Der Wohnungsbau der 20er Jahre hat Berlin den Ruf einer modernen Metropole eingebracht. Die Siedlungen des „Neuen Bauens“ waren damals mit ihrem gestalterischen und sozialen Anspruch etwas radikal Neues. In der Fachwelt werden sie durchgängig bis in die heutige Zeit hoch geschätzt, sechs Berliner Siedlungen stehen sogar auf dem Sprung ins UNESCO-Weltkulturerbe. Aber auch im Alltag hat sich gezeigt: Die Wohnanlagen aus der Zeit der Weimarer Republik bieten eine hohe Wohnqualität und sind den heutigen Anforderungen besser gewachsen, als vieles, was davor und danach gebaut worden ist.
Auch nach 80 Jahren ist die Moderne modern.
Einfache Formen, Luft zum Atmen: Die Waldsiedlung „Onkel Toms Hütte“ gestaltete der Architekt Bruno Taut
„Na, auch auf den Spuren von Taut?“, fragt eine Mieterin in der Heinz-Bartsch-Straße in Prenzlauer Berg einen jungen Mann, der sich die frisch sanierte Fassade ihres Hauses ansieht. Das zurückgesetzte Treppenhaus hebt sich in leuchtendem Blau und sattem Rot kräftig von der ansonsten weißen Fassade ab. Die langjährige Bewohnerin vermutet, einen Architekturstudenten vor sich zu haben. Seitdem die Wohnanlage denkmalgerecht wiederhergestellt ist, pilgern hier öfter ganze Seminargruppen samt Professor um den Block und bewundern die klaren Formen und die lebhaften Farben des 1927 von Bruno Taut gebauten Hauses. Der Mieterin gefällt die neu-alte Außenfassade auch, aber von den Farbkontrasten im Treppenhaus ist sie nicht so begeistert: „Wir müssen jetzt mit einer schwarzen Tür leben.“
Bruno Taut war der profilierteste Architekt des Neuen Bauens, einer Architekturbewegung, die radikal mit der hergebrachten Baugesinnung brach. Wohnungen sollten nicht länger um dunkle, enge Höfe gebaut werden, sondern in grüner Umgebung Licht, Luft und Sonne bekommen. Die Architektur sollte nicht durch verlogene Verzierungen leben, sondern durch ihre einfachen Formen wirken, gegen die graue Monotonie der Mietskasernen wurden kräftige Farben gesetzt. In der kurzen Blütezeit der Weimarer Republik war das Neue Bauen in Berlin die einflussreichste und die am meisten prägende Strömung, obwohl die Architekten aus dem Bauhaus-Umfeld in Berlin eine Minderheit waren. Neben Taut gehörten Walter Gropius, Hans Scharoun und Ludwig Mies van der Rohe zu den bekanntesten Architekten. Der SPD-Stadtbaurat Martin Wagner hatte sich zu ihrem gewichtigsten Fürsprecher in der Verwaltung gemacht. Zusammen prägten sie in wenigen Jahren das Bild des „Neuen Berlins“.
Viel weniger Aufsehen als die Vertreter des Neuen Bauens erregten die Traditionalisten, obwohl sie zur gleichen Zeit etwa genauso viel gebaut haben. Sie lehnten die radikale Schlichtheit ab und hielten an traditionellen Formen fest. Vor allem für die kleineren städtischen Wohnungsbaugesellschaften und die „Gagfah“ bauten sie geschlossene Blöcke statt offener Zeilen, favorisierten bodenständige Feldsteinsockel und ländliche Fensterläden und bevorzugten Sattel- statt Flachdächer – wobei die Dachneigung zu einem echten Politikum werden konnte: Als die Gagfah 1929 am Fischtal, direkt gegenüber der im neuen Stil geplanten Gehag-Siedlung „Onkel Toms Hütte“, von konservativeren Architekten eine Siedlung mit Steildächern bauen ließ, entbrannte daran der „Zehlendorfer Dächerstreit“. Das „Volksempfinden“ war eher auf Seiten der Traditionalisten, weil auf ein Haus nun mal ein Dach gehöre, und spottete über „Onkel Tauts Hütten“.
