Der Volksentscheid über die Enteignung großer privater Wohnungskonzerne war ein voller Erfolg: Für die Initiative, die ihn in vielen Monaten Vorbereitung und Arbeit möglich gemacht hat – und für die direkte Demokratie in Berlin. Wie der Bürgerwille nun umgesetzt wird, hängt von politischen Entscheidern und Entscheidungen ab. Ein Blick auf die Praxis mit dem Instrument Volksentscheid in Berlin.
Als 2017 die Idee zu „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ geboren wurde, mag das der bis dahin radikalste Ansatz einer Initiative in der Hauptstadt gewesen sein. Unerfahren waren die Aktivistinnen und Aktivisten jedoch längst nicht mehr. Seit mehr als einer Dekade übt sich Berlin in direkter Demokratie.
Den Startschuss hatte die Volksinitiative „Bürger gegen den Transrapid“ 1998/99 gegeben, mit der die Transrapidstrecke von Berlin nach Hamburg verhindert werden sollte. Einer der aktuellsten Anträge auf einen Volksentscheid – gestartet im Oktober 2020 – will „Berlin autofrei“ machen. Über 50 solcher Initiativen und Volksbegehren listet „Mehr Demokratie“ für die Hauptstadt auf seiner Homepage auf. Der gemeinnützige Verein begleitet die Entwicklung direktdemokratischer Verfahren schon seit über 30 Jahren deutschlandweit.
Der bisher spektakulärste Sieg war in Berlin der Volksentscheid „100 Prozent Tempelhofer Feld“. Im Mai 2014 stimmten 29,7 Prozent der Wahlberechtigten in der Hauptstadt gegen eine Bebauung der gewaltigen Flughafen-Brache. Seitdem hat sich darauf eine Natur- und Erholungsfläche entwickelt. Hier brüten im Frühsommer Feldlerchen, weiden Schafe, summen 40 verschiedene Bienen- und Wespenarten – und jetzt in Pandemiezeiten kommen Tausende von Menschen auf das Feld, um mit Abstand spazieren zu gehen, Drachen steigen zu lassen, zu joggen, zu skaten.
Nun will die Berliner FDP das sogenannte Tempelhofer-Feld-Gesetz ändern, das der Berliner Senat am 14. Juni 2014 beschlossen hatte, und eine Teilbebauung durchsetzen. „Das Tempelhofer Feld wurde über einen sogenannten Gesetzes-Volksentscheid gesichert“, erklärt Oliver Wiedmann aus dem Berliner Büro von „Mehr Demokratie“. „Ein Gesetz, das daraufhin erlassen wird, ist denen gleichgestellt, die durch Parlamentsbeschlüsse entstanden sind.“ Sie haben das gleiche Gewicht, können aber vom Abgeordnetenhaus – wie jedes andere Gesetz – auch wieder geändert oder ganz abgeschafft werden. Allerdings, so der Sozialwissenschaftler, gebe es neben dieser rechtlichen Dimension auch eine politische: „Per Volksentscheid zustande gekommene Gesetze genießen eine große Legitimation. Um sie zu kippen, liegen die Hürden schon sehr hoch.“
Gesetzes- oder Beschluss-Volksentscheid
Die Willensbekundung zur Vergesellschaftung großer privater Wohnungsunternehmen dagegen ist viel weniger verpflichtend für die Landesregierung. Im Gegensatz zu einem Volksentscheid, dem ein Gesetzestext zugrunde liegt, war diese Abstimmung ein sogenannter Beschluss-Volksentscheid. Durch ihn ist der Senat lediglich aufgefordert, ein entsprechendes Gesetz auszuarbeiten. Nach derzeitigem Stand der Koalitionsverhandlungen in Berlin soll nun erst einmal eine Expertenkommission eingesetzt werden, die die Möglichkeiten einer Umsetzung des Volksentscheides auslotet. Der Senat habe einen eindeutigen Handlungsauftrag von der Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner bekommen, mahnt Wiedmann: „Sich jetzt vor dem Abstimmungsergebnis wegzuducken, wäre demokratiepolitisch fatal.”
