten Anwohnern etwas mehr Ruhe beschert.
4000 Herzinfakte durch Verkehrslärm
Dass Verkehrlärm krank macht, ist keine neue Erkenntnis. Zahlreiche nationale und internationale Studien belegen diesen Zusammenhang. Und obwohl Lärm subjektiv ganz unterschiedlich empfunden wird, sind die gesundheitlichen Risiken weitgehend unabhängig davon festzustellen. „Der Körper reagiert mit der Ausschüttung von Stresshormonen, wodurch das Risiko für Bluthochdruck steigt, ganz gleich, ob man sich gestört fühlt oder nicht“, erklärt Wolfgang Babisch vom Umweltbundesamt. Der subjektive Faktor – beispielsweise ob man sich darüber aufregt – kommt höchstens verstärkend hinzu, so der Lärmforscher. Das heißt: Auch die Hartgesottenen, die der Krach vor ihrer Haustür völlig kalt lässt, tragen ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Der negative Einfluss auf das Immunsystem gilt ebenfalls als belegt. Beim Umweltbundesamt schätzt man, dass etwa 4000 Herzinfarkte pro Jahr in Deutschland auf den Verkehrslärm zurückzuführen sind. Auch das Argument, man gewöhne sich an den Krach, stimmt nicht – im Gegenteil. „Je länger man dem Lärm ausgesetzt ist, desto stärker wird das Herz-Kreislauf-System beeinträchtigt“, so Babisch.
Lärmkarten erfassen das gesamte Hauptstraßennetz
Umweltmediziner empfehlen, das Schlafzimmer – wenn irgend möglich – nach hinten zu verlegen. Ohrenstöpsel können helfen, dass man nicht bei jedem aufheulenden Motorrad aus dem Schlaf schreckt. Doch gefragt ist in erster Linie die Politik. Obwohl Umfragen zufolge zwei Drittel der Bundesbürger über Verkehrslärm klagen, hat man das Problem lange Zeit geradezu fatalistisch hingenommen. Es gab einige Modellversuche zu Tempo 30 oder Umleitungsempfehlungen für Lkw, die teils nicht die erhoffte Wirkung zeigten, teils aber auch stillschweigend ad acta gelegt wurden. Doch seit 2002 fordert die sogenannte Umgebungslärmrichtlinie der Europäischen Union die Mitgliedsstaaten zum Handeln auf. Die ständig steigende Lärmbelastung in den Ballungsräumen soll in einem ersten Schritt mit Lärmkarten erfasst werden. Auf dieser Grundlage sollen in einem zweiten Schritt Lärmminderungspläne konkrete Maßnahmen zur Reduzierung nennen. 2005 wurde die Richtlinie aus Brüssel in nationales Recht umgesetzt. In den Lärmkarten, die es in Berlin seit September 2007 gibt, ist für den Kraftfahrzeugverkehr das gesamte Hauptstraßennetz erfasst (insgesamt 1360 Kilometer). Außerdem wurde die Belastung durch das Straßenbahn- und S-Bahnnetz, überirdisch verlaufende U-Bahnen, Fernzüge, den Flughafen Tegel sowie Industriebetriebe und Kraftwerke ermittelt. Die Karten zeigen deutlich, dass der Kfz-Verkehr eindeutig der Hauptlärmverursacher im Stadtgebiet ist, gefolgt von Eisenbahn und Flugverkehr. Der Industrielärm ist dagegen vergleichsweise von geringer Bedeutung.
Für Mieter haben die Lärmkarten eine ganz praktische Bedeutung. Sie können hier die Lärmbelastung für ihr Haus sehen, was bei Mieterhöhungen eine Rolle spielen kann (hierzu auch unser Kasten unten auf dieser Seite). Beim Berliner Mieterverein weiß man die zusätzliche Überprüfungsmöglichkeit anhand der Lärmkarten zu schätzen. Der Leiter der Rechtsabteilung, Volker Hegemann: „Bisher war es häufig so, dass uns Mitglieder beteuert haben, in ihrem Haus sei es extrem laut, obwohl es laut Mietspiegel nicht an einer besonders lärmbelasteten Straße steht.“ Das betrifft beispielsweise die ersten Häuser in Nebenstraßen von Hauptverkehrsadern, die vom Lärm noch „angeschnitten“ werden. Die Lärmkarten, so Hegemann, zeigen die tatsächliche Belastung für eine bestimmte Adresse wesentlich genauer.
Geschwindigkeitslimits und Durchfahrtverbote
Im Sommer 2008 will Umweltsenatorin Katrin Lompscher (Linke) den Lärmminderungsplan vorlegen. Grundsätzlich gibt es nur zwei Wege, den Verkehrslärm einzudämmen. Die bei der Autofahrerlobby beliebten technischen Lösungen wie Flüsterasphalt oder Ausbesserung schadhafter Fahrbahnen sind teuer. Die Entwicklung geräuscharmer Motoren und Autoreifen steckt noch in den Kinderschuhen, wird vom Kunden allerdings auch nicht nachgefragt. Ansonsten bleibt nur die Möglichkeit, den Verkehr einzudämmen. Beim Senat setzt man mittlerweile auf Tempo-Limits und nächtliche Lkw-Durchfahrtsverbote. Weil Lärm in der Nacht besonders gefährlich für die Gesundheit ist, sind eine ganze Reihe weiterer Tempo-30-Zonen geplant. Sie werden das Lärmproblem der Stadt zwar nicht gänzlich lösen, heißt es bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Aber sie werden zur Folge haben, dass etwa 66.000 Berliner künftig etwas ruhiger schlafen können. Den Kritikern, die immer wieder behaupten, Tempo 30 sei reine Schikane, hält man gute Argumente entgegen. Rein rechnerisch, so Horst Diekmann von der Senatsumweltverwaltung, ist dadurch eine Senkung um drei Dezibel zu erzielen. Berücksichtigt man die Fahrbahnbeschaffenheit sowie die Fahrweise – bekanntlich hält sich nicht jeder an Limits – ist aber immer noch eine Reduzierung um ein bis zwei Dezibel realistisch.
