In den nächsten Wochen wird in ganz Deutschland wieder das Flaggenfieber ausbrechen. Da werden schwarz-rot-goldene Fahnen aus dem Fenster gehängt, Wimpel ans Auto geklemmt und der Balkon in den Nationalfarben geschmückt.
Was früher undenkbar war, gilt seit dem „Sommermärchen“ 2006, der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland, als Ausdruck von purer Freude am Fußball – völlig unverdächtig der Deutschtümelei. Unvergessen bleibt etwa der libanesischstämmige Neuköllner, der bei der Fußball-WM 2010 eine riesige, über vier Stockwerke reichende Deutschlandfahne an der Hausfassade anbrachte. Die Linksautonomen bliesen daraufhin zum „Lumpenkrieg“ – übrigens nicht der erste in der Berliner Geschichte.
Die Geschmäcker sind eben verschieden. Oder besser gesagt: Wer sich mit seiner Gesinnung derart weit aus dem Fenster lehnt, muss mit Widerstand rechnen. Denn egal, ob man die Regenbogenfahne, ein Anti-Atomkraft-Transparent oder einen Piratenwimpel aus dem Fenster hängt: Man zeigt damit öffentlich seine Meinung oder bekennt seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe.
Selbst in Zeiten von Twitter & Co ist das ein ausgesprochen einfaches und probates Mittel, seinen Protest zu bekunden. Bevorzugt natürlich im ersten oder zweiten Stock, weiter oben dürfte die Aufmerksamkeit der Passanten eher gering ausfallen.
Fahnen werden schon seit Jahrtausenden genutzt, um politische, religiöse, aber auch moralische Inhalte nach außen zu tragen. So gilt ein Stück Stoff mit Tiersymbol, das in Ägypten um 1200 v. Chr. verwendet wurde, als Vorläufer der ersten Fahne. Die römischen Legionen nutzten 800 Jahre später ein sogenanntes Vexillum als Feldzeichen ihrer Armee. Das viereckige Tuch zeigte Inschriften und bildliche Darstellungen. In Zeiten, wo die wenigsten Menschen lesen und schreiben konnten, waren Fahnen ideal, um über Bildsprache und einfache Symbolik die Zugehörigkeit sichtbar zu machen. Auf Schlachtfeldern dienten Fahnen, die an langen Stangen befestigt waren, als Orientierungspunkte. „Flagge zeigen“ heißt es noch heute, wenn es darum geht, seinen Standpunkt offenzulegen.
Hatten die ersten Fahnen also eher praktischen Nutzen, sind die modernen Nationalflaggen Symbole des Staates. Und die sind mit Respekt zu behandeln – das gilt für Diktaturen wie für Demokratien. Auf die deutsche Flagge zu urinieren oder sie zu verbrennen wird als „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“ mit mehrjährigen Freiheitsstrafen geahndet. Es gibt Beflaggungsverordnungen, in denen die Bundesländer akribisch festlegen, zu welchen Anlässen und in welcher Reihenfolge die verschiedenen Flaggen (Bund, Land, EU) gehisst werden müssen.
Gebremster Patriotismus
Das gilt natürlich nur für öffentliche Einrichtungen. Im privaten Bereich sind die Deutschen Fahnenmuffel – anders als beispielsweise die US-Amerikaner, die ihre Vorgärten flächendeckend mit „Stars & Stripes“ schmücken. Hierzulande hat man mit solcherart zur Schau gestelltem Patriotismus aus historischen Gründen immer noch Bauchschmerzen.
Während Deutschlandfahnen nach wie vor nur zur WM oder EM hervorgeholt werden und danach wieder im Keller verschwinden, gehören Transparente am Fenster oder Balkon von Wohnhäusern seit Jahrzehnten zur Protestkultur. Wobei es sich ganz klar um eine linke Domäne handelt. Man wird höchst selten Parolen wie „Weg mit dem Asylheim“ oder „Gegen das Recht auf Abtreibung“ sehen. Stattdessen protestierte man in den 1980ern gegen Nato-Doppelbeschluss und Startbahn-West. Und beim Golfkrieg Anfang der 1990er hängte man Laken mit „Kein Blut für Öl“ aus dem Fenster. Anti-Atomkraft-Parolen sind nie aus der Mode gekommen und gehören bis heute zu den meist gebräuchlichen Protestbekundungen.