Drei Verfahrensstufen in Berlin
Für das Verfahren, das letztlich zu dem positiven Volksentscheid geführt hat, gelten klare gesetzliche Regeln. In Berlin müssen dafür drei Stufen überwunden werden: Die erste ist der Antrag auf ein Volksbegehren. Dafür müssen 20.000 Unterschriften von Stimmberechtigten zusammenkommen. Gelingt dies, prüft die Innenverwaltung die Zulässigkeit eines entsprechenden Gesetzentwurfs. Wird dies einerseits bejaht, werden die Ziele des Begehrens vom Landesparlament aber nicht übernommen, ist die zweite Stufe zu überwinden. Im Rahmen eines Volksbegehrens müssen derzeit circa 175.000 Unterschriften für einen Volksentscheid gesammelt werden. Soll dieser schließlich erfolgreich sein, muss die Mehrheit der Teilnehmenden – und mindestens 25 Prozent aller Wahlberechtigten in der Stadt – zustimmen. In Berlin sind dafür circa 630.000 gültige Ja-Stimmen erforderlich.
In einem früheren Volksentscheid – ebenfalls zum Tempelhofer Feld – war das nicht gelungen: „Tempelhof bleibt Verkehrsflughafen!“ erreichte 2008 zwar das notwendige Quorum mit damals 172.000 gültigen Unterschriften. Der Volksentscheid selbst scheiterte jedoch wegen zu geringer Zahl teilnehmender Abstimmungsberechtigter.
„Die Regeln, nach denen direkte Demokratie abzulaufen hat, werden auf Länderebene verhandelt und beschlossen“, erklärt Wiedmann. Das Quorum für einen durchgeführten Volksentscheid, wie es in Berlin gilt, gibt es beispielsweise in Bayern nicht. Dort zählt einzig das Verhältnis der abgegebenen Stimmen – die Befürworter müssen in der Mehrzahl sein. „Aber solche Regeln werden immer aufs Neue verhandelt und novelliert“, sagt Oliver Wiedmann. So hat Berlin im vergangenen Jahr nach langem Ringen die Verfahren zur direkten Demokratie nachjustiert und damit deutlich gerechter gestaltet. Entscheidend dabei war die Verkürzung der Zeiten für eine Zulässigkeitsprüfung durch die Innenverwaltung. Bis dahin konnte sich so eine Prüfung in die Länge ziehen. Da konnte durchaus mal ein Jahr darüber vergehen. Nun muss die Innenverwaltung die rechtliche Zulässigkeit der ihnen vorgelegten Gesetzentwürfe innerhalb von fünf Monaten prüfen und innerhalb von zwei Monaten eine amtliche Kostenschätzung vorlegen.
Höhere Wahlbeteiligung durch neues Verfahren?
Bisher konnte der Senat den Abstimmungstermin bestimmen und den Volksentscheid losgelöst von einem Wahltermin festlegen – zu Lasten der Abstimmungsbeteiligung. Nun muss – wenn innerhalb von acht Monaten ein regulärer Wahltermin ansteht – eine gleichzeitige Abstimmung ermöglicht werden. Die ersten, die davon profitierten, waren die Akteurinnen und Akteure des Volksentscheides „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Aber auch für nachfolgende Initiativen dürfte das in Zukunft die Chancen erhöhen, deutlicher wahrgenommen zu werden und durch eine größere Beteiligung erfolgreich zu sein.
Rosemarie Mieder
Direkte Demokratie in Deutschland
Berlin belegt einen Spitzenplatz in puncto direkter Demokratie: Von den 25 deutschlandweit bisher durchgeführten Volksentscheiden wurden allein sieben in der Hauptstadt initiiert. Der Rest verteilt sich auf Bayern (6), Hamburg (7), Schleswig-Holstein (2), Mecklenburg-Vorpommern (1), Sachsen (1) und Sachsen-Anhalt (1).
Einen Hauptgrund für die ganz unterschiedliche Praxis sieht „Mehr Demokratie“ in den Unterschriftenhürden, die in einigen Bundesländern sehr hoch sind. Sie liegen in der zweiten Stufe (Volksbegehren) zwischen 3,6 Prozent (Schleswig-Holstein) und 13,3 Prozent (Sachsen) der wahlberechtigten Bevölkerung. In Berlin sind es sieben Prozent (circa 175.000 Wahlberechtigte), die zu einer Unterstützerunterschrift bewegt werden müssen. Erschwerend wirkt es auch, wenn die Unterschriften nicht frei gesammelt werden können, sondern auf einem Amt zu leisten sind, wie das in vier Bundesländern vorgeschrieben ist. Insgesamt gingen bundesweit bisher 380 Verfahren in der ersten Sammelphase (Volksinitiative) an den Start, rund 100 der Initiativen schafften es in die zweite Stufe (Volksbegehren). Aus den bundesweit 100 Volksbegehren gingen 25 Volksentscheide in sieben Bundesländern hervor.
rm
www.mehr-demokratie.de
27.11.2021