Bezahlbare Wohnungen für untere Einkommensschichten, farbenfroh gestaltete Fassaden und das im noblen Berliner Südwesten – mit der Onkel-Tom-Siedlung machte sich der Architekt Bruno Taut von Anfang an nicht nur Freunde. Die Zehlendorfer Villenbesitzer waren wenig begeistert über den Zuzug von Proletariern, und konservative Kritiker schimpften über die Flachdächer, die eher nach „Arabien“ passen würden. Von seinen Bewohnern hingegen wird die Siedlung bis heute sehr geschätzt.
Dr. Jochem Sotschecks Eltern konnten sich damals eine Wohnung in dem Neubauviertel aussuchen. „Sie haben alles richtig gemacht“, findet er. Im Parterre, mit Garten und nahe zur U-Bahn sollte sie sein. 1931 zogen seine Eltern in die Zweieinhalbzimmerwohnung in der Argentinischen Allee. Ein Jahr später kam Jochem Sotscheck zur Welt. Bis heute lebt er in dieser Wohnung und dürfte damit der einzige Mieter aus dem Erstbezug sein. „Ich will hier auch nicht mehr weg“, sagt der 88-Jährige, während er in seinem Garten unter dem Apfelbaum steht. Verkehrslärm ist hier nicht zu hören. Er kann sich noch gut daran erinnern, wie sie als Kinder auf den Trockenboden des Hauses stiegen und die Blütenpracht bestaunten. „Damals standen hier Reihen voller Kirschbäume, im Frühling war alles in weiß getaucht. Und im Herbst leuchteten die roten Beeren der Eberesche.“
Eine luftige Siedlung im steinernen Berlin
„Die Idylle ist nicht mehr da“, sagt Barbara von Boroviczeny und meint damit nicht das Grün. Die 78-Jährige ist ebenfalls ein Urgestein der Siedlung, sie wurde während des Krieges hier geboren. Auch sie wohnt sehr gerne in der Siedlung im Bauhausstil. Aber es sei schon traurig, was aus dem sozialen Gedanken geworden ist, seit die Mietwohnungen nicht mehr in öffentlicher Hand sind.
Die Waldsiedlung Zehlendorf, wie sie offiziell heißt, wurde von 1926 bis 1931 nach Plänen der Architekten Bruno Taut, Hugo Häring und Otto Rudolf Salvisberg erbaut. Auftraggeberin war die Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft (Gehag). In einer Zeit großer Wohnungsnot im „Steinernen Berlin“ entwarf Taut, der große Architekt der Moderne, eine ausgesprochen grüne, luftige Siedlung, die quasi in die Waldlandschaft hineingebaut wurde. 1100 Mietwohnungen in dreigeschossigen Mehrfamilienhäusern entstanden, dazu 800 Reihenhäuschen im Eigentum. Der von den Nachbarn befürchtete Zuzug proletarischer Schichten blieb allerdings aus. Durch die gestiegenen Grundstückskosten waren die Mieten vergleichsweise hoch, so dass die Wohnungen vor allem von Familien des unteren Mittelstands bezogen wurden.
Zeitgleich mit dem Bau der Siedlung wurde auch der Fischtalpark angelegt, für die Anwohner bis heute eine Oase der Ruhe. Mit dem Aushub für die Neubauten wurde eine Rodelbahn im Wald gebaut. „Eine tolle Idee“, findet Jochem Sotscheck: „Für uns Steppkes war das damals ein Riesenspaß.“
Die Ausstattung der Wohnungen – ausschließlich Zweieinhalbzimmerwohnungen mit 60 bis 65 Quadratmetern – galt damals als Luxus: Alle hatten Heizung und Bad und konnten quergelüftet werden. Zudem gehörte zu jeder Wohnung ein Balkon oder ein Garten.
Auch die Infrastruktur stimmte. Die Verlängerung der U-Bahn-Linie wurde parallel betrieben. 1932 konnte der neue U-Bahnhof Onkel Toms Hütte eröffnet werden. Eine Besonderheit ist die im Bahnhof integrierte Ladenstraße, zu der einst sogar ein Kino gehörte. Das „Onkel-Tom-Kino“ wurde aber bereits 1968 geschlossen und beherbergt heute einen Lebensmittelmarkt.
Charakteristisch für die Siedlung sind die bunten Fassaden, wobei sich die Farbgebung von Taut an den Sonnenständen orientiert. Die Ostfassaden sind in Gelb- und Grüntönen gehalten, die Fassaden in Richtung Westen wurden in warmen braun- und bordeauxfarbenen Tönen gestrichen. Fenster und Türrahmen stehen in farbigem Wechselspiel mit der Fassade.