Grundsätzlich ist das alles vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt – schließlich sind Mietshäuser keine Kasernen. Will heißen: Man darf das Fenster oder den Balkon seiner Mietwohnung als Protestbühne benutzen – die Fassade ist dagegen tabu. Allerdings: Wer volksverhetzende oder beleidigende Parolen deklamiert oder gar zu einer Straftat aufruft, muss mit dem Besuch der Staatsmacht rechnen – auch wenn der Vermieter das nicht beanstandet.
Legendär ist etwa der „Lappenkrieg“, der 1982 anlässlich des Reagan-Besuchs in Berlin ausbrach. Wir erinnern uns: Es war die Hoch-Zeit der Hausbesetzerbewegung, und der amerikanische Präsident war alles andere als beliebt in der linken Szene. Schon Wochen vor dem Besuch wurde auf dem Türkenmarkt billiger Stoff gekauft, mit Parolen wie „Reagan how up“ oder „Der reagt mir uff“ besprüht und an 15 besetzten Häusern in Kreuzberg aufgehängt. Die Polizei bildete daraufhin eine Sonderkommission und schritt, bewaffnet mit Leitern, Enterhaken und Farbeimern, zur Entfernung der Lappen beziehungsweise Übertünchung der Sprüche an den Hausmauern. Die amerikafeindlichen Parolen waren zum Teil direkt auf die Fassaden gesprüht, wie die „Häuserkampf-Chronologie“ von 1982 zu berichten weiß: „Hier trat eine Malerkolonne der Polizei in Aktion, verhedderte sich dabei allerdings in dem teilweise unübersichtlichen Angebot der Wandparolen.“ Das Katz-und-Maus-Spiel zog sich über mehrere Tage hin. Kaum war die Polizei weg, wurden die „Bullenmalwände“, wie sie schon bald genannt wurden, wieder neu besprüht. Es kam zu Festnahmen und Beschlagnahmungen der Transparente, denn die Polizei wertete Sprüche wie „Reagan und Spezialisten – Mörder und Faschisten“ als Beleidigung fremder Staatspersonen, ein Delikt, das auch ohne Strafantrag verfolgt werden kann. Ein Polizeisprecher, so schreibt die Häuserkampf-Chronologie, wollte die Parolen im Einzelnen gar nicht wiedergeben. „Da begebe ich mich ja selbst in den Bereich des Paragraphen 103, Absatz 1“, fürchtete er.
Heißer Juni 1982
Eine Vollversammlung der Hausbesetzer kam dagegen einmütig zur Auffassung, dass es unmöglich sei, die „Schreibtischmörder aus dem Bundestag und dem Weißen Haus zu beleidigen“. Jetzt sollten erst recht aus allen Häusern und Wohnungen Anti-Reagan-Transparente gehängt werden, und zwar „am Freitag Punkt 14 Uhr“. Auch die „friedliebenden Bürger dieser Stadt“ wurden aufgefordert, Transparente aus den Fenstern zu hängen. Insgesamt, so wird es in der Chronologie kolportiert, entfernte die Polizei in diesem „heißen“ Juni 1982 über 700 Mal Parolen und Transparente mit präsidialbeleidigendem Inhalt.
Zu einem zweiten Lappenkrieg kam es 1993 im Zusammenhang mit den Anti-Olympia-Protesten. Damals bewarb sich Berlin um die Austragung der Olympischen Spiele im Jahre 2000. Gegen die Geldverschwendung für das Groß-Spektakel regte sich heftiger Widerstand. Aus vielen Häusern hingen Transparente mit Sprüchen wie „Sydney 2000“, was bekunden sollte, dass man die Spiele lieber beim konkurrierenden australischen Bewerber sehen möchte. Demonstrationen, Brandanschläge und andere militante Aktionen hielten die Polizei monatelang in Atem. Als der Besuch der IOC-Prüfungskommission in Berlin anstand, wurde die Staatsmacht zunehmend gereizter. Am 5. April 1993 schließlich stürmte die Polizei mit 200 Beamten ein besetztes Haus in der Schreinerstraße in Friedrichshain, um ein einziges Anti-Olympia-Transparent zu entfernen. Die Aufschrift lautete „Olympiabonzen angreifen – 17. bis 21.4. Aktionstage“. Während die Polizei dies als Aufruf zur Gewalt wertete, meinten die Verantwortlichen, damit sei doch lediglich Anspucken oder das Werfen von Farbbeuteln gemeint.