Die ausdrucksstarke Formensprache der Expressionisten ist in Berlin selten zu finden: die Siedlung Zeppelinstraße des Architekten Richard Ermisch
Neben Traditionalisten und Funktionalisten gab es noch die Expressionisten, die auf eine besonders ausdrucksstarke Formensprache setzten. Im Berliner Siedlungsbau war diese Fraktion – anders als etwa in Nord- und Westdeutschland – allerdings sehr klein. Richard Ermischs Wohnsiedlung an der Spandauer Zeppelinstraße ist mit ihren spitzen Erkern, Zickzackbändern und den gestaffelten Spitzhauben auf den Eckhäusern das eindrucksvollste Beispiel dieser Richtung. In der Praxis ist kein Stil wirklich in Reinform gebaut worden, die Grenzen waren oft fließend.
Egal ob traditionell oder fortschrittlich – einig waren sich alle, dass die alten Mietskasernen früher oder später abgerissen werden müssen. Bruno Taut klagte 1927 „jenes entsetzliche Gewirr von engen Höfen und Hinter- und Seitenhäusern, jene furchtbaren Schluchten, jene grauenhaften Rattenlöcher“ an. Der Publizist Werner Hegemann verfasste 1930 „Das steinerne Berlin“, ein leidenschaftliches Pamphlet gegen die „größte Mietskasernenstadt der Welt“, und der Journalist Karl Scheffler bedauerte 1931, dass die Mittel fehlten, „das Hässliche und Schädliche einfach zu beseitigen“.
Die Architekten glaubten an die menschenbildende Kraft der Architektur: die „Weiße Stadt“ von Otto Rudolf Salvisberg
Nach dem Ersten Weltkrieg fehlten in Berlin bis zu 130000 Wohnungen. Die Beseitigung des Wohnungsmangels war eine der wichtigsten Herausforderungen für die junge Republik. Hatte man im Kaiserreich den Wohnungsbau weitgehend privaten Bauspekulanten überlassen, so sah die Weimarer Republik die Wohnraumversorgung als staatliche Aufgabe an. Es wurde eine direkte öffentliche Wohnungsbauförderung aufgebaut, deren Erfolge in der schwierigen Anfangszeit allerdings gering waren: Von 1919 bis 1923 wurden nur 9000 Wohnungen neu gebaut. Die galoppierende Inflation brachte 1923 fast jegliche Bautätigkeit zum Erliegen. Nach der Währungsreform wurde dann 1924 die Hauszinssteuer eingeführt. Mit ihr sollte der bei der Inflation eingetretene Vermögensgewinn der Hausbesitzer abgeschöpft werden. Im Zuge der Geldentwertung hatten sich auch deren Hypotheken in Luft aufgelöst, der Grundbesitz war entschuldet. Die Hausbesitzer schlugen die Belastungen der Hauszinssteuer natürlich auf die Miete auf, so dass die Altbaumieten stark anstiegen.
Die höchsten Zuwendungen aus der Hauszinssteuer erhielt Berlin in den Jahren 1927 bis 1929 mit je rund 120 Millionen Mark. Die Gelder wurden von einer eigens gegründeten Wohnungsfürsorgegesellschaft verwaltet und an privatrechtlich organisierte, gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften vergeben. Die größeren von ihnen wurden von Gewerkschaften ins Leben gerufen, so die Gehag, die Heimag (heute Gewobag), die Degewo und die Gagfah.