Das gefiel damals nicht jedem. „Papageiensiedlung“ sagten die Nationalsozialisten abschätzig. Auch die alteingesessenen Zehlendorfer rümpften die Nase. Sehr viel eher nach ihrem Geschmack war die dörflich anmutende sogenannte Versuchssiedlung Am Fischtalgrund, die auf der anderen Straßenseite fast zeitlich von der Gagfah gebaut wurde. Für die Architekten des Neuen Bauens war das Spitzdach Symbol einer rückwärtsgewandten Sehnsucht nach dörflicher Idylle. Die Gegner des flachen Daches wiederum fanden, dass dieser Baustil nicht in den hiesigen Kulturkreis, sondern eher nach Palästina gehöre. Der Streit ging als Zehlendorfer Dächerkrieg in die Geschichte ein.
„Ich mag diese Moderne“, bekennt Jochem Sotscheck. Der promovierte Ingenieur freut sich jeden Tag über diese „großartige Architektur“. „Da wurden keine langweiligen Klötze hingestellt, sondern intelligent gemachte Bauten.“ So verlaufen die Zeilenbauten zum Teil in geschwungener Form. Der Wohnkomfort ist aus heutiger Sicht eher bescheiden. „Kleine Fläche und extrem hellhörig“, fasst Barbara von Boroviczeny die Nachteile zusammen. Und dafür seien die Wohnungen mit rund 1000 Euro einfach zu teuer. Nur vereinzelt sind durch Zusammenlegung größere Maisonettewohnungen entstanden. Eine fünfköpfige Familie dürfte sich heutzutage wohl kaum mit 62 Quadratmetern zufrieden geben. „Für uns war das normal“, sagt Jochem Sotscheck, der sich sein Zuhause damals mit den Eltern und zwei Geschwistern teilte.
Viele Besitzerwechsel in den letzten 25 Jahren
Im Zweiten Weltkrieg wurden nur wenige Häuser beschädigt. Nach dem Krieg zogen viele US-amerikanische Soldaten in die Wohnungen. 1995 wurde die Siedlung unter Denkmalschutz gestellt. Drei Jahre später verkaufte der Berliner Senat die Gehag. Die Siedlung wanderte durch mehrere Hände, darunter US-amerikanische Hedgefonds, bis sie 2007 im Besitz der Deutschen Wohnen landete. Statt mit einem gemeinnützigen Vermieter haben es die Mieter seitdem mit einem börsennotierten, rein profitorientierten Unternehmen zu tun.
Der Zusammenhalt in der Siedlung sei verloren gegangen, klagt Barbara von Boroviczeny, die auch Bezirksleiterin beim Berliner Mieterverein ist: „Dabei fördert die günstige Wohnsituation eigentlich eine gute Nachbarschaft.“ Aber im Zusammenhang mit einer umstrittenen Modernisierung 2005 sind 60 Prozent der Altmieter ausgezogen. Die Fluktuation ist hoch. Als Zeichen der Trauer legt die Mieterkämpferin jedes Jahr an Bruno Tauts Geburtstag einen Kranz an seinem Denkmal in der Argentinischen Allee/Ecke Riemeisterstraße nieder.
Birgit Leiß
170 Prozesse
Die Modernisierung der Wohnanlage mit angekündigten Mieterhöhungen um mehr als 30 Prozent versetzte die Onkel-Tom-Siedlung 2005 in Aufruhr. Die Mieter wehrten sich vor allem gegen den Abbau ihrer Gasetagenheizungen. Etwa 170 Mieter wurden vom Eigentümer verklagt. Der Druck war so groß, dass etliche ältere Bewohner aufgaben. „Da gab es sehr traurige Geschichten, viele mussten ins Pflegeheim ziehen“, erzählt Barbara von Boroviczeny, die damals eine Mieterinitiative aufgebaut hat. „Seitdem geht es hier den Bach runter, viele der neu Zugezogenen bleiben nur vorübergehend“, so die Mieteraktivistin, die sich auch in der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ engagiert.
Anerkennen muss man jedoch, dass das umstrittene Unternehmen ihr „farbenfrohes Architekturjuwel“ – so die Homepage – denkmalgerecht saniert hat, im Gegensatz zu den Eigentümern der Einfamilienhäuser: Viele haben dort ihre Häuser durch neue Fenster und Türen verschandelt.
bl
www.papageiensiedlung.de/
27.11.2020