Zurück zum Fußball und jener bizarren Auseinandersetzung zwischen dem „Kommando Kevin-Prince-Boateng Berlin-Ost“ und einer Neuköllner Familie. Als Neuköllner Fahnenkrieg sorgte die Sache bundesweit für Schlagzeilen. Youssef Bassal, der ein Elektrogeschäft in der Sonnenallee betreibt, hatte bei der WM 2010 eine riesige schwarz-rot-goldene Fahne an dem Haus angebracht – übrigens nicht ohne vorher Hausverwaltung und Ordnungsamt um Erlaubnis zu fragen. „Wir haben auch sämtliche Nachbarn gefragt, alle waren einverstanden“, erzählt er. Und das, obwohl die 22 Meter hohe Spezialanfertigung, die vom vierten Stock bis ins Erdgeschoss reichte, die Wohnungen ein wenig verdunkelte. Auf einem riesigen Fernseher vor dem Laden wurden sämtliche Spiele gezeigt. Der linksautonomen Szene gefiel das gar nicht. Dem fußballverrückten Bassal wurde Nationalismus unterstellt – libanesische Wurzeln hin oder her. Mehrfach wurde die Fahne abgerissen und in Brand gesetzt.
Nächtliche Fahnenwache
Schließlich bewachten Bassal und seine Freunde die Fahne sogar nachts. Schwarz vermummte Autonome, die sich „Kommando Kevin-Prince-Boateng Berlin-Ost“ nannten, hatten ein „Kopfgeld“ auf jeden erbeuteten deutschen „Lumpen“ ausgesetzt. Beute machten sie vor allem in den Migrantenvierteln, wo türkisch- und arabischstämmige Fußballfans mit der deutschen Nationalmannschaft mitfieberten. Youssef Bassal verstand die Welt nicht mehr: „Wieso darf ich nicht für die deutsche Mannschaft sein?“
Die Fahne hat er natürlich aufgehoben, dennoch wird er sie in diesem Juni zur Weltmeisterschaft in Brasilien wahrscheinlich nicht aufhängen. Gemeinsames Fußballgucken ist ebenfalls nicht geplant. „Die Spiele laufen ja überwiegend nachts, das könnte die Nachbarn stören“, meint er.
Wie dem auch sei – auch bei dieser WM ist mit einem Flaggenmeer zu rechnen. Es muss ja nicht immer schwarz-rot-gold sein. Eine Doppelbeflaggung liegt nicht nur bei Migranten voll im Trend.
Birgit Leiß
Hat man als Mieter überhaupt das Recht, Transparente mit politischen Parolen aus dem Fenster zu hängen? Droht eine Abmahnung oder gar eine Kündigung, wenn man die Fahne seines Lieblingsvereins am Balkon anbringt? Die Gerichte urteilen unterschiedlich: Es kommt auf den konkreten Einzelfall an. Zudem gibt es regionale Unterschiede: Die Gerichte in den Stadtstaaten zeigen sich bei Protestplakaten großzügiger als einige Flächenbundesländer. In jedem Fall gilt: Man muss sich auf das Wohnungsfenster oder die Innenseite des Balkons beschränken. An der Fassade darf nichts angebracht werden, schließlich gehört sie nicht zur Wohnung. Keinesfalls darf man in die Außenfassade ein Loch bohren, um beispielsweise die Halterung für eine Fahne anzubringen. Dadurch könnte die Bausubstanz beschädigt werden.
Bereits 1958 hatte das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass Mieter grundsätzlich berechtigt sind, ihre Meinung zu äußern – jedenfalls solange dadurch nicht der Hausfriede gestört wird. Im konkreten Fall wurde jedoch genau das moniert: Die Wahlplakate, die der Mieter an die Hauswand gehängt hatte, seien nicht zulässig, so das Gericht (Bundesverfassungsgericht vom 15. Januar 1958 – 1 BvR 184/54).