Komfortabel und gesund
Über die Vergabe der Subventionen entschieden jedes Jahr die Stadtverordneten. Dabei wurden Richtlinien über die Größe und Ausstattung der Wohnungen aufgestellt. Die Wohnungen hatten alle ein Bad, Gasbadeöfen, eine Loggia oder einen Balkon, teilweise auch Zentralheizung und Einbaumöbel in der Küche. Jede Wohnung sollte gut besonnt sein und quergelüftet werden können, also Fenster an zwei gegenüberliegenden Seiten haben. Die Wohnungsgrößen wurden aus Kostengründen knapp gehalten. Stadtbaurat Martin Wagner setzte 1928 durch, dass die öffentlichen Mittel auf die Entwicklung von vier Großsiedlungen mit je über 1000 Kleinwohnungen konzentriert wurden: die Siedlung Siemensstadt der Architektenvereinigung „Der Ring“, die „Weiße Stadt“ in Reinickendorf von Otto Rudolf Salvisberg, Wilhelm Büning und Bruno Ahrends, die Friedrich-Ebert-Siedlung in Wedding von Bruno Taut und dem Architektenduo Mebes & Emmerich sowie die „Wohnstadt Carl Legien“ in Prenzlauer Berg von Bruno Taut und Franz Hillinger. Die Wohnungen hatten in aller Regel eineinhalb bis zweieinhalb Zimmer und waren durchschnittlich 54 Quadratmeter groß. Man wollte möglichst viele Wohnfunktionen hinausverlagern. Durch zentrale Waschhäuser konnten die Küchen kleiner ausfallen. Die damals moderne Boardinghaus-Idee, keine Wohnungs-, sondern nur Gemeinschaftsküchen einzurichten, konnte sich allerdings nicht durchsetzen. Doch die Architektenschaft wirkte unverdrossen auf eine „tiefgreifende Umgestaltung hergebrachter Wohnsitten“ hin, wie es 1931 in dem Architekturführer „Neues Bauen in Berlin“ hieß.
Die Architekten-Avantgarde glaubte fest an die menschenbildende Kraft der Architektur. Das Neue Bauen sollte den „neuen Menschen“ hervorbringen. Bei Bruno Taut waren die Wohnungen auch innen nach einem ausgeklügelten Farbschema gestrichen, das gewiss nicht nach jedermanns Geschmack war. Bei der „Wohnstadt Carl Legien“ gab es beispielsweise das Reglement, dass auf den Loggien nur Blumen einer bestimmten Farbe gepflanzt und keine Wäsche zum Trocknen aufgehängt werden durfte. Das einheitliche Gesamtbild sollte nicht gestört werden, um das Gemeinschaftsgefühl in der Siedlung zu festigen. Das hat natürlich nicht funktioniert. Schon 1930 beklagte sich Taut bei einem Besuch „seiner“ Onkel-Tom-Siedlung über „äußerst hässliche Zäune“ und „sehr schlechte Gardinen“. Diese stellten eine Gefahr dar, „die selbst der bestgebauten Siedlung ästhetisch den Hals brechen kann“, so Taut. „Die Gefahr meldet sich damit an, dass die Bewohner mit einem geringeren Schamgefühl als früher in die Veranden und Loggien ihrer Häuser allerhand Dinge hineinbringen, dass sie diese äußeren Teile ihrer Wohnungen mit sonderbaren Bildern und sonstigen Kleinigkeiten, unter anderem mit Geweihen schmücken.“ Heute mag man darüber lächeln. Die Zeit hat gezeigt, dass die Siedlungen Geweihe, Wagenräder und anderen Kitsch durchaus aushalten, vor weitergehenden Verunstaltungen allerdings geschützt werden müssen.