Selbst die Umweltverbände erkennen an, dass sich beim Senat in punkto Verkehrsvermeidung etwas bewegt. „Der Ausbau der Fahrradwege und die Einführung von Tempo 30 sind sicher erfreuliche Schritte, die man natürlich auch im Zusammenhang mit der Feinstaubdebatte sehen muss“, sagt der Sprecher des Verkehrsclub Deutschland (VCD), Daniel Kluge.
Konterkariert würden diese Ansätze aber durch Maßnahmen wie den zweispurigen Ausbau der Bernauer Straße. Auch die umstrittene Verlängerung der Stadtautobahn in Treptow wird sicherlich nicht dazu beitragen, dass Berlin leiser wird.
Birgit Leiß
Wer in der Einflugschneise oder an einem Autobahnzubringer wohnt, kann nur in Ausnahmefällen deswegen Mietminderung geltend machen. Zwar gilt Lärm als Wohnungsmangel, ganz gleich, ob der Vermieter dafür verantwortlich ist oder nicht. Trotzdem berechtigt Verkehrslärm – anders als Baustellenkrach oder Nachbarschaftslärm – in der Regel nicht zur Mietminderung. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass innerstädtischer Verkehrslärm als allgemeines Lebensrisiko anzusehen ist. Wer an eine Hauptverkehrsstraße oder in die Nähe eines Flughafens zieht, muss den Krach hinnehmen. Etwas anderes gilt unter Umständen, wenn die Lärmquelle erst nach dem Einzug des Mieters entstanden ist, etwa durch den Neubau einer Bahnstrecke oder durch den vierspurigen Ausbau einer Straße. Dann entspricht die Wohnung nicht mehr dem mietvertraglich vereinbarten Zustand und der Mieter kann die Miete kürzen. Nur in diesen Fällen besteht auch ein Anspruch auf Schallschutzfenster. Bezahlen muss dies die Kommune oder auch der Investor. Beispielsweise musste die Deutsche Bahn beim Wiederaufbau der Anhalter Bahn den Anwohnern in Lichterfelde Schallschutzfenster einbauen.
Die beeinträchtigte Wohnqualität wirkt sich aber in anderer Art und Weise mietsenkend aus, nämlich bei der Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete. Verkehrslärm gilt im Mietspiegel als sogenanntes wohnwertminderndes Merkmal, somit muss bei jeder Mieterhöhung geprüft werden, ob ein Abschlag gerechtfertigt ist. Als Orientierungshilfe dient das Straßenverzeichnis zum Berliner Mietspiegel. Als stark verkehrsbelastet gelten Straßen oder Straßenabschnitte, in denen am Tag über 65 Dezibel oder nachts über 55 Dezibel gemessen werden. Sie sind mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet. Nach der Art des Lärms, also ob Straßenverkehr oder Fluglärm, wird dabei nicht differenziert. Allerdings sind diese Angaben sehr ungenau und weisen etliche Schwachstellen auf. So wird der Schienenverkehr gar nicht berücksichtigt. Entscheidende Faktoren wie Kopfsteinpflaster oder die Entfernung des Wohnhauses zur Fahrbahn spiegeln sich gar nicht wider. Erfasst wurde fast ausschließlich die Lärmbelastung in Straßen mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h – obwohl die Lärmbelastung in Tempo 30-Zonen nicht immer unter den zugrunde gelegten 65 beziehungsweise 55 Dezibel liegt. Adressscharfe Daten, so heißt es bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zur Begründung, seien nicht verfügbar gewesen. Bei der Erstellung des nächsten Mietspiegels soll sich das ändern, nun kann auf die Lärmkarten zurückgegriffen werden. Lärm soll künftig stärker gewürdigt werden, in welcher Form das geschieht, sei aber noch nicht klar.
bl
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MieterMagazin 5/08
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… und Schallschutzfenster helfen der Lärmbelastung nur wenig ab
Neben teuren technischen Lösungen (hier: Autobahntunnel) hilft nur die Reduzierung des Verkehrsaufkommens gegen Lärm
Neben teuren technischen Lösungen (hier: Lärmschutzwand) hilft nur die Reduzierung des Verkehrsaufkommens gegen Lärm
Die Lärmkarten sowie weitere Infos zur Lärmminderungsplanung sind im Internet einzusehen unter
www.berlin.de/sen/uvk/umwelt/
laerm/laermminderungsplanung-berlin/
Das Straßenverzeichnis zum Berliner Mietspiegel wurde im Amtsblatt Nr. 30 vom 11. Juli 2007 veröffentlicht. Bei der Online-Abfrage des Berliner Mietspiegels unter
www.stadtentwicklung.berlin.de
wird die Lärmbelastung automatisch berücksichtigt.
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