In puncto Wahlplakate urteilten andere Gerichte ebenfalls ablehnend. Die Anbringung eines Wahlplakats im Wohnungsfenster sei ein vertragswidriger Gebrauch der Mietsache (Landgericht Essen vom 22. Februar 1973 – 10 S 648/72).
Umstritten ist, inwieweit politische Statements oder Kritik am Vermieter erlaubt sind. So durfte ein Hamburger Mieter ein zwei Meter langes und 50 Zentimeter breites Schild über dem Balkonfenster hängen lassen, mit dem er gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland protestierte (Landgericht Hamburg vom 26. März 1985 – 16 S 215/84). Auch auf die Größe des Plakats kann es ankommen. Zwei „briefbogengroße Aushänge mit nicht ernst zu nehmendem Politvokabular“ der Hausbesetzerszene rechtfertigen keine fristlose Kündigung, befand man in Baden-Württemberg (Amtsgericht Waldkirch vom 25. Januar 1996 – 1 C 371/95). Allerdings ging es in diesem Fall um die Rechtmäßigkeit einer Kündigung. Ein Unterlassungsanspruch des Vermieters hätte möglicherweise bestanden.
Vor einigen Jahren sorgte ein skurriler Streit um eine Totenkopfflagge im Fenster einer Chemnitzer Mietwohnung bundesweit für Schlagzeilen. Der Vermieter verlangte nicht nur die Entfernung, sondern auch Schadensersatz. Begründung: Potenzielle Mietinteressenten seien abgeschreckt worden. In der ersten Instanz hatte der Vermieter Erfolg. Die Piratenflagge beeinträchtige die Ästhetik der Wohngegend, befand die Richterin. Die Interessen des Eigentümers seien in diesem Fall höher zu bewerten als das Persönlichkeitsrecht der Mieter. Das Landgericht schritt dagegen zum Ortstermin und stellte fest: Der vermeintlich martialische Totenkopf war ganz klar als Piratenflagge für Kinder erkenntlich: grinsender Schädel mit Augenklappe. Ihre Tochter, so erklärte die Mieterin, liebe den Film „Fluch der Karibik“. Die Klage wurde abgewiesen, die Piratenflagge durfte im Fenster hängen bleiben (Landgericht Chemnitz vom 21. Oktober 2011 – 6 S 27/11).
Keinen Spaß verstehen viele Gerichte dagegen bei Angriffen oder gar Beleidigungen gegen den Vermieter. So verlor ein Berliner Mieter vor einigen Jahren seine Wohnung, weil er mit einem Transparent an der Fassade die Praktiken seines Vermieters anprangerte: „Herr S., mit Ihrer Rückendeckung verkaufte die (…) dieses Haus 1999 an seinen Mietern vorbei für 1,5 Millionen DM an den Westberliner H-J S. Der lässt das Haus verfallen. Es steht fast leer. Er bietet es seit zwei Jahren auf dem Markt für ein Vielfaches an.“ Das Landgericht Berlin hielt die daraufhin erfolgte fristlose Kündigung für gerechtfertigt (Landgericht Berlin vom 28. August 2003 – 67 S 110/03). Dem Eigentümer werde unterstellt, dass er ein Spekulant sei. Zudem werde angedeutet, dass gewisse Machenschaften zum Verkauf des Hauses geführt haben. Solche Vorwürfe, so das Gericht, seien in hohem Maß ehrverletzend. Zudem handele es sich um unwahre Tatsachenbehauptungen. Dem Vermieter sei die Fortsetzung des Mietverhältnisses nicht zuzumuten.