Von 1924 bis 1932 wurden in Berlin rund 145000 Wohnungen mit öffentlichen Mitteln errichtet. Die Wohnungsnot konnte dennoch nicht beseitigt werden. Die Einwohnerzahl Berlins wuchs weit über die Vier-Millionen-Marke, die Zahl der Wohnungssuchenden stieg bis 1929 sogar noch auf über 150000. Zudem konnten trotz aller Anstrengungen zur Kostensenkung die Mieten nicht so niedrig gehalten werden, dass die eigentliche Zielgruppe – Arbeiter und kleine Angestellte – in die neuen Siedlungen einziehen konnte. Nur besser bezahlte Facharbeiter, Angestellte und Beamte konnten sich eine moderne Neubauwohnung leisten. Vielen von ihnen wurde mit der 1929 einsetzenden Wirtschaftskrise die neue Wohnung wieder zu teuer. Zu dieser Zeit ging auch die später so genannte „Hauszinssteuerära“ zu Ende. Die Regierung Brüning zog 1931 die Hauszinssteuermittel per Notverordnung ein, der Wohnungsneubau erlitt einen völligen Einbruch.
Wohnungsbau als sozialpolitische Aufgabe
Die Menge der gebauten Wohnungen war zwar beeindruckend, wegweisend waren aber vor allem die vielen neuen Ansätze, die im Wohnungsbau erstmals experimentell angewandt wurden. Stadtbaurat Martin Wagner leitete eine Rationalisierung des Bauens in die Wege. Beim Bau der zusammen mit Bruno Taut geplanten Hufeisensiedlung (1925 bis 1931) wurden serienmäßig hergestellte Bauteile verwendet und erstmals Großmaschinen eingesetzt. Einen Schritt weiter ging Wagner bei der von ihm entworfenen und 1926 bis 1930 gebauten Splanemann-Siedlung in Friedrichsfelde: Sie gilt als erstes deutsches Plattenbauensemble. Die eingesparten Baukosten sollten einer besseren Ausstattung zugute kommen. Grundsätzlich neu war, dass der Stadtbaurat, die Architekten und die Baugesellschaften den Wohnungsbau als soziale und politische Aufgabe wahrgenommen haben und an einem Strang zogen.
Serienmäßig produzierte Bauteile, Einsatz von Großmaschinen: In der von Bruno Taut gebauten Hufeisensiedlung fand die Rationalisierung des Bauens statt
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde das Neue Bauen als „Kulturbolschewismus“ verfemt. Die bunten Fassaden galten als „entartet“ und wurden teilweise eintönig übertüncht. Die exponierten Vertreter wurden ins Exil gejagt und verstreuten sich in der ganzen Welt.
Ohne städtebaulichen Maßstab
Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte man beim Aufbau in der Bundesrepublik an das Neue Bauen an, in der DDR berief man sich ab Ende der 50er Jahre ebenfalls auf diese Tradition. Die Nachkriegsbauten blieben in der Qualität jedoch hüben wie drüben allzu oft hinter den Vorbildern zurück. So hatten in den 50er Jahren die Neubauwohnungen längst nicht alle einen Balkon und eine Möglichkeit zur Querlüftung. Dass darauf zunächst verzichtet wurde, ist allerdings verständlich – nach den Zerstörungen des Krieges sollte zunächst jeder ein Dach über dem Kopf bekommen. In den folgenden Jahrzehnten, als die erste Wohnungsnot gebannt war, eröffnete der bautechnische Fortschritt den Planern neue Möglichkeiten, die sie begeistert in alle Richtungen ausschöpften: Alles wurde zehnmal so groß, zehnmal so weit und zehnmal so hoch. Der städtebauliche Maßstab ging völlig verloren. Aus bauwirtschaftlichen Gründen wurden Wohnungen als Massenprodukt endlos aneinandergereiht und aufeinandergestapelt – im Westen ebenso wie im Osten.
