Seit 100 Jahren wird in Deutschland seriell gebaut. Die Siedlungen am Rand der Städte sollten das Wohnen gesünder, bequemer, bezahlbarer machen – und einen überforderten Wohnungsmarkt entlasten. Ein Überblick über ihre Geschichte fasst Prinzipien und Erfahrungen zusammen, die man heute beim Bau neuer Stadtteile nutzen kann.
Wohnungen braucht das Land. Um den Bedarf zu decken, sollen jährlich 400.000 neu gebaut werden. Mit ergänzendem Wohnungsbau und der Revitalisierung vorhandener Bestände ist das nicht zu schaffen. Ganz neue Siedlungen müssen geplant werden, wie das ja auch in den zurückliegenden 100 Jahren immer wieder geschehen ist.
Der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) hat das Kompetenzzentrum Großsiedlungen beauftragt, Prinzipien und Erfahrungen aus diesem Siedlungsbau zusammenzufassen und sie so für künftige Planungen nutzbar zu machen.
Etwa die Ansprüche der 1920er Jahre mit ihrem Leitbild „Licht, Luft, Sonne“: Sie sollten der Enge der Innenstädte mit ihren Hinterhöfen eine grüne Wohnumgebung entgegensetzen: gesund, gemeinschaftsorientiert und für viele Schichten der Bevölkerung bezahlbar. Die Siedlungen der 1950er bis 1960er Jahren folgten diesem Vorbild. Auch ihr Ziel war die „aufgelockerte Stadtlandschaft“, aber was die Dimension des Bauens anging, waren sie mit ihren Vorgängern nicht vergleichbar. West wie Ost standen vor der gewaltigen Herausforderung, ein vom Krieg zerstörtes Land mit Wohnungen zu versorgen. Auch Millionen von Flüchtlingen brauchten ein neues Zuhause.
Urbanität im Blickfeld
„Urbanität durch Dichte“ lautete im Westen die Devise der 1970er Jahre, die die Bauintensität noch erhöhte. Allein 1974 entstanden in der Bundesrepublik mehr als 700.000 Wohnungen – nahezu das Doppelte des heutigen Vorhabens. In der DDR wurde „die Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem“ verkündet. Es war der Start für den Bau so gewaltiger Stadtteile wie Marzahn und Hellersdorf, heute die größte Neubausiedlung in Europa. Die aus der grünen Wiese gestampften „Wohnkomplexe“ waren zwar mit dem Nötigsten ausgestattet, was eine Versorgung vor Ort brauchte: Schulen und Kindereinrichtungen, Kaufhallen und Polikliniken. Aber der eintönigen unübersichtlichen Stadtlandschaft fehlte jede Urbanität. Dies ist auch einer der Hauptkritikpunkte am Siedlungsbau vergangener Jahrzehnte.
„Die Zusammenfassung zu den Großsiedlungen macht einen wesentlichen Konflikt deutlich“, so Reiner Wild vom Berliner Mieterverein (BMV), „nämlich den zwischen massenhafter serieller Fertigung und Vereinfachung – und der Vielfalt, die urbanes Leben braucht.“
Zu den Prinzipien für den Bau neuer Großsiedlungen, die von den Autoren der Schrift benannt werden, gehören deshalb neben einer verträglichen Einbindung in Stadt und Landschaft, der Schaffung einer sozialen Infrastruktur, vielfältiger Mobilität, maßvoller Dichte beim Bauen und bezahlbaren Mieten auch die Bauherrenvielfalt. Nicht nur große Wohnungsunternehmen und Genossenschaften, sondern beispielsweise auch Baugruppen sollten durch Parzellierung zum Zug kommen, so dass neben Miet- auch Eigentumswohnungen entstehen, die die Gebiete für viele Schichten attraktiv machen. Alle Bauherren, so eine Empfehlung, müssten frühzeitig in Planungsprozesse eingebunden werden.
Ob eine neue Siedlung damit ein lebendiger Kiez wird, darüber entschieden aber nicht nur Vermieter, sondern auch all jene, die die Stadt nutzen, so BMV-Geschäftsführer Reiner Wild: „Vielleicht sind noch nicht alle Probleme ganz konkret benannt, aber die Broschüre ist ein wichtiger Auftakt für eine Diskussion zum Bau neuer großer Siedlungen, die dringend geführt werden muss.“
Rosemarie Mieder
Heimat für viele
Etwa 4 Millionen Wohnungen, ein Fünftel des deutschen Mietwohnungsbestandes, befinden sich heute in jenen Siedlungen, deren Bau in den 1920er Jahren begonnen hat. Rund 8 Millionen Menschen haben dort ihre Heimat.
In Berlin entstanden in den 1920er Jahren die Hufeisensiedlung (1963 Wohnungen), Siemensstadt (1370 Wohnungen) und die Weiße Stadt (1268 Wohnungen). Seit 2009 gehören sie zum Weltkulturerbe.
Die Siedlung Neue Vahr in Bremen oder Eisenhüttenstadt in Brandenburg stehen beispielhaft für den Siedlungsbau der 1950er und 60er Jahre.
Die Gropiusstadt (heute 35.000 Einwohner) wurde bis 1975 fertiggestellt und steht für die städtebauliche Moderne West-Berlins.
Im Frühjahr 1975 begannen die Arbeiten am neuen Ost-Berliner Stadtbezirk Marzahn (55.000 Wohnungen geplant). Als letzte Großsiedlung entstand daneben Hellersdorf: Sie wurde 1986 abgeschlossen.
rm
Die Studie „Prinzipien für den Bau neuer Wohnsiedlungen“ kann beim Kompetenzzentrum Großsiedlungen bestellt werden:
Risaer Straße 2, 12627 Berlin
Tel. 99 40 12 42
www.gross-siedlungen.de
28.08.2017