Als erlaubte Meinungsäußerung wertete das Amtsgericht Mitte unlängst ein Plakat folgenden Inhalts: „Erst wenn die letzte Eigentumswohnung gebaut, der letzte Club abgerissen, der letzte Freiraum zerstört ist, werdet ihr feststellen, dass der Prenzlauer Berg das Kaff geworden ist, aus dem ihr einst geflohen seid.“ Die Mieterin, die dieses Plakat an ihrem Balkon angebracht hatte, war von Umwandlung bedroht. Die Richter sahen hier keine direkte Attacke auf den Vermieter, sondern eine Kritik an der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Die ergangene Abmahnung sei daher ungerechtfertigt (Amtsgericht Mitte vom 17. April 2013 – 21 C 469/12).
Einen Sieg für die Meinungsfreiheit konnten auch die Mieter der Calvinstraße 21 erringen – zumindest in erster Instanz. An einem Balkon hatten sie ein Transparent mit der Aufschrift „Wir lassen uns nicht luxussanieren“ angebracht. Eine solche Äußerung sei „weder provozierend noch misskreditierend“, entschied das Amtsgericht Mitte (Amtsgericht Mitte vom 26. Februar 2014 – 119 C 408/13). Die Formulierung enthalte keine unsachlichen, sittenwidrigen oder gar strafbaren Inhalte. „Luxussanierung“ sei kein Kampfbegriff, sondern ein in der Rechtsprechung üblicher Terminus. Die Netzplane, die der Vermieter anbringen ließ, um das Transparent zu verdecken, müsse entfernt werden, entschied das Gericht. Der Vermieter ging jedoch in Berufung, am 12. Juni ist die Verhandlung vor dem Landgericht.
Und nun zur Frage, die alle Fußballfans interessiert: Darf man sein Fenster mit der Fahne seiner Lieblingsmannschaft schmücken? Rechtsprechung gibt es dazu kaum, offenbar haben die meisten Vermieter damit kein Problem. Grundsätzlich gilt: Solange die Fahne nicht überdimensional ist und die Nachbarn stört, dürfte das kaum zu beanstanden sein. Das gehört zur freien Entfaltung der Persönlichkeit – ebenso übrigens wie die kletternden Weihnachtsmänner und Rentierschlitten, die um die Weihnachtszeit Fenster und Balkone bevölkern. Natürlich sollte man darauf achten, dass Teile der Dekoration nicht herunterfallen und Passanten verletzten können.
bl
Die Nazis betrieben einen regelrechten Kult um die Fahne. Die Hakenkreuzfahne war das zentrale Symbol des Nationalsozialismus. Sie wurde mit Liedern und Gedichten verehrt und sogar geweiht – ein Ritual, das einiges aussagt über die mystisch verbrämte Ideologie. Auch im Alltag spielte der Fahnenkult eine große Rolle. Bei der Hitlerjugend war sie bei jedem Anlass dabei, und bei Aufmärschen und Paraden waren viele Häuser beflaggt. Ziel war es, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken und eine gemeinsame Identität zu stiften.
Auch in der DDR war die Nationalfahne allgegenwärtig. An den beiden höchsten Feiertagen – dem Tag der Arbeit 1. Mai und dem Gründungstag der DDR 7. Oktober – war die Ost-Republik komplett beflaggt. In vielen Familien wurden Fahnen aufbewahrt, die zu diesem Anlass sorgsam gebügelt wurden, um sie anschließend aus dem Fenster zu hängen. Zwar gab es dazu gar keine gesetzliche Verpflichtung – eine „Zwangsbeflaggung“ für Wohnhäuser existierte nicht. Einige taten es aus Überzeugung, andere sozusagen in vorauseilendem Gehorsam. Denn wer nicht mitmachte, musste damit rechnen, am nächsten Tag im Betrieb angesprochen zu werden. Neben linientreuen Nachbarn gab es sogenannte Hausgemeinschaftsleiter (HGL), die Fahnenverweigerer an die staatlichen Stellen meldeten. Keine Fahne aus dem Fenster zu hängen, war also schon eine klare Haltung. Man konnte an diesen Tagen deutlich sehen, in welchen Wohngegenden besonders viele Parteigenossen wohnten und wo nicht. In den Neubaugebieten, wo übrigens zum Teil schon beim Bau an Halterungen für die Fahne gedacht worden war, sah man sehr viel mehr Fahnen als in den Altbauvierteln von Prenzlauer Berg oder Friedrichshain.
bl
MieterMagazin 6/14
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17.06.2018