Ausgeklügeltes Farbschema, strikte Reglements: In der „Wohnstadt Carl Legien“ wurde hier und da die Rechnung ohne die Bewohner gemacht
Die Siedlungen der 20er Jahre haben den Krieg verhältnismäßig unbeschadet überstanden. Anders als in den meisten anderen Städten erfuhren sie in Berlin in der Nachkriegszeit eine hohe Wertschätzung. Während in Hamburg die Siedlungen einfach als Altbauten, die den neuesten Normen nicht mehr entsprechen, angesehen wurden, und in Frankfurt am Main – neben Berlin die Stadt des Neuen Bauens – noch in den 70er Jahren Abrisse geplant waren, wurden in Berlin die Siedlungen schon in den 60ern unter Schutz gestellt. Probleme gab es aus denkmalpflegerischer Sicht natürlich dennoch: Die Wohnungsbaugesellschaften ersetzten den charakteristischen Glattputz oft durch einen pflegeleichteren Rauputz und gaben ihm einen anderen Anstrich. Von der ursprünglichen Fassadengestaltung war danach nicht mehr viel zu erkennen. Bei den Reihenhäusern schlug die Do-it-yourself-Welle durch: Die schön geteilten Doppelkastenfenster wurden vielfach durch größere Kunststofffenster ersetzt, die alten Holztüren gegen die neuesten Baumarktprodukte ausgewechselt, Zäune aufgestellt und Wintergärten angebaut. Durch beharrliches Wirken haben die Denkmalschutzbehörden sechs Siedlungen – die Gartenstadt Falkenberg in Bohnsdorf, die Siedlung am Schillerpark in Wedding, die Hufeisensiedlung in Britz, die „Wohnstadt Carl Legien“, die „Ring“-Siedlung in Siemensstadt und die „Weiße Stadt“ – wieder so weit in den Originalzustand versetzt, dass sie für die Aufnahme in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO vorgeschlagen werden.
Die Wohnungen erfreuen sich nach wie vor einer hohen Akzeptanz. Die hohe Wohnzufriedenheit, die die Mieter bei Befragungen äußern, zeigt, dass die Qualität der Wohnungen aus den 20er Jahren zeitlos ist. In den Grundrissen lassen sich die verschiedensten Wohnbedürfnisse unterbringen. Für mehrköpfige Familien sind die meisten Wohnungen nach heutigen Wohnansprüchen zwar zu klein. Sie eignen sich jedoch gut für die in Berlin heute vorherrschenden Ein- und Zweipersonenhaushalte.
Jens Sethmann
MieterMagazin: Sie haben sich in Ihrer Arbeit auf die Erhaltung von Wohnsiedlungen der 20er Jahre spezialisiert. Wie sind Sie dazu gekommen?
Brenne: Mein ehemaliger Partner Helge Pitz hat in den 70er Jahren in der Siedlung „Onkel Toms Hütte“ gewohnt. Zu der Zeit gab es dort einen großen Veränderungsdruck: Es wurden größere Fenster eingebaut und die Fassaden verändert. Da sagten wir uns, es kann doch nicht sein, dass die Qualität der Siedlung verloren geht. Wir haben dann auf eigene Faust eine Bestandsaufnahme gemacht und nachgeforscht, wie es ursprünglich aussah. Dabei haben wir auch noch den originalen Farbenplan von Bruno Taut gefunden. In der Folge haben wir Konzepte für die Erhaltung von vier Siedlungen erarbeitet: „Onkel Toms Hütte“, Britz, Siemensstadt und die Weiße Stadt. Die Instandsetzung begann Anfang der 80er Jahre. Nach der Wende habe ich mit meinem Büro im Osten sukzessive viele Siedlungen wiederentdeckt und an deren Erneuerung mitgewirkt.
MieterMagazin: Was ist das Besondere an diesen Siedlungen?
Brenne: Sechs Berliner Siedlungen sind ja gerade bei der UNESCO für die Weltkulturerbe-Liste angemeldet worden. Dann ist Berlin dort neben der Museumsinsel hoffentlich bald ein zweites Mal vertreten. Die Siedlungen haben bis heute eine hohe Wohnqualität. Es gibt keinen Leerstand. Sie bieten im Zusammenspiel mit dem Außenraum Licht, Luft und Sonne. Es gibt in Berlin eine Fülle dieser Bauten, das ist ein Gewinn für die Stadt.
MieterMagazin: Gilt das nur für das Neue Bauen oder auch für die in traditionelleren Formen gebauten Siedlungen dieser Zeit?
Brenne: Das ist mehr eine architektonische Frage. Das städtebauliche Konzept war weitgehend gleich. Das Neue Bauen hat eine frischere, leichtere Art. Bei den traditionelleren Siedlungen sind die Wohnungsgrundrisse nicht so durchgestaltet, sie haben aber oft sehr schöne, ruhige Gartenhöfe. Jede Siedlung hat ihre Eigenart, und diese Vielfalt muss man anerkennen.
MieterMagazin: Treten bei der Modernisierung Probleme auf?
Brenne: Viele denken, es sei damals konstruktiv leichtfertig gebaut worden. Das kann man so nicht behaupten. Man war in Berlin bautechnisch auf der Höhe der Zeit. Die alten Kastendoppelfenster braucht man nur zu überarbeiten. Wir brauchen auch keine Wärmedämmverkleidung an den Häusern. Die Wände sind 38 Zentimeter dick, das reicht allemal aus. Da ist es effektiver, die Heizung zu erneuern und die Dächer und Kellerdecken zu dämmen. Die mit der Zeit auftretenden Mängel sind relativ klein und gut handhabbar. Die Häuser sind ja traditionell „ein Stein, ein Kalk“ gebaut, Schäden lassen sich da konventionell instandsetzen. Das ist auch in der Pflege einfacher.
MieterMagazin: In der Nachkriegszeit haben sich viele Architekten auf das Neue Bauen berufen, blieben aber mit ihren Bauten oft weit dahinter zurück. Was ist da schief gelaufen?
Brenne: Das ist eine gute Frage. Es gab ja auch gute Ansätze, aber es ist in der Zeit viel gebaut worden, was für die Stadt nicht von Vorteil war. Vielleicht war der Druck auf die Architekten, den Massenbedarf zu decken, zu hoch. So entstanden leider viele einförmige, langweilige Gebäude.
Das Interview führte MieterMagazin-Autor Jens Sethmann
MieterMagazin 4/06
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Ausgeklügeltes Farbschema, strikte Reglements: In der „Wohnstadt Carl Legien“ wurde hier und da die Rechnung ohne die Bewohner gemacht
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Zum Weiterlesen:
Deutscher Werkbund Berlin (Hrg.), Winfried Brenne: Bruno Taut – Meister des farbigen Bauens in Berlin,
Verlagshaus Braun, Berlin 2005,
170 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 3-935455-82-8
Berliner Wohnquartiere – Ein Führer durch 70 Siedlungen,
Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2003,
380 Seiten, 35 Euro, ISBN3-496-01260-9
Tradition in Gefahr
Das gute Image des Neuen Bauens machte die Bestände auch für den Immobilienmarkt interessant. Bis Ende der 90er Jahre waren die Siedlungen meist konstant im Besitz der ursprünglichen Eigentümer. Mit dem Verkauf der Gehag begann das Land Berlin den Privatisierungsreigen. Die Hufeisensiedlung, die das Firmenlogo der Gehag ziert, ist mittlerweile zum guten Teil an Einzeleigentümer verkauft. Die GSW, in der 1936 die Bestände von acht städtischen Wohnungsbaugesellschaften zusammengefasst worden sind, hat das Land Berlin 2004 an eine US-Fondsgesellschaft verkauft. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte hat die Gagfah im vergangenen Jahr ebenso an „Heuschrecken“ verkauft wie die Beteiligungsgesellschaft der Gewerkschaften die Baubecon, der ein Großteil der ehemaligen Gehag-Siedlungen in Ost-Berlin zugesprochen worden sind. Die neuen Eigentümer bekennen sich zwar zur sozialen Tradition der 20er Jahre, doch in der Praxis tun sie sich mit der Einhaltung der Mieterschutzrechte sehr schwer.
js
Der Architekt Winfried Brenne betreibt seit über 30 Jahren die originalgetreue Restaurierung der 20er-Jahre-Siedlungen des Neuen Bauens
06.